Karl Nolle, MdL

Neues Deutschland ND, 02.11.2009

Links blinken wird nicht reichen

Die Babylonische Gefangenschaft der Sozialdemokraten, hilflose Abgrenzungsmanöver und hoffnungsvolle Thesen
 
Der designierte Parteivorsitzende hat unzweifelhaft bessere Qualitäten, den alten Wein in neuen Schläuchen erfolgreicher zu verkaufen, als sein Vorgänger mit seinem »Heuschreckengerede«. Die tiefste Krise der SPD nach 1945 wird aber trotz einer verjüngten Führungsmannschaft nicht überwunden werden können, wenn es nicht eine ehrliche Analyse ihrer Ursachen gibt. Davon ist bisher nichts zu spüren, sieht man von einigen Ansätzen bei den Jusos und der Klage Sigmar Gabriels wegen des seit Schröder eingerissenen oligarchischen Führungsstils ab. Bis jetzt bewegt sie sich auf dem Niveau banaler Standardsätze: »Wir müssen uns inhaltlich neu aufstellen« und Flügelkämpfe unterlassen, »wir müssen unsere Politik besser kommunizieren«.

Götterdämmerung mit Image-Problem

Der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf tröstete in der »Süddeutschen Zeitung«, »dass etwas Ähnliches in vielen Ländern passiert ist«, weil sich angesichts der Wirtschaftskrise »die Menschen an bürgerlich-konservativer Politik orientieren«. Da sei es schwierig, »sich loyal zum Parteiprogramm zu verhalten und daran zu orientieren«. Das habe zu der besonders die SPD treffenden geringen Wahlbeteiligung geführt. Nach soviel Tiefsinn kommt er zu einem der Hauptgründe für den Wahlausgang, und das ist für ihn »die Spaltung der Sozialdemokratie«. Damit die Schuldzuweisung an den »Spalter« Oskar Lafontaine – der gerade durch den Verzicht auf sein Partei- und Ministeramt 1999 die drohende Spaltung der SPD hatte vermeiden wollen – trotzdem irgendwie überzeugend wirkt, bemüht Scherf den Vergleich mit der Weimarer Republik, »weil es damals eine ganz ähnliche Spaltung gab«. Dabei verwechselt der gute Mann indes die Kommunisten (mit ihrem »Sozialfaschismusvorwurf«) mit den linken Sozialdemokraten, die damals angesichts des Bruchs von Wahlversprechen (kein Panzerkreuzerbau) durch die von der SPD geführte Regierung sowie deren Zurückweichen vor der Politik des verstärkten Sozialabbaus der Nachfolgeregierung unter Brüning 1931 die Sozialistische Arbeiterpartei (SAPD) gegründet hatten. Was nun aber nach der derzeitigen »Götterdämmerung« konkret passieren sollte, benennt auch Scherf nicht deutlich. Da ist kaum mehr als die Hoffnung auf einen »selbstkritischen neuen großen Anlauf«, einer Erneuerung der SPD als »Volkspartei«, die »gegen Ausbeutung und gegen Kriege vorgehen möchte«.

Alles in allem scheint die notwendige Analyse im Grunde darauf hinauszulaufen, ein »Image-Problem« zu lösen, damit die Mitglieder und abtrünnig gewordenen Sympathisanten wie Wähler die SPD wieder als »ihre Partei« erkennen. Parteienforscher nennen den Verlust an Glaubwürdigkeit »kognitive Distanz«. Um die zu überwinden, scheint die Positionierung sogenannter Linker in Führungsfunktionen, das Aufwärmen wohltuender Schlagworte notwendig. Signale auf mögliche Koalitionen auch mit der LINKEN sollen potenzielle Dissidenten vom Wechsel abhalten. Vorsorglich werden aber auch gleich drei wesentliche Hürden aufgebaut, die bis zu ihrer Koalitionsfähigkeit die Linkspartei überspringen müsste: Zustimmung zum Lissaboner Vertrag, Bejahung der NATO und Abschied von unfinanzierbaren Sozialforderungen. Zum Lissaboner Vertrag hat Gregor Gysi nochmals alles klar gestellt. Das zweite Essential, die Verabschiedung von der Forderung nach Auflösung der NATO, könnte »pragmatische« Befürworter in der Linkspartei finden, da dieser Militärpakt, zumindest in naher Zukunft, wohl kaum verschwinden wird. Andererseits wäre es auch denkbar, dass die SPD unter innerparteilichem Druck zur Position ihres Berliner Parteiprogramms von 1989 zurückfände. Darin hieß es noch: »Krieg darf kein Mittel der Politik sein ... Das (NATO)-Bündnis muß verteidigungsfähig, defensiv und entspannungsbereit sein ... Von deutschem Boden muß Frieden ausgehen.« Daraus ergibt sich eigentlich zwingend, was die Linkspartei fordert: Auflösung der NATO mit ihrer neuen Doktrin weltweiten präventiven Militäreinsatzes und sofortiger Abzug aus Afghanistan.

Drittens werden die sozialpolitischen Forderungen der Linkspartei als unfinanzierbar diskreditiert, was nur unter der Prämisse zutreffend wäre, wenn man bei einer Politik bliebe, die die Reichen steuerlich weiter schont, den privaten Großbanken und Wirtschaftsmächtigen zusätzlich neue Steuergeschenke macht, jede sozial gerechtere Reform der Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung umgeht und jeden Gedanken an eine Budgetumverteilung etwa durch Verzicht auf Rüstungsgüterkäufe in vielfacher Milliardenhöhe und (Grundgesetz widrige) militärische Auslandseinsätze verwirft. Wer hier wirklich noch einen »weiten Weg« (Gabriel) zur Regierungsfähigkeit zurücklegen muss, das würde die Aufdeckung der Ursachen der Krise in der SPD zeigen.

Die Krise der Sozialdemokratie ist weder eine Folge der Etablierung der LINKEN noch des Verlustes der Mitregierungsmacht oder der Weltwirtschaftskrise. Sie hat langfristige und kurzfristige Ursachen. Allgemeine langfristige Ursachen treffen auf beide bisherige sogenannte Volksparteien zu. Im Unterschied zu zurückliegenden Dezennien, wo Fragen wie etwa Atombewaffnung, Westbindung, die Neue Ostpolitik oder Nachrüstung eine breite Öffentlichkeit bewegten und deren Beantwortung die Politik bzw. die politischen Großparteien noch zu beeinflussen und zu entscheiden hatten, scheint man die Lösung heutiger Probleme in Gefolge der Globalisierung, so etwa Massenarbeitslosigkeit, Banken- und Wirtschaftskrise, im Grunde keiner Partei mehr zuzutrauen. Das Erscheinungsbild der Parteien wurde beliebig und damit auch die Bindung der Menschen an Parteien locker und beliebig. Auch ist seit längerem das traditionelle Milieu der Parteien, sind die Vorfeldorganisationen (parteinahe Vereine, eine Zeitung usw.) weitgehend verschwunden, was der Mobilisierung im jeweiligen Parteiinteresse nicht förderlich ist.

Die Oligarchie und das Trauma

Durch reale Korrekturen der eigenen Politik altes Vertrauen und Einfluss zurückzugewinnen, hieße mithin, eine ziemlich radikale Wende zu vollziehen, die eigene Rolle im Parteiensystem – wo die Konservativen an einem Bürgerblock basteln – neu zu definieren und zu erkennen, dass freiwillige Zugeständnisse seitens der Wirtschaftsverbände für eine sozialdemokratische Reformpolitik, die diesen Namen verdient, wie zu Zeiten der Systemkonkurrenz lange vorbei sind. Gegen eine kämpferische Wende nach links sind die diversen Widerstände allerdings erheblich.

Zum einen. weil das parteiinterne Establishment, die herrschende Partei-Oligarchie, mehr oder minder in der hohen Staatsbürokratie verankert oder mit großen Unternehmen verbandelt ist. Zum anderen, weil das Lafontaine-Trauma weiterwirkt, man müsste diesem eigentlich Recht geben, denn der hatte die Wende zurück zum Sozialstaatsverständnis und zur begrenzten Bändigung des internationalen Kapitalmarktes in und mit der SPD und als Finanzminister versucht. Und drittens, weil Gabriel, Steinmeier & Co. die Politik der zurückliegenden elf Jahre desavouieren müssten, dabei ihrerseits in die politische Nachbarschaft der LINKEN kommen könnten und wahrscheinlich bei beiden Flügeln innerhalb der SPD an Autorität verlören.

Verteufelung oder Entzauberung

In jedem Fall ist eine rasche Überwindung der Krise dieser Partei nicht zu erwarten. Das Hessen-Debakel hat demonstriert und gelehrt, dass die nicht nur in den Medien immer wieder genannte linke Mehrheit jenseits der Union/FDP so nicht existiert – und das nicht nur im Sinne von Antonio Gramsci als gesellschaftliche Hegemonie, sondern ganz einfach politisch noch nicht. Man darf auch parlamentarisch die SPD nicht als einheitliche politische Kraft betrachten und daraus rechnerisch parlamentarische Mehrheiten summieren.

Zusätzlich kompliziert wird die Aufgabe für die neue Führung, weil es der gegenwärtig noch dominierenden Richtung um die Frage geht, mit welcher Taktik man die Linkspartei am besten bekämpfen und klein halten soll, um so selbst alte Stärke zurückzugewinnen. Während der rechte Flügel bei der bekannten Verteufelungslinie bleiben will, gibt es Kräfte, die diese ungeliebte Konkurrenz durch das Einbinden entzaubern möchte. Das ist erst einmal nichts weiter als gesunder Parteiegoismus, im Rahmen und nach den Geflogenheiten des bürgerlich-demokratischen konkurrierenden Parteiensystems völlig normal. Für diese Taktik haben die Protagonisten des Verzichts auf den Unvereinbarkeitsbeschluss auch auf Bundesebene ziemlich überzeugende Argumente:

Als die SPD Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre darauf setzte, die linke Protestpartei DIE GRÜNEN, die sich im Januar 1980 gegründet hat und schon im März in den baden-württembergischen Landtag eingezogen ist, zu ignorieren bzw. zu bekämpfen, verzögerte das wahrscheinlich den Einzug der Grünen in den Bundestag bei den Wahlen im Oktober 1980, weswegen die SPD beim Sturz Helmut Schmidts 1982 durch die FDP keine andere parlamentarische Option zum Machterhalt hatte. Ein Jahr später zogen aber die Grünen – immer noch als Schmuddelkinder behandelt – in den Bundestag. Und als dann im Oktober 1985 in Hessen der sozialdemokratische Ministerpräsident Holger Börner, wahrlich kein Linker, von den Linken und einer knappen Mehrheit der Parteispitze unter Brandt gedrängt, die erste SPD-Grünen-Koalition bildete, war dann doch trotz großen Geschreis seitens der Rechtskonservativen eine Weichenstellung erfolgt.

Brandt und andere hatten aus der Babylonischen Gefangenschaft der konservativen Rechten und Neoliberalen ausbrechen wollen. Nun nahm die SPD wieder Kurs auf eine Mehrheit auch im Bund jenseits von FDP oder gar großer Koalition, wie damalige Umfragen eindeutig belegen. Dieser Kurs wurde durch das Berliner Parteiprogramm von 1989 gestützt, und Lafontaine – der innerhalb der Partei eine Mehrheit hinter sich hatte und den rechten Flügel kurzzeitig lahm legen konnte – unterlag bei der Bundestagswahl 1990 nur wegen der Auswirkungen der »Wende« in der DDR, nicht wegen der Nähe zu den gezähmten Grünen oder gar wegen eines zu linken Parteiprogramms.

In diesem Zusammenhang sei auf die Thesen des Juso-Kongresses »Für eine linke Zukunft. Thesen zur jungsozialistischer Politik« vom Juni 2008 verwiesen. Man weiß zwar, wo die meisten Juso-Vorsitzenden oder -Spitzenfunktionäre, die zunächst fast immer linksradikal waren und mit marxistischen Phrasen Begeisterungsstürme bei der Mehrheit der jungen Genossen auslösten, in folgender Parteikarriere gelandet sind. Es gab aber auch Ausnahmen. Und vor allem haben sich für heute erwachsen werdende Jusos die Umfeldbedingungen (dank der Existenz der Linkspartei) wesentlich geändert. Deshalb scheint die Annahme eines Dokuments, das in den meisten Punkten vom Hamburger Parteiprogramm abweicht, es teilweise konterkariert und die entscheidenden Merkmale eines marxistisch begründeten programmatisch-politischen Konzepts aufweist, sehr bemerkenswert.

Die SPD wird ausdrücklich als Partei charakterisiert, die gegenwärtig keine sozialistische ist. Sich selbst verstehen die Jusos als eigenständige linke Jugendorganisation und als Richtungsverband in der SPD, innerhalb derer sie um progressive Mehrheiten kämpfen wollen, um sie wieder zum Sammelbecken aller anderen linken Kräfte zu machen. Realistischerweise gehen sie aber davon aus, dass es zumindest mittelfristig ein Fünf-Parteiensystem gibt. Ziel innerhalb dieser Neukonstellation müsse es natürlich sein, »für eine stärkere SPD zu kämpfen, aber auch ein linkes Zukunftsprojekt zu entwerfen ... Dazu werden wir sowohl mit den noch vorhandenen progressiven Kräften bei den Grünen als auch mit denen der LINKEN eine inhaltliche Auseinandersetzung beginnen und ausloten, ob diese Parteien für ein solches Projekt bereit sind.«

Generell charakterisieren die Thesen die bestehende Gesellschaft zutreffend als eine vom Grundwiderspruch von Arbeit und Kapital, vom Profitgesetz und wiederkehrenden Krisen bestimmte, zu überwindende kapitalistische Gesellschaftsformation. Als Ziel einer deshalb notwendigen Transformation wird der demokratische Sozialismus, eine von Ausbeutung befreite Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit und Solidarität definiert. Als Träger dieser gesellschaftlichen Veränderungen werden die neuen sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften benannt Den objektiven, aus der Klassenlage resultierenden Interessen entsprechend gibt es eine Mehrheit von abhängig Beschäftigten, die zu gesellschaftlichen Bündnispartnern werden können und müssen.

Bei der Beantwortung der Regierungsfrage nähern sich die Jusos einer weitgehend realistischen Beschreibung der gegenwärtigen und der in manchem neuen Rolle des Staates an. Er verliere an Kompetenz (gegenüber der EU-Bürokratie) und an demokratischer Legitimation, wird zunehmend als Sozialstaat abgebaut und werde den Interessen der großen Monopole untergeordnet. Der Staat müsse das Primat der Politik wiedererlangen, um in wirtschaftspolitische und ökonomische Bereiche und Prozesse eingreifen zu können. Das Ziel sei eine »sozialistische Wirtschaftspolitik« und Wirtschaftsdemokratie.

Hoffen auf die Traditionalisten

Ein solches Dokument, verfasst von einer kleinen Minderheit junger Sozialisten in einer – wie sie selbst sagen – gegenwärtig nicht-sozialistischen Partei, könnte ein Leitfaden für den Weg aus der Krise sein, ist aber nicht mehrheitsfähig. Worauf eventuell zu hoffen wäre ist, dass sich die (irreführender Weise) als »Linke« bezeichneten Traditionalisten gegenüber dem von Schröder an die Führung gebrachten neoliberalen Flügel durchsetzen und die SPD wieder eine sozialdemokratische Politik verfolgt.

Die von Schröder-Müntefering-Steinmeier verfolgte Politik ist gründlich gescheitert. Heute stehen sowohl die Linke wie die Traditionalisten in der SPD vor der Frage, was für einer Partei, Bewegung oder Bündnis es bedarf, um sich im 21. Jahrhundert den neuen Herausforderungen des globalen Kapitalismus und der ökologischen Krise zu stellen, während zugleich fast alle »alten« sozialen Fragen des vergangenen 20.Jahrhunderts erneut aufgeworfen werden. Sogar die Frage von Krieg und Frieden.

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Der Autor Prof. Heinz Niemann , Professor Niemann, Experte für die Geschichte der Sozialdemokratie, lebt bei Berlin.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/157940.links-blinken-wird-nicht-reichen.html

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: