Karl Nolle, MdL

Spiegel 45/2009, 02.11.2009

Essay: Versöhnung ernst nehmen - warum unser Land endlich inneren Frieden braucht.

Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck über seine Versöhnung mit der SED-Nachfolgepartei
 
Zu den besonders ängstlichen Menschen habe ich nie gehört. Aber im Frühjahr 1989 wurde mir doch ziemlich mulmig. Gemeinsam mit Freunden hatte ich im Jahr zuvor in Potsdam eine Bürgerinitiative gegründet. Dem Verfall der historischen Bausubstanz und der Umwelt in unserer Heimatstadt wollten wir nicht länger tatenlos zusehen. Und im Mai hatte ich, wie viele andere Bürger der DDR, gegen die groteske Wahlfälschung protestiert, mit der die SED ihr Ergebnis bei den Kommunalwahlen noch einmal auf fast 100 Prozent hieven wollte.

Nun bekam ich Besuch. An meiner Arbeitsstelle tauchten zwei Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit auf. Mit geübtem Geheimdienstblick starrte mich einer der beiden lange wortlos an. Die Sache sei nun die, eröffnete er mir schließlich, dass die Geduld seines Ministeriums mit mir ein Ende habe. Würde ich weitermachen wie bisher, seien meine drei Töchter demnächst in einem staatlichen Kinderheim besser aufgehoben. Sie bezogen sich dabei mit ihren Drohungen auch auf meine geschiedene Frau, die aktiv in der kirchlichen Opposition arbeitete. Man habe da allerdings einen "Vorschlag", über den ich doch bitte einmal gründlich nachdenken möge. In ein paar Tagen würden sie wiederkommen, dann werde man weitersehen. Guten Tag!

Ich ging auf keinerlei "Vorschläge" ein, paktierte nicht mit der Stasi - und meine Kinder landeten trotzdem nicht im Heim. Doch sicher konnte ich mir nicht sein. Die Drohung stand im Raum. Das flößte Angst ein. Dass sie nicht unberechtigt war, bestätigte mir später die Aktenlage. Man hatte mir bereits eine Internierungsnummer zugewiesen. Angst - genau darum ging es den Herrschenden in der DDR. Ihre Macht erwuchs auch aus der Ohnmacht ihrer Untertanen. Also kam es darauf an, diesen die eigene Ohnmacht ständig vor Augen zu führen. Als die Untertanen schließlich im Herbst 1989 - auch zu ihrer eigenen Verblüffung - beschlossen, sich nicht länger einschüchtern zu lassen, sondern selbstbewusste Bürger sein zu wollen, war es um die Allmacht der SED geschehen.

Inzwischen liegt der Besuch der beiden Stasi-Offiziere zwei Jahrzehnte zurück. Meine Töchter sind erwachsen und stehen im Berufsleben. Doch wenn ich heute an die Szene zurückdenke, fasst mich noch immer der Schrecken an, den ich damals verspürte. Und dann kommen einem 20 Jahre auf einmal ganz kurz vor. Unzählige ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR kennen das Gefühl. Für manche hat es traumatische Folgen. Viele können sich an irgendein Schlüsselerlebnis ihrer einstigen Ohnmacht heute noch so genau erinnern, als wäre es gerade erst geschehen. Und weil das so ist, sind 20 Jahre ein sehr relativer Zeitraum. Vieles ist vergessen, manches aber eben nicht. Deshalb tun sich nicht wenige bei uns in Ostdeutschland so schwer damit, das Gewesene ein für alle Mal gewesen sein zu lassen.

"Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen", hat Christa Wolf einmal geschrieben. Dieses Gefühl kenne ich sehr gut, und nicht zuletzt in meiner eigenen Partei ist es weit verbreitet. Wen würde es wundern? Der erste Daseinsgrund der ostdeutschen Sozialdemokratie war es ja gerade, das illegitime Machtmonopol der SED zu brechen. An die Stelle der Herrschaft der allmächtigen Partei mit ihrem absurden Wahrheitsmonopol sollten endlich Freiheit, Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft treten. Angepeilt wurde der pluralistische Wettbewerb um die bessere politische Idee. Die ostdeutsche Sozialdemokratie, gegründet am 40. Jahrestag der DDR, war der komplette Gegenentwurf zur SED. Dieses Urmotiv prägt die SPD im Osten bis heute.

Dennoch habe ich meinen Parteifreunden nach der Brandenburger Landtagswahl vom 27. September vorgeschlagen, diesmal eine Koalition mit genau derjenigen politischen Gruppierung einzugehen, die sich mittlerweile "Die Linke" nennt, aber aus der SED hervorgegangen ist. "Ausgerechnet du, Platzeck", höre ich seither immer wieder, "ausgerechnet du als ehemaliger Bürgerbewegter". Die Kritik fällt großkalibrig bis grobschlächtig aus. Ich hätte "Verrat" an den Werten der Revolution von 1989 geübt, wirft mir die Vorsitzende der Brandenburger CDU vor. Eine "Schande" sei solch eine Koalition, erklärt Wolfgang Schäuble. Für die Koalition mit den Erben der SED hätten sich meine Partei und ich aus bloßem Machtopportunismus (oder Schlimmerem) entschieden, hält man uns entgegen.

Angesichts ihrer Herkunftsgeschichte ist es bemerkenswert, dass sich gerade die Brandenburger Sozialdemokratie von solchen Einwänden unbeeindruckt zeigt. Ich räume ein: Für die Entscheidung der SPD in Brandenburg, eine Koalition mit der Linkspartei einzugehen, sprechen auch einige ganz lebenspraktische Gründe. Da ist etwa die tiefe Zerstrittenheit unseres bisherigen Koalitionspartners CDU, nachdem ihr bisheriger Zuchtmeister Jörg Schönbohm die Bühne verlassen hat. Wegen ihrer knappen parlamentarischen Mehrheit hätte eine mögliche SPD/CDU-Koalition mit hoher Wahrscheinlichkeit kein verlässliches Regieren über die volle Wahlperiode zugelassen. Das aber erwarten die Bürger völlig zu Recht von der Politik. Zudem konnten wir in unseren Verhandlungen mit der Brandenburger Linkspartei deutlich größere inhaltliche Gemeinsamkeiten feststellen, als sie mit der CDU zu erzielen gewesen wären - wozu insbesondere Fragen moderner, also vorsorgender Gesellschaftspolitik gehören.

Wo sich inhaltliche Übereinstimmung und tragbare Kompromisse erzielen lassen, da müssten eigentlich auch Koalitionen anderer demokratischer Parteien - nicht nur der SPD - mit der Linkspartei möglich sein. Doch im Verhältnis zur Nachfolgeorganisation der SED geht es auch 20 Jahre nach dem Ende der DDR nicht nur um Kompromisse in der Sache. Immer geht es auch um die Last der Geschichte, um staatliche Willkür, Verletzungen, gebrochene Biografien oder - wie bei mir - um Stasi-Männer, die plötzlich drohend im Zimmer standen. Es geht, kurz gesagt, um die Macht der Vergangenheit über Gegenwart und Zukunft.

Diese Macht der Vergangenheit ist gut erklärlich. Aber sie tut Ostdeutschland nicht gut, und sie tut der politischen Kultur in unserer seit 1990 vereinigten Republik nicht gut. Dabei geht es nicht um irgendwelche "Schlussstriche". In den Brandenburger Koalitionsvertrag haben SPD und Linkspartei gemeinsam hineingeschrieben: "Eine Verklärung der SED-Diktatur wird es mit dieser Koalition nicht geben. Der offene und kritische Umgang mit früheren Fehlern ist ebenso notwendig wie die Übernahme von Verantwortung für verursachtes Unrecht. Wir werden die Lehren der Geschichte umfassend beherzigen und weitergeben. Unser Respekt und unsere Zuwendung gelten den Opfern der Diktatur, das Andenken an erlittene Repressalien werden wir wachhalten."

Zwei Jahrzehnte nach dem revolutionären Umbruch in der DDR müssen wir in Deutschland endlich anfangen, es mit dem überfälligen Prozess der Versöhnung wirklich ernst zu meinen. Eine Frage sollte uns dabei auf die Sprünge helfen: Wie war es eigentlich möglich, dass aus der Bundesrepublik nach der Katastrophe des Nationalsozialismus eine liberale und zivile Gesellschaft werden konnte? Anders gefragt: Welche Entwicklung hätte Deutschlands Westen wohl genommen, wären die Gegner und Feinde von einst nach 1945 derartig unversöhnlich miteinander verfahren, wie wir ehemaligen Kontrahenten des Kalten Krieges und der DDR es bis heute vielfach tun?

Alle postdiktatorischen Gesellschaften stehen vor demselben Grundproblem: Wie weit sollen belastete Gruppen von Menschen in die neue demokratische Gesellschaft integriert werden? Mir ist bewusst: Wer die Aufarbeitung von Diktaturen miteinander vergleicht, der bewegt sich auf dünnem Eis. Schnell ist die Unterstellung bei der Hand, hier wolle einer gleichsetzen, was unterschiedlich war. Dem ist mit dem Historiker Heinrich August Winkler knapp entgegenzuhalten: "Vergleichen heißt nicht gleichsetzen, sondern nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten fragen." Fragt man in diesem Sinne, dann begreift man: Die gelungene Demokratisierung, die Westdeutschland nach 1945 sehr zügig zu einem anerkannten Staat unter Gleichen machte, konnte überhaupt nur unter der Voraussetzung gelingen, dass ehemalige Mitläufer und, wo verantwortbar, selbst Täter des Nationalsozialismus nicht dauerhaft ausgegrenzt blieben, sondern einbezogen wurden.

So unverdächtigen Akteuren wie Kurt Schumacher, der im Nationalsozialismus fast ein Jahrzehnt im Konzentrationslager gelitten hatte, stand dies schon in der Frühphase der Bundesrepublik klar vor Augen. Bereits im Oktober 1951 - nur sechs Jahre nach dem Krieg! - empfing der SPD-Vorsitzende zwei frühere hohe Offiziere der Waffen-SS zu einem Gespräch, die jetzt als Funktionäre der "Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit" die Interessen ehemaliger Soldaten der Waffen-SS vertraten. Als daraufhin eine internationale Organisation jüdischer Sozialisten Protest erhob, erwiderte Schumacher, viele der 900 000 Überlebenden der Waffen-SS seien gegen ihren Willen in diese Organisation eingezogen worden.

Wörtlich sagte Schumacher: "Die Mehrzahl dieser 900 000 Menschen ist in eine ausgesprochene Pariarolle geraten ... Uns scheint es eine menschliche und staatsbürgerliche Notwendigkeit zu sein, diesen Ring zu sprengen und der großen Masse der früheren Angehörigen der Waffen-SS den Weg zu Lebensaussicht und Staatsbürgertum frei zu machen ... Ein kompakter Komplex von rund 900 000 Menschen ohne soziale und menschliche Aussicht ist zusammen mit ihren Angehörigen schon zahlenmäßig keine gute Sache für eine junge, von großen Spannungen der Klassen und Ideen zerpflügte Demokratie. Ihnen, die keine kriminelle Schuld auf sich geladen haben, sollte man die Möglichkeit geben, sich erfolgreich mit der für sie neuen Welt auseinanderzusetzen."

Was bereits Kurt Schumacher verstand, wird in der heutigen Literatur zur Geschichte der Bundesrepublik durchweg als paradoxe Bedingung für den Erfolg der jungen Bundesrepublik herausgearbeitet: "Dies war das politische 'Kunststück' der bundesdeutschen Vergangenheitspolitik", schreibt der Historiker Edgar Wolfrum, "die gesellschaftliche und politische Verfassung der Bundesrepublik als Negation des Nationalsozialismus zu etablieren und gleichzeitig die ehemaligen NS-Täter, Belasteten und Mitläufer zu integrieren."

Der seit 1990 vereinigten Bundesrepublik ist zwar eine bemerkenswerte, richtige und bessere Aufarbeitungsleistung gelungen - eine vergleichbare Integrationsleistung bis heute jedoch nicht. Quer durch die ostdeutsche Gesellschaft zieht sich auch nach 20 Jahren noch immer - und sogar wieder zunehmend - ein ungesunder Riss. Der Mehrheit der "Angekommenen" steht die beträchtliche Minderheit derjenigen gegenüber, die sich zurückgezogen haben, weil sie sich zurückgesetzt fühlen. "Bei einem Teil der Bevölkerung nistet die Ohnmacht noch immer in den Seelen", schreibt Joachim Gauck. Und keineswegs handelt es sich bei denen, die so empfinden, ausschließlich oder auch nur überwiegend um ehemalige Täter und Mitläufer der SED-Diktatur.

"Um ... für unser Volk den inneren Frieden zu gewinnen, müssen wir auch fähig sein, die Kraft zur Aussöhnung zu finden ... Wir würden sonst die Barrieren, die wir niedergerissen haben, in unserem Denken neu aufrichten und befestigen." Der Mann, der diese Worte fand, war niemand anderes als Helmut Kohl. Er sprach sie im Januar 1991, als das Ende der SED-Diktatur kaum mehr als zwei Jahre zurücklag. Jedenfalls für mich kam Kohls Aufruf damals deutlich zu früh. Aber inzwischen sind aus zwei Jahren zwei Jahrzehnte geworden. Barrieren wurden wieder aufgerichtet, Spaltungen haben sich verfestigt.

Dabei darf es nicht bleiben. Es sollen mehr Menschen werden, die sich an unserem demokratischen Gemeinwesen beteiligen, weil sie sich ihm zugehörig fühlen. Ob wir die richtigen Lehren aus der Geschichte ziehen, erweist sich deshalb weniger in ritualisierter Vergangenheitsbewältigung als in unserer Bereitschaft zu tätigem Neubeginn. Wer sich dazu bereitfindet, muss Demokraten willkommen sein. Das galt in den Jahrzehnten nach 1945 in der westdeutschen Bundesrepublik, es muss endlich genauso für das seit 20 Jahren vereinigte Deutschland gelten.

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: