Süddeutsche Zeitung, 14.11.2009
Das letzte Gefecht der SPD
Warum die Sozialdemokratie beim Parteitag in Dresden Godesberg suchen muss. Oder: "Wer im Stich lässt seinesgleichen, lässt ja nur sich selbst im Stich." - Ein Kommentar von Heribert Prantl
Die jüngere Geschichte der SPD gleicht einer Castingshow: Eine Partei besetzt die Rolle ihres Vorsitzenden. Sie probiert es mit Dünnen, sie probiert es mit Dicken, mit Gerissenen und mit Biederen.
Aber es spielt keiner das Stück zu Ende, der eine, weil er nicht mehr will; der andere, weil er nicht mehr kann; der Nächste, weil man ihn nicht mehr lässt. Manche vergessen ihren Text, mache erfinden schnell einen neuen, manche verschwinden sang- und klanglos hinter den Kulissen, manche springen plötzlich von der Bühne. Der eine scheitert schon im Prolog; und vom anderen wünscht sich die Partei nachträglich, dass er schon im ersten und nicht erst im zweiten Akt gescheitert wäre - weil er das Publikum vergrault und verjagt hat. Nun also macht die SPD mit einem Kandidaten weiter, der aussieht wie das Wirtschaftswunder und so rund ist wie geballte Energie: Sigmar Gabriel.
Wir kennen also das Casting. Aber was steht eigentlich auf dem Programm?
Suchen sich die wechselnden Kandidaten das Stück selber, das sie dann spielen? Oder ist alles, was da noch inszeniert wird, nur die Hinführung zu dem Finale, das schon feststeht? Ist also das elfjährige Regieren, ist das gerade begonnene Opponieren, sind die Auf- und Abtritte der Parteichefs nur die eher beliebigen Szenen einer Saga, die vom Untergang einer Volkspartei handelt?
Es gibt drei Zustandsformen der Materie. Nach ihrer Beweglichkeit und Dichte unterscheidet man: fest, flüssig und gasförmig. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über Formbeständigkeit und Elastizität eines Stoffes lassen sich für die Beschreibung der SPD nutzbar machen. Die Analyse der SPD ergibt dann folgendes: Den ersten, den starren Zustand hat sie schon lang hinter sich gelassen; starr und doktrinär - das war sie in der Zeit, als August Bebel keinen Tag ohne die Überzeugung ins Bett ging, dass es bis zur Revolution nur noch wenige Tage dauern würde.
Der Verwandlungsprozess, der die SPD in den nächsten Zustand führte, war langwierig und mit vielen Rückschlägen verbunden. Die Sozialdemokraten suchten und fanden aber den Modus Vivendi mit der Gesellschaft, in der sie lebten.
Die Partei verwandelte sich von einer bisweilen sehr theorielastigen Kraft zu einer flexiblen, sozialreformerisch demokratischen Bewegung. Dieser zweite Zustand wird wunderbar beschrieben im Godesberger Programm von 1959.
Und in diesem Zustand, dem elastisch-flüssigen sozusagen, wurde die SPD zu einer höchst erfolgreichen Partei.
Als Regierungspartei unter Kanzler Schröder überschritt sie dann einen neuen kritischen Punkt zum dritten Zustand: den Übergang zur Gasförmigkeit. Gase füllen jede Form, besitzen keine definierte Oberfläche und üben allseitig Druck aus. In diesem Zustand, so lehren es Physik und Chemie, lösen sich die bisherigen Zusammenhänge und Bindungskräfte auf. Genau das war das Schicksal der Schröder-, Müntefering- und Steinmeier-SPD.
Die Verbindungen zu den Traditionen der Arbeiter- und Kleine-Leute-Partei wurden gekappt, das Verhältnis zu den Gewerkschaften gelöst, die alten sozialdemokratischen Bindemittel - Solidarität und soziale Sicherheit - nicht mehr hergestellt. Das Experimentieren mit neuen vermeintlichen Bindemitteln, mit neoliberalen Substanzen nämlich, endete im Desaster.
Vor genau fünfzig Jahre hat sich die SPD mit dem Godesberger Programm vom Marxismus verabschiedet und ist Volkspartei geworden. Jetzt muss sie es wieder werden - und diesmal den kritischen Punkt nicht vom ersten in den zweiten, sondern vom dritten zurück in den zweiten Zustand finden. Die SPD muss aufhören, Schröders Agenda 2010 für das fünfte Evangelium zu nehmen.
Die SPD hält sich für die Partei, die das Soziale erfunden hat. Sie hat geglaubt, es sei ausreichend, es einmal erfunden zu haben, um dann für immer davon zu profitieren. Womöglich hilft hier ein Lied zu besserer Erkenntnis, das Brecht-Lied von der Solidarität, dritte Strophe: "Wer im Stich lässt seinesgleichen, lässt ja nur sich selbst im Stich". Beim Buhlen um die "neue Mitte" hat die SPD vergessen, wo sie herkommt.
(sueddeutsche.de/gba)