sueddeutsche.de, 10.02.2010
Hartz-IV-Urteil: Karlsruhe, de Maizière und eine Unverschämtheit
Ein Kommentar von Heribert Prantl
Gegen die Kritik von Innenminister de Maizière am Hartz-IV-Urteil ist an sich nichts einzuwenden. Wenn aber CDU-Politiker jetzt die Herabsetzung der Regelsätze fordern, ist das eine Missachtung des höchsten Gerichts.
Der Bundesinnenminister hat das Bundesverfassungsgericht kritisiert. Dagegen ist an sich nichts zu sagen. Man muss eine solche Kritik am Hartz-IV-Urteil auch nicht gleich als "Gerichtsschelte" abqualifizieren.
Gerichtsschelte - das klingt, als habe Thomas de Maizière etwas Ungehöriges, ja Unanständiges gesagt. Es ist aber keine Missachtung des Gerichts, wenn man eine Entscheidung kritisiert. Im Grundgesetz steht ja nicht, dass man dem höchsten Gericht ewige Anbetung schuldet.
Wichtig ist aber, dass bei aller politischen Kritik an einer höchstrichterlichen Entscheidung der Respekt der Gewalten voreinander gewahrt bleibt. Zu diesem Respekt der Exekutive vor der Judikative gehört es, das Karlsruher Urteil sorgfältig zu lesen. Es handelt sich ja hier nicht um eine Art Presseerklärung, nicht um ein Flugblatt, nicht um einen schnellen Diskussionsbeitrag, nicht um ein Interview, das der scheidende Gerichtspräsident Papier gegeben hat. Es handelt sich um eine gewichtige, wichtige, sorgfältig abgewogene Leitentscheidung, um ein einstimmig gefälltes Urteil der höchsten Richter - das die Akribie beim Lesen verdient, die der Gesetzgeber bei der Produktion seiner Hartz-IV-Gesetz ganz offensichtlich nicht hatte.
Kritik beginnt also mit der Sorgfalt beim Lesen des Urteils; und wenn de Maizières Kritik letztendlich dazu führt, dass die Politiker das Urteil studieren, dann werden sie feststellen, dass das Urteil nicht nur den Armen hilft, sondern auch der Politik: weil es dazu beiträgt, klügere Sozialgesetze als bisher zu machen.
Minister de Maizière hat beklagt, dass das Hartz-IV-Urteil "eine problematische Tendenz zu einer übertriebenen Einzelfallbetrachtung" zeige. Thomas de Maizière wünscht sich eine "vernünftige Pauschalisierung". Das ist verständlich. Politik pauschalisiert gern, das zeigt auch die Kritik des Ministers am Gericht.
Die ganzen Hartz-IV-Gesetze sind ein Ausdruck politischer Pauschalisierung. Die Politiker haben aber den Vorteil, dass sie, im Gegensatz zu den Hartz-IV-Empfängern, von der Pauschale nicht leben müssen.
Es blieb dem Bundesverfassungsgericht, weil es das Sozialstaatsgebot ernst genommen hat, gar nichts anderes übrig, als die Hartz-IV-Pauschalen intensiv zu beleuchten, zu zerlegen und dann festzustellen: Diese Pauschale ist höchst ungerecht, weil sie weniger auf fundierten Zahlen, denn auf Tricksereien und unzulässigen Pauschalisierungen beruht.
Das Bundesverfassungsgericht hat getan, was seines Amtes ist: Es hat die Hartz-IV-Gesetze am Sozialstaatsgebot und an der Menschenwürde-Garantie des Grundgesetzes gemessen - und ist zu einem negativen Ergebnis gekommen.
Es hat, anders als oft beklagt, dabei nicht in die Kompetenzen des Gesetzgebers eingegriffen. Es hat kein beziffertes Existenzminimum vorgeschrieben, also nicht einfach die Hartz-IV-Sätze um zwanzig Prozent erhöht. Es hat sich sogar mehr zurückgehalten, als es sich viele Wohlfahrtsverbände gewünscht hätten. Die Richter gaben aber der öffentlichen Diskussion und dem Parlament eine ganze Reihe von Kriterien an die Hand, an der sich das neu festzusetzende Existenzminimum messen lassen muss.
Wenn man die ersten Reaktionen auf das Urteil betrachtet, wünscht man sich, das Urteil wäre plakativer ausgefallen - was höchstrichterliche Entscheidungen eigentlich nicht sein sollen.
Das Urteil ins Gegenteil verkehrt
Der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe der Unions-Bundestagsfraktion, Peter Weiß (CDU) plädiert nämlich auf der Basis des Hartz-IV-Urteils für eine Reform, die zu niedrigeren Regelbeträgen führen soll; andere aus dem Arbeitgeberlager haben es ihm schon gleichgetan. "Auf der Basis des Urteils" kann man aber hier wirklich nicht sagen, weil ein solches Votum keinerlei Basis im Urteil hat.
Wer nun auch noch die Herabsetzung der ohnehin niedrigen Hartz-IV-Regelsätze fordert, der missbraucht, vorsätzlich oder fahrlässig, das Karlsruher Urteil. Er nutzt die vom Gericht in richterlicher Zurückhaltung gebrauchte Formulierung, die bisherigen Sätze seien nicht "offensichtlich unzureichend" dazu aus, die darin enthaltene Aussage ins Gegenteil zu verkehren.
Das, genau das, ist eine Missachtung des Gerichts. Oder, in nichtrichterlicher Zurückhaltung ausgedrückt - eine Unverschämtheit.