Frankfurter Rundschau, 24.02.2010
Der Skandal der Normalität
Leitartikel zu Rüttgers von Stephan Hebel
Das hat Jürgen Rüttgers wirklich schön gesagt: Wer ihm Käuflichkeit unterstelle, so der CDU-Mann in der Bild-Zeitung, der mache "billigen Wahlkampf". Sehen Sie, das ist der Unterschied: Billigen Wahlkampf, so etwas gibt es vielleicht bei der Konkurrenz, aber nicht bei der nordrhein-westfälischen CDU. Nur teuren. Und deshalb braucht sie Geld. Auch von Sponsoren. Und wenn die Parteizentrale die Gesprächstermine des Chefs verscherbelt, dann kann der ja nichts dafür. Hauptsache, nichts gewusst. Für so etwas hat man einen Generalsekretär, der notfalls das Bauernopfer geben und zurücktreten kann.
Wie die meisten Skandale hat auch dieser seine zwei Wirklichkeiten. Da ist zum einen der Vorgang als solcher. Klar, auch er bietet spannenden Stoff: Kann sich der Spitzenmann aus der Affäre ziehen? Kommt er durch mit der Strategie, die Verantwortung nach unten zu delegieren? Kommt er damit auch jetzt noch durch, da klar zu sein scheint, dass es die Praxis schon vor der Zeit des zurückgetretenen Generalsekretärs gab? Wie geschwächt steht er da, wenn ihn nur die Behauptung rettet, nicht gewusst zu haben, wie seine Untergebenen über ihn verfügten?
Das wird irgendwann entschieden sein, so oder so, aus Gründen der politischen Hygiene am besten so, dass Rüttgers spätestens ab Mai nicht mehr Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen ist. Aber es ist noch lange nicht die ganze Geschichte. Denn da ist die zweite Wirklichkeit. Es handelt sich bei ihr um das, was Politiker und einige Journalisten beschönigend "Normalität" nennen und leider akzeptieren.
Es gibt auch in der Affäre Rüttgers keine Stellungnahme und keinen Medienkommentar, der das Skandalöse des Vorgangs nicht von der Normalität des Politikbetriebes abzugrenzen versuchte. Als normal gilt es dabei vor allem, dass Parteien – fast alle Parteien – ihre Veranstaltungen für eine Art Messe nutzen.
Unternehmen, die es sich leisten können und wollen, mieten einen Stand, und wenn es "normal" zugeht, bombardieren sie "nur" die einfachen Delegierten (und die Journalisten) mit ihrem Material – es sei denn, sie haben Glück und ein Spitzenpolitiker gibt ihnen die Ehre.
Ja, Alltag ist das, und wer jemals rauchte als Politiker oder Journalist, wird sich erinnern, wie früher die Zigarettenindustrie ganze Parteitage nicht nur durchfütterte, sondern auch mit Tabakwaren aller Art versorgte. Aber ist "alltäglich" das Gleiche wie "normal"?
Gemessen an den Idealen der Meinungsbildung in einer Demokratie, ist es das keineswegs.
Dem demokratischen Lehrbuch nach, das die Politiker an Sonntagen gern bemühen, dient ein Parteitag der demokratischen Meinungsbildung von unten, möglichst ohne Beeinflussung von außen. Aus den Ortsverbänden reist die Basis an, stellt Anträge, wägt Argumente und entscheidet.
Tatsächlich? Wer diese Darstellung für naiv und unrealistisch hält, liegt nicht daneben. In der Wirklichkeit sind Parteitage häufig showmäßig inszenierte Veranstaltungen zum Bejubeln von Spitzenkandidaten. Und ebenso häufig sind sie – wie andere Schauplätze der Politik – eine willkommene Bühne für Lobbyisten.
Ja, das wissen wir alle, aber müssen, sollen wir es deshalb hinnehmen? Man könnte auch sagen: Nicht wer diese Zustände beklagt, hat ein Problem, sondern wer sie klaglos akzeptiert.
Nicht, dass sie sich im Wortsinn kaufen ließen, unsere Politiker. Guido Westerwelle wäre zur falschen Politik auch ohne Großspenden fähig, und Jürgen Rüttgers wird den Teufel tun, einem Unternehmer am Parteitags-Stand ein Versprechen zu machen.
Die Beeinflussung der Politik durch jene, die sich teuren Lobbyismus leisten können, geschieht eher schleichend. Sie geschieht unter anderem durch Imagewerbung, durch das "Produzieren" einer angenehmen Erinnerung oder das Wecken von ein bisschen Angst vor Arbeitsplatzverlusten im Wahlkreis bei diesem Delegierten oder jenem Minister.
Das glauben Sie nicht? Dann fragen Sie sich mal, warum die Wirtschaft für diese Art der Landschaftspflege so viel Geld ausgibt.
Egal, was aus Jürgen Rüttgers wird – ein Skandal wie dieser hätte nur dann sein Positives, wenn er dazu führen würde, dass wir uns endlich mit dem Skandal der Normalität, der Normalität des Skandals beschäftigen.
Wenn nicht, wird nicht nur Jürgen Rüttgers beschädigt. Sondern eine Parteienlandschaft insgesamt, an deren demokratischem Charakter immer mehr Menschen zweifeln