Karl Nolle, MdL

spiegel-online.de, 19:07 Uhr, 15.03.2010

Arbeitsmarkt: SPD bricht Schröders Reformen auf

Die SPD denkt um. Parteichef Gabriel legt einen Korrektur-Katalog für Hartz IV vor, der mehr Änderungen enthält als erwartet - das Ziel: Wieder "Ordnung schaffen" auf dem Arbeitsmarkt. Kanzlerin Merkel nennt Teile der Pläne dagegen "absoluten Irrsinn".
 
Berlin - So ein fein austariertes, vorsichtiges Sätzchen hat man Sigmar Gabriel schon lange nicht mehr sagen hören. "Wir sind davon überzeugt, dass wir eine angemessene Weiterentwicklung, in Teilen auch Korrektur der Arbeitsmarktreformen vorgelegt haben", sagt der ansonsten eher zu rustikaler Rhetorik neigende SPD-Chef bedächtig.

Die Vorsicht des Niedersachsen hat einen diffizilen Grund. An diesem Montag hat das SPD-Präsidium den sensibelsten Teil des Neuordnungsprozesses der Sozialdemokratie begonnen - die Debatte darüber, wie man künftig zu den rot-grünen Arbeitsmarktreformen steht, die wie nichts anderes die Genossen jahrelang gespalten haben. Und weil diese Debatte auch ein bisschen darüber entscheidet, wie es mit der Partei insgesamt weitergeht, ist Demut das Gebot der Stunde.

Als ersten Schritt hat das Präsidium nun ein Papier mit Korrekturvorschlägen vorgelegt. Vorschlägen wohlgemerkt, denn beschlossen werden soll die Neupositionierung erst auf dem Bundesparteitag im September. Aber mit Blick auf die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai sah sich die SPD-Spitze genötigt, die neuen Leitlinien zumindest schon mal zu umreißen. So sollen verprellte Wähler wieder zu den Genossen zurückfinden.

Die SPD beginnt die Hartz-Buße. Ohne freilich am Kern der unter dem Begriff Agenda 2010 bekannt gewordenen Reformen zu rütteln.

Der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Einbeziehung der Sozialhilfeempfänger in die Arbeitsförderung seien "richtige Weichenstellungen" gewesen, heißt es in dem von Ex-Arbeitsminister Olaf Scholz maßgeblich verfassten Papier. Allerdings müsse die SPD "Fehlentwicklungen erkennen und auch Korrekturen vorschlagen". Oder wie Gabriel es ausdrückt: "Wir müssen wieder Ordnung schaffen auf dem Arbeitsmarkt" - ein Eingeständnis dafür, dass es auch die eigenen Reformen waren, die für Unordnung sorgten.

Tatsächlich gehen die Vorschläge weiter, als manche Beobachter das in den vergangenen Tagen erwartet hatten:

•So plädiert die SPD bei Hartz IV dafür, "auf die Anrechnung von Vermögen vollständig zu verzichten". Nur das aus dem Vermögen erzielte Einkommen soll künftig noch berücksichtigt werden. Obwohl dann etwa Zinsen oder Mieteinnahmen angerechnet würden, griff Kanzlerin Angela Merkel am Abend die komplette Vermögensschonung scharf an. Damit könnten "Besitzer von sieben, acht Häusern Hartz IV beantragen. Das wäre der absolute Irrsinn", sagte sie nach Teilnehmerangaben auf der CDU-Fraktionssitzung.

•Änderungen will die SPD auch beim so genannten Übergangszuschlag. Wer vom Arbeitslosengeld I in das Hartz-IV-System abrutscht, erhält derzeit für zwei Jahre einen Zuschlag auf das Arbeitslosengeld II von höchstens 160 Euro im ersten und 80 Euro im zweiten Jahr. Die Sozialdemokraten wollen dies durch die Berücksichtigung langer Beschäftigungszeiten verbessern.

• Erwartet worden war eine Verlängerung der Zahldauer des Arbeitslosengelds I. Hier schloss sich die SPD-Spitze weitgehend einem Vorschlag des hessischen Landesverbands an. Ältere sollen die Unterstützung demnach künftig bis zu drei Jahre beziehen können (bisher zwei), wenn sie sich besonders qualifizieren, Jüngere bis zu zwei Jahre (bisher eins).

• Beim Mindestlohn folgt die SPD dem Deutschen Gewerkschaftsbund, der 8,50 Euro pro Stunde fordert. Ein gesetzlicher Mindestlohn werde "dringend" gebraucht, um den Missbrauch bei der Leiharbeit zu verhindern

• Berücksichtigt wurde auch der Vorschlag der nordrhein-westfälischen Spitzenkandidatin Hannelore Kraft, einen sozialen Arbeitsmarkt zu schaffen. So sollen 200.000 zusätzliche Stellen für Langzeitarbeitslose mit Vermittlungshemmnissen geschafft werden. Gabriel hob hervor, es handele sich um "freiwillige" Arbeit - bei Ablehnung zumutbarer Arbeit sollten aber alle schon vorhandenen Sanktionsmöglichkeiten greifen.

• Auch beim Thema Mitbestimmung will die Parteispitze Änderungen. Die paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten soll in Unternehmen mit 1000 statt derzeit 2000 Beschäftigten greifen. Außerdem soll "ein Katalog im Aufsichtsrat zustimmungsbedürftiger Geschäfte" festgelegt werden. Das sei ein Schutz gegen "modernen Finanzkapitalismus", heißt es im Papier.

Ob es bei den am Montag beschlossenen Leitlinien bleibt ist fraglich. Wie schon beim Thema Afghanistan soll jetzt die Basis beteiligt werden. Doch Hartz IV ist sensibler - und besonders die Parteilinke dürfte bemängeln, dass die SPD-Spitze einige Fragen in dem Papier ausgeklammert hat.

Zu den umstrittenen Zumutbarkeitsregeln findet sich ebenso wenig wie zu der Frage, wie hoch die Hartz-IV-Sätze künftig sein sollen. Ganz abgesehen von der Finanzierung lässt das Konzept auch an anderer Stelle viel Raum für Debatte. Wie zum Beispiel der Übergang vom ALG I ins ALG II genau geregelt werden soll, ist offen. Auch die Höhe der Entlohnung für Tätigkeiten im sozialen Arbeitsmarkt wurde noch nicht festgelegt. Hier dürfte es in den kommenden Monaten noch einige interessante Wortmeldungen geben.

Wie heikel das Thema ist, wurde am Montag auch im Präsidium deutlich. Teilnehmer beichten, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, Kopf der Agenda 2010, habe sich nicht ein einziges Mal geäußert.

Stattdessen sorgte ein anderer für Stimmung, der eigentlich gar nicht der illustren Runde angehört: Ottmar Schreiner, Parteilinker und Chef des Arbeitnehmerflügels. Als Zeichen des neuen Stils war er von der SPD-Spitze zur Sitzung geladen worden. Schreiner nutzte gleich mal die Gelegenheit, um das Papier noch ein wenig anzuschärfen. So forderte er, die Ein-Euro-Jobs für Langzeitarbeitslose künftig durch einen Ausbau des sozialen Arbeitsmarkts zu ersetzen. Man könne schließlich nicht gleichzeitig einen Mindestlohn von 8,50 Euro fordern und an den Billigstjobs festhalten. Doch mehrere Teilnehmer warnten vor einem solchen Schritt: Die Ein-Euro-Jobs seien ein vergleichsweise kostengünstiges Förderinstrument. Schaffe man es ab und setze auf teurere Modelle, reduziere man automatisch die Zahl der Geförderten.

Und so findet sich im Papier ein Kompromiss: Es solle geprüft werden, welche der Ein-Euro-Jobs in den sozialen Arbeitsmarkt "überführt werden" könnten.
Von Veit Medick, mit Material von dpa/Reuters

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