http://quo-vadis-dresden.de, 10.10.2010
Eine unbequeme Dummheit (Tillich schwadroniert im Focus)
Ein Kommentar von Johannes Hellmich
Wir hatten ihn fast vergessen, nun meldet er sich eindrucksvoll zurück. Stanislaw Tillich wirft den Westdeutschen im Magazin Focus Bequemlichkeit vor und gießt damit im Jahre Zwanzig der Einheit ordentlich Öl ins Feuer eines ohnehin schwierigen deutsch-deutschen Verhältnisses.
Dass ausgerechnet der Ministerpräsident des politisch völlig erstarrten Sachsen über Veränderungen schwadroniert, ist peinlich genug. In der gewohnten Mischung aus Großmannssucht und Naivität, wie sie zum Markenzeichen für Sachsens Union geworden ist, erteilt unser Ministerpräsident nun auch zur problematischen Situation in Stuttgart weltfremde Ratschläge.
Seinem bedrängten Parteifreund Mappus erweist er mit der Beschimpfung westdeutscher Soli-Zahler nebenbei einen Bärendienst. Und wie immer spricht er unaufgefordert für alle Sachsen. Die Häme der Altbundesbürger in zahlreichen Kommentaren, dass Tillich gut Reden habe, weil sie die Investitionen in Sachsen bezahlen durften, geht deshalb auf unsere Kosten.
Tillich zeigt nicht nur, dass er weder die Auseinandersetzung in Stuttgart, die ja nun für alle erkennbar keine Frage von nicht erteilten Genehmigungen ist, noch gleich gelagerte Konflikte in Sachsen begriffen hat, sondern schlimmer, dass er einen Zusammenhang sieht zwischen der vorgeblichen Motivation der Sachsen, europäische Spitzenregion zu werden und der Erfolglosigkeit von Klagen gegen Großprojekte, als wäre Rechtmäßigkeit eine Frage politischen Willens. Das schnelle Erteilen von Genehmigungen, deren Rechtssicherheit in Sachsen wohl kaum jemanden überraschen dürfte, hält Tillich konsequenterweise für vorbildhaft für offenbar unfähige westdeutsche Verwaltungen und Justizbehörden, die ja einst ihre nicht immer Fähigsten nach Sachsen abschoben.
Brisant aber ist: Er unterstellt auch eine Niederlage der Naturschutzverbände in der Causa WSB, obwohl eine abschließende Entscheidung weiter aussteht. Damit übt Tillich in aller Öffentlichkeit inakzeptablen Druck auf ein eigentlich unabhängiges Gericht aus.
Seine mehrfach anklingende Überzeugung, alles richtig gemacht zu haben, hält einer Überprüfung kaum stand: Dass der sächsischen Union die Einsetzung Oroszs trotz des demokratischen und kulturellen Offenbarungseides der Aberkennung des Welterbes gelungen ist, mag eher auf schwere Versäumnisse bei der Bildung demokratischer Kompetenz sächsischer Bürger und einer weitverbreiteten Demokratieverdrossenheit zurückzuführen sein als auf die seltsame Vorstellung, Rücksichtslosigkeit und autokratisches Selbstverständnis (Weihnachtsbrief Tillich) wären Erfolgsgaranten für langfristige Herrschaft.
Sachsens CDU hat trotz gigantischer Transferleistungen bis heute weder bei Wirtschaftskraft, Einkommen und Arbeitslosigkeit ein Aufschließen auf jene Altbundesländer erreichen können, die Tillich sich nun anschickt zu belehren. Selbst die Abwanderung junger Menschen, die in der Endzeit der DDR gern als Abstimmung mit den Füßen beschrieben wurde, hält bis heute an.
Immerhin ahnt Tillich offenbar dennoch, dass Waldschlösschenbrücke (WSB) und Stuttgart21 irgendwie zusammengehören – ein Umstand, den regierungstreue Medien in Sachsen konsequent ausblenden. Sein Rat an Mappus, gegen alle Vernunft an diesem Prestigeprojekt unbedingt festzuhalten, zeigt allerdings auch die Grenzen seiner Urteilskraft. Bürger der Altbundesländer dürften in der Regel über mehr Erfahrungen einer Demokratie verfügen als unsere sächsische Blockflöte von Milbradts Gnaden. Sie haben deshalb auch einen gewissen Vorlauf bei der Formulierung bürgerschaftlicher Verantwortung und der Fähigkeit einer Abwägung zwischen Lebensqualität und fragwürdigem Fortschritt.