DIE WELT, 17.11.2010
Das Geheimnis des CDU-Chronisten
Der Historiker Michael Richter diente der Stasi einst als Spitzel – Dank mächtiger Fürsprecher in Politik und Wissenschaft schadete das seiner Karriere allerdings nicht
Berlin – Die eine Hälfte seines bisherigen Lebens war er DDR-Bürger, die andere Bundesbürger: Michael Richter ist ein Zeithistoriker mit einer außergewöhnlichen Biografie. Als der heute 57-Jährige den Honecker-Staat im April 1981 mit zwei Koffern verließ, verfolgte er nach eigener Darstellung ein Ziel: Die Öffentlichkeit über den Charakter des SED-Regimes und die Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) aufzuklären. Richter holte den Studienabschluss nach, forschte im Archiv der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung und legte eine Doktorarbeit zur Geschichte der Ost-CDU vor. Als Deutschland dann wieder eins war, kehrte er in die alte Heimat zurück – als Wissenschaftler an das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden, das 1993 auf Betreiben des Freistaates Sachsen gegründet wurde. Seitdem hat der selbst ernannte Aufklärer unermüdlich über die SED, Stasi und DDR-CDU publiziert, die Liste seiner Veröffentlichungen umfasst acht eng bedruckte Seiten.
Richter gilt auf seinem Gebiet als Kapazität. Allerdings belegen der WELT vorliegende Dokumente jetzt, dass der Historiker einen speziellen Zugang zum Gegenstand seiner Forschung hat: Von Januar 1979 bis April 1981 wurde Richter als Spitzel der DDR-Staatssicherheit geführt. Handschriftlich und „auf freiwilliger Basis“ verpflichtete er sich dazu, das MfS im Kampf gegen die „gegnerischen Kräfte“ zu unterstützen. Als IM „Thomas“ lieferte er Informationen etwa über kirchliche Kreise und beschaffte beispielsweise Texte des SED-Kritikers Rudolf Bahro. Dafür gab es beachtliche 1180,- DDR-Mark. Die Stasi bereitete sogar Richters Übersiedlung in den Westen vor, um ihn dort als Agenten zu nutzen. Laut Akte hatte der Mitarbeiter seine Bereitschaft erklärt, „nach der Übersiedlung weiterhin für das MfS tätig zu sein“. Deshalb waren komplizierte „Varianten der Gestaltung der Verbindung“ vorgesehen. Bei Übermittlung des Codewortes „Springer-Verlag“ sollte sich Richter in West-Berlin einfinden; lag in seinem Briefkasten eine farbige Postkarte mit dem Motiv einer Kirche, bedeutete das ein konspiratives Treffen in Prag.
Richter ist schon einmal eine gewisse Befangenheit vorgehalten worden. Da ging es jedoch um die Wissenschaft. Kritiker spotten, der Historiker sei ein „Haus- und Hofchronist der CDU“, die seine Karriere befördert habe. Der Vorwurf der Parteilichkeit lässt sich nicht ganz von der Hand weisen. Einerseits lobt Richter über Gebühr die Rolle jener DDR-Bürgerrechtler, die nach der Friedlichen Revolution zu den Christdemokraten gestoßen sind. Andererseits hält er sich zurück, wenn es gilt, die frühere Kumpanei mancher CDU-Größe im Osten mit dem SED-Staat zu benennen. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) jedenfalls schätzt die Arbeit des Historikers und stellte im vergangenen Jahr dessen Darstellung über den Herbst 1989 persönlich vor – verbunden mit der Aufforderung, jede sächsische Schule solle „wenigstens ein Exemplar von Michael Richters Buch“ in ihre Bibliothek stellen.
Als Richter, der Chronist der DDR-CDU, vor nunmehr gut anderthalb Jahrzehnten an das Hannah-Arendt-Institut geholt wurde, waren die Verantwortlichen bis hin zu einem Mitglied der Landesregierung über sein dunkles Geheimnis unterrichtet. Ihnen lag sogar ein Gutachten vor, dass Zweifel daran äußerte, ob er für die Aufgabe in dem Institut der geeignete Kandidat sei. Doch man glaubte dessen Version. Richter behauptete, er habe sich nur deshalb auf das Abenteuer mit Mielkes Ministerium eingelassen, um nicht in der DDR bleiben zu müssen. Er habe dem MfS lediglich Dinge gemeldet, die es „auch so wusste“. Er sei Opfer der Verhältnisse im SED-Staat. Alle Beteiligten einigten sich darauf, über diese Episode aus den Zeiten der Diktatur den Mantel des Schweigens zu legen – bemerkenswert für eine Einrichtung, die den Totalitarismus in allen Facetten ausleuchten will.
Ein Lehrer mit einer vergleichbaren IM-Akte hätte damals in Sachsen seinen Job verloren. Richter hingegen beschäftigte sich auf Staatskosten nicht zuletzt mit dem Stasi-Stoff. In einem persönlich gefärbten Aufsatz erregte er sich über die vielen Inoffiziellen Mitarbeiter, die in seiner Jugend auf ihn angesetzt waren. Die eigene IM-Tätigkeit leugnete er dabei: „Ich studierte in Berlin evangelische Theologie und ging 1981 nach einem Anwerbeversuch des MfS in den Westen.“
Kein Wort darüber, dass er zuvor als „Thomas“ laut seiner Stasi-Akte die Anschriften verdächtiger Personen geliefert und Kommilitonen als „politisch-ideologisch negativ“, „Alkoholiker“ oder „bisexuell veranlagt“ angeschwärzt hatte. Ausweislich einer Quittung über „operative Auslagen“ wurde er auch in der Volksrepublik Polen eingesetzt, als dort die Gewerkschaft Solidarnosc auf die Barrikaden ging. Im engeren Kreis räumt Richter die Liaison mit dem Geheimdienst ein. Die große Schar seiner Leser ist ahnungslos.
Die Strategie des Verschweigens, an der mehrere Direktoren des Hannah-Arendt-Instituts mitwirkten, wäre fast aufgegangen. Durchkreuzt hat sie mit dem DDR-Historiker Horst Schneider kurioserweise ein Altstalinist. Der mit ehemaligen MfS-Kadern gut vernetzte Dresdner, der die Gedenkstätte im Ost-Berliner Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen als „Gruselkabinett“ lächerlich macht, hatte sich über Äußerungen Richters geärgert. Dieser hatte über die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989, die den Fall des SED-Regimes einläutete, geschrieben: „In der Leipziger Stadthalle wurden Operationsnottische aufgestellt sowie Blutplasma und Leichensäcke gelagert.“ Das war eine unzutreffende Behauptung, zumal es in Leipzig gar keine Stadthalle gibt.
Bundespräsident Horst Köhler griff das Zitat 2009 in einer Festrede auf – und geriet deshalb in die Kritik. Unter anderem durch Professor Schneider, der sich nun über Richter umhörte, von seinem Vorleben erfuhr und einen Drohbrief an sein Institut schrieb. Dort herrscht seitdem helle Aufregung. Erst dadurch wurde auch Sachsens Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, Michael Beleites, auf den Fall aufmerksam. Ihn hatte man im Ungewissen gelassen, obwohl er von 2001 bis 2005 im Beirat des Instituts saß. „Eine Frechheit“, wettert Beleites. „Das ist, als ob man den Bombenentschärfer ins Haus holt und ihm verschweigt, dass im Keller eine Bombe tickt.“
Auf Bitte dieser Redaktion hat sich Beleites die der WELT vorliegenden Dokumente angeschaut. Ihnen lässt sich entnehmen, dass Richter schon vor seiner IM-Anwerbung eine politische Kehrtwende vollzogen hatte. Er gab das Studium der Theologie auf, weil er „marxistisch-leninistische Philosophie“ studieren wollte. Er engagierte sich in der SED-Staatsjugend FDJ und in der Christlichen Friedenskonferenz, die während des Kalten Krieges eine kommunistische Tarnorganisation war. Er stand in engem Kontakt zum staatsloyalen Theologen Heinrich Fink, der 1992 sein Amt als Rektor der Berliner Humboldt-Universität niederlegen musste, weil er nach Einschätzung des Bundesgerichtshofs „wissentlich für das MfS tätig“ gewesen war. Vor diesem Hintergrund findet es Beleites „sehr, sehr merkwürdig“, dass Richter nach seiner von der Stasi flankierten Ausreise aus der DDR ausgerechnet bei der konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung landete.
Richter selbst kann solche Vorhaltungen nicht nachvollziehen. In den zurückliegenden Wochen hat er Kollegen und Bekannten eine 38 Seiten umfassende Rechtfertigung übermittelt. Ihr Titel: „Zwischen den Fronten“. Darin fragt er: „Warum hätte ich mein Leben in den Dienst der Stasi stellen sollen?“ Sein einziges Ziel sei es gewesen, „irgendwie in den Westen zu gelangen“. Dazu habe er sich zum Schein sogar von seiner Frau scheiden lassen und sich gleich nach seiner Ankunft im Westen dem Verfassungsschutz offenbart. Doch wer sagt, dass nicht genau das zum Plan der Stasi gehörte, die ihrem Mann eine „gute Legendierung gegenüber westlichen Geheimdiensten“ verschaffen wollte?
Allerdings gibt es in der IM-Akte „Thomas“ keinen Beleg dafür, dass Richter im Westen im Sinne der Stasi tätig geworden ist. Dort steht sogar, er sei „in der BRD zur offenen Feindschaft gegenüber der DDR übergegangen“. Ob das die ganze Wahrheit ist, bleibt offen. Die Stasi vernichtete die meisten Unterlagen ihrer Auslandsspionageabteilung.
Bislang hatte sich Richter stets auf eine Auskunft des Stasi-Unterlagenarchivs berufen. Es bescheinigte ihm im Oktober 1991, er sei durch „Nötigung“ zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst gezwungen worden und habe „keine belastenden Aussagen über andere Personen“ gemacht. Dieser Bescheid ist der Birthler-Behörde inzwischen peinlich. Auf Anfrage teilt sie mit, ihr sei damals „ein Fehler“ unterlaufen. Und: „Wenn die Anstellung Michael Richters beim Hannah-Arendt-Institut tatsächlich im Zusammenhang mit der fehlerhaften Auskunft gestanden haben sollte, würden wir dies sehr bedauern.“
Institutsdirektor Günther Heydemann liegt seit Kurzem eine revidierte Auskunft der Behörde vor. Fragen dieser Zeitung ließ er unbeantwortet und verwies auf eine bevorstehende Pressemitteilung. Ihm dürften arbeitsrechtlich ohnehin die Hände gebunden sein. Denn die Verantwortlichen bis hin zur sächsischen Regierung wussten von Anfang an von Richters Pakt mit dem SED-Geheimdienst und sahen darin kein Einstellungshindernis. Ob ihnen nicht bewusst war, dass das Verschweigen dieser heiklen Verbindung einmal dem Ruf der Dresdner Denkfabrik zur Aufarbeitung deutscher Diktaturgeschichte schaden könnte? Mit diesem Versäumnis umzugehen dürfte nun viel Kraft und Zeit erfordern.
Von Dirk Banse und Uwe Müller
Rede von Stanislaw Tillich auf der Leipziger Buchmesse 2009 zur Vorstellung des Buches von Michael Richter: "Die friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90"
Sehr geehrter Herr Richter,
sehr geehrter Herr Dr. Richter,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
Historiker sind sich uneins, ob 1989/90 eine Revolution stattfand. Ich sage: Ja. Für 17 Millionen Ostdeutsche hat sich seitdem praktisch alles verändert. Viele von uns, die heute hier sind, würden ein anderes Leben führen ohne die Friedliche Revolution.
Nur ein Gedanke: Stellen Sie sich mal vor, vor 20 Jahren hätte eine öffentliche Buchlesung in einer staatlichen Buchhandlung stattgefunden.
Das Buch wäre nur eines gewesen, das die Zensoren auch erlaubt hatten. Ein Autor wäre eher kein studierter evangelischer Theologe gewesen.
Und ganz gewiss wäre der verspätet eintreffende Gast nicht eben erst aus Brüssel gekommen, von einem Gespräch mit dem EU-Kommissionspräsidenten – womit ich meine Verspätung zu entschuldigen bitte.
Dieser einfache Vergleich macht deutlich, was wir den vielen Revolutionären des 89er Herbstes verdanken.Wir werden nie genau wissen, wie viele damals dabei waren. Einige Hunderttausend, zwei, drei Millionen, die das SED-Regime aktiv niedergekämpft haben, und das mit friedlichen Mitteln.
Wer Michael Richters Buch liest, der versteht, was für eine gewaltige Leistung diese Menschen vollbracht haben. Sie haben gegen den erbitterten Widerstand der SED durchgesetzt, dass die DDR am Ende ein demokratisches Land wurde.
Der Druck von der Straße hat Helmut Kohl den Rücken gestärkt, als er mit den vier Mächten über die Deutsche Einheit sprach.
Die großen weltpolitischen Veränderungen, die daraus folgten, sind ohne die Demonstranten auf den Straßen der DDR undenkbar.
Überall dort, wo mutige Menschen für Freiheit, Demokratie und deutsche Einheit auf die Straße gegangen sind, sollten wir an die Ereignisse von 1989/90 erinnern. Vor allem: an die Menschen, die sie getragen haben.
Die sächsische Geschichte ist reich an Glanzpunkten und großen Persönlichkeiten. Die friedliche Revolution ist ohne Zweifel eine große Sternstunde unserer Geschichte. Ihre Protagonisten haben zu Recht einen prominenten Platz in den Geschichtsbüchern verdient.
Heute wird unser Land nicht mehr auf den Straßen verändert, sondern von einer Regierung, die in freien Wahlen bestimmt wird. Dafür haben die Menschen 1989 und 1990 gestritten.
Gerade den jungen Sachsen, die erstmals wählen dürfen, müssen wir das immer wieder klar machen.
Sie verdanken ihre Freiheit ihren Eltern und Großeltern. Das ist etwas, worauf die Alten stolz sein können, und die Jungen ebenso.
Freiheit, Demokratie und Recht sind ein Schatz, den wir gehoben haben und nun sorgfältig pflegen müssen. Die Geschichte der Friedlichen Revolution gehört dazu.
Studien zeigen, dass viele Schüler in Ost und West wenig über die DDR wissen. Da fragt man sich: Was wissen sie über die Friedliche Revolution? Und über jene Menschen, denen sie Freiheit und Demokratie verdanken? Die Antwort geben vielleicht neue Studien. In jedem Fall sollte man Michael Richters Buch lesen, wenn man sich ein umfassendes Bild von der Friedlichen Revolution machen möchte. Auch jemand, der diese Zeit miterlebt hat, konnte damals ja nicht alles im Blick haben, anders als der Historiker heute.
Es ist mir wichtig, viele junge Sachsen mit diesem Kapitel unserer sächsischen Geschichte bekannt zu machen. Jede Schule in Sachsen sollte deshalb wenigstens ein Exemplar von Michael Richters Buch in ihrer Bibliothek haben. Ich finde es lobenswert, dass die Landeszentrale für politische Bildung dieses wichtige Buch verlegt und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Ich freue mich ganz besonders, dass ich heute die ersten Exemplare an Vertreter Leipziger Schulen übergeben kann.
Meine Damen und Herren,
Ich wünsche dem Buch viele Leser. Es regt an, über den Wert unserer Demokratie nachzudenken. Was damals mit so großem Einsatz gewonnen worden ist, muss heute sorgsam gepflegt und wenn notwendig auch verteidigt werden.
Vielen Dank!
Expertengremium des Freistaates mit Michael Richter:
http://leipzig-seiten.de/index.php?option=com_content&view=article&id=3621:expertenkommission-20-jahre-friedliche-revolution-soll-staatsregierung-in-sachsen-beraten&catid=20:kultur&Itemid=267