Karl Nolle, MdL

spiegel-online.de, 05.12.2010

Willy Brandt in Warschau: Kniefall vor der Geschichte

Vor vierzig Jahren kniete Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
 
Es war eine Geste, die die Welt bewegte. Vor vierzig Jahren kniete Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Für seinen Mut wurde der Sozialdemokrat von der Welt gefeiert - nur die Deutschen reagierten skeptisch.

Ein feuchter, grauer Tag ist es, als Willy Brandt am 7. Dezember in der Hauptstadt Polens das Mahnmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto besucht. Mit ernstem, fast maskenhaftem Gesichtsausdruck schreitet er zu dem expressionistischen Bronzedenkmal und legt einen großen Kranz mit weißen Nelken nieder. Brandt zupft die Schleife zurecht, tritt ein paar Schritte zurück, dann sinkt er unvermittelt auf die Knie. Bundesaußenminister Walter Scheel, der rechts hinter ihm steht, ist ebenso überrascht wie der polnische Ministerpräsident Jozef Cyrankiewicz; selbst Brandts engster Vertrauter, Staatsekretär Egon Bahr ist irritiert.

Brandts Blick geht in die Ferne. Er wirkt wie versteinert. Etwa eine halbe Minute kniet er vor dem Mahnmal. Die Fotografen und Kameramänner wissen, dass sie Bilder machen, die um die Welt gehen werden. "Brandt braucht Sekunden", so Hans Ulrich Kempski, damals Chefreporter der "Süddeutschen Zeitung", "die den Zeugen der Szene endlos erscheinen, bis er wieder steht. Es sieht aus, als brauche er alle Kraft, um Tränen niederzukämpfen."

Die Bilder des auf dem Platz der Helden des Ghettos knienden Bundeskanzlers, des Deutschen, der sich vor den Opfern der Deutschen verneigt, bergen eine Dramatik, die in der Politik selten ist. Es ist kein Zufall, dass es Willy Brandt war, der diese aufwühlende Geste der Empathie wählte. Kein Politiker hat die westdeutsche Republik so polarisiert, aber auch so viele Menschen begeistert wie Willy Brandt.

Brandts schwierigste Reise

Gleichwohl ist es eine absurde Szene: Ein deutscher Antifaschist, der vor den Nazis ins Exil geflohen war und deshalb von den Rechten als "Vaterlandsverräter" angegriffen wurde, erkennt die deutsche Schuld an und drückt Trauer aus.

Brandts Reise nach Polen war die schwierigste, seit er im Oktober 1969 zum Bundeskanzler gewählt worden war. Nirgendwo hatten Deutsche im Zweiten Weltkrieg schlimmer gewütet als im östlichen Nachbarland; kein anderes Land hatten sie länger besetzt. Sechs Millionen Polen kamen von 1939 bis 1945 um, auf die Bevölkerung umgerechnet hat die Nazi-Tyrannei bei keinem Volk Europas mehr Opfer gefordert. Die Vernichtungslager des Holocaust betrieb die SS vor allem in Polen. Deutsche Besatzer und ihre Helfer ermordeten an die drei Millionen polnische Juden.

Die Flucht und Vertreibung der Deutschen, die Entscheidung der Siegermächte, ein Viertel des Territoriums des Deutschen Reichs an Polen zu übergeben, machten die Lage nicht einfacher. Die Beziehungen zu Polen waren für die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg die am schwersten belasteten. Das galt selbst für die mit der Volksrepublik Polen verbündete DDR. Bis weit in die sechziger Jahre war die "Freundschafts- und Friedensgrenze" hermetisch abgeriegelt und stark bewacht.

Ein spontaner Gefühlsausbruch

Die von der CDU geführten Bundesregierungen hatten die Oder-Neisse-Linie nicht als polnische Westgrenze anerkannt, sondern hatten auf illusionären territorialen Ansprüchen beharrt. Erst die SPD, mit Willy Brandt in der Großen Koalition als Außenminister, wagte sich an diese Frage. Egon Bahr entwickelte die Neue Ostpolitik mit dem Leitgedanken "Wandel durch Annäherung". Die Regierung Brandt erkannte dann die 1945 in Potsdam von den alliierten Siegermächten beschlossene territoriale Neuordnung Europas an. Gleichzeitig versuchte sie, die Teilung Europas und vor allem Deutschlands durch den Eisernen Vorhang abzumildern und zu überwinden.

Brandt schrieb später: "Der Schlüssel zur Normalisierung lag in Moskau." Um zu einer Verständigung mit Polen und einer Verbesserung der Beziehungen zur DDR zu kommen, nahm Egon Bahr in Moskau Verhandlungen auf. Am 12. August 1970 unterzeichneten Brandt und der sowjetische Ministerpräsident Alexej Kossygin den "Moskauer Vertrag", in dem die Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen festgestellt wurde. Ähnlich kurz - und auf einen Gewaltverzicht und das Akzeptieren der europäischen Grenzen beschränkt - war auch der Warschauer Vertrag, den Brandt am 7. Dezember 1970 in Warschau nach dem Kniefall unterzeichnete.

Schon bald nach dem symbolträchtigen Niederknien kam die Frage auf: War der Kniefall eine lange überlegte und kalkulierte Aktion? Hansjakob Stehle, damals Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", stand ein paar Meter von Brandt entfernt und weist dies entschieden zurück: "Nein", sagte er, "es war ein spontaner Gefühlsausbruch."

Durfte Brandt knien?

Brandt selbst hat es Zeit seines Lebens für sich behalten, wie und wann er genau auf die Idee kam, vor dem Mahnmal niederzuknien. In seinen "Erinnerungen" schrieb er lediglich: "Ich hatte nichts geplant, aber Schloss Wilanow, wo ich untergebracht war, in dem Gefühl verlassen, die Besonderheiten des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen. Am Abgrund der Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt."

In seinen Memorien zitiert Brandt auch den SPIEGEL-Reporter Hermann Schreiber. Der schrieb über die Szene am Denkmal: "Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien - weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können."

"In der Bundesrepublik", so erinnerte sich Brandt, "fehlte es weder an hämischen noch an dümmlichen Fragen, ob die Geste nicht überzogen gewesen sei." Der SPIEGEL, auf dessen Cover ein Foto des knienden Kanzlers prangte, gab beim Allensbacher Institut eine Umfrage in Auftrag: "Durfte Brandt knien?"

Der bessere Deutsche

Von den Befragten meinten 41 Prozent, die Geste sei angemessen gewesen, 48 Prozent hielten sie für übertrieben. Nur bei der Gruppe der 16 bis 29 Jahre alten fand Brandt mit knapper Mehrheit Zustimmung. 42 Prozent hielten den Kniefall für übertrieben und 46 Prozent für angemessen.

Für viele der Jüngeren kam die Wahl des Antifaschisten Brandt zum Kanzler fast einer Neugründung der Bundesrepublik gleich. Konrad Adenauer hatte mit Hans Globke einen einstigen Antisemiten und Nazi zum Staatssekretär in seinem Kanzleramt berufen; Brandts direkter Vorgänger, der CDU-Mann Kurt-Georg Kiesinger, war Mitglied der NSDAP gewesen. Der Sozialdemokrat Brandt, der den Nationalsozialismus im norwegischen Exil überlebt hatte, war für die Jugend der bessere Deutsche.

Ähnlich wie bei der bundesdeutschen Jugend fand Brandt auch in der westlichen Welt große Zustimmung. Das US-Magazin "Time" kürte ihn kurz nach dem Kniefall zum "Man of the Year". Ein Jahr später bekam er - als bis heute einziger Deutscher seit dem Zweiten Weltkrieg - den Friedensnobelpreis verliehen. Während Fotos des Kniefalls von Warschau in allen westdeutschen Zeitungen gedruckt wurden, veröffentlichte in Polen nur ein kleines, auf Jiddisch geschriebenes Blatt ein Bild.

Seit Dezember 2000 existiert in Warschau ein Willy-Brandt-Platz mit einem Denkmal, das an die große Geste erinnert. 
von Michael Sontheimer

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