spiegel.online.de, 11:16 Uhr, 17.03.2011
S.P.O.N. - Im Zweifel links - Das Märchen von den sieben Meilern
Kommentar von Jakob Augstein
Wenn einer das Richtige aus den falschen Gründen tut, ist Misstrauen angebracht: Angela Merkel hat schnell (ab)geschaltet. Sie fürchtet nicht Gefahren der Atomkraft, sondern die Gefahren des Machtverlusts.
Moratorium kommt vom Lateinischen morari - zögern, aufschieben. Und aufgeschoben ist eben nicht aufgehoben. Angela Merkel hat gesagt: "Die Lage nach dem Moratorium wird eine andere sein als die Lage vor dem Moratorium." Das ist ein hübscher Sophismus der Philosophin im Kanzlerturm.
Man kann ihr gerne glauben: Die wichtigen Landtagswahlen werden vorüber sein und Japan wird nach aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr die Nachrichten beherrschen. In drei Monaten wird sich der deutsche Panikbürger ein anderes Thema gesucht haben, um sein erregbares Gemüt zu erhitzen. Und im Schatten der Sommerpause werden die Meiler wieder ans Netz gehen.
Vor einem halben Jahr hatte Angela Merkel den "Herbst der Entscheidungen" ausgerufen - das war eine Art künstlicher Erotisierung des politischen Prozesses, die überhaupt nur deswegen notwendig schien, weil Merkels Regierung bis dahin vor allem durch ziellosen Streit aufgefallen war. Eine dieser hektischen Entscheidungen betraf die Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke. Merkel erklärte die deutschen Meiler für sicher, die alten und die neuen. Es geht dabei um Leib und Leben der Menschen und um die Versorgung mit Energie. Das sind keine Kleinigkeiten. Es steht buchstäblich die Zukunft des Landes auf dem Spiel. Man hätte als Bürger schon gern, dass solche Fragen nach bestem Wissen und Gewissen entschieden werden, nach gründlicher Prüfung - und nicht nach kurzfristiger politischer Opportunität. Man hätte als Bürger gern, dass die politische Führung Verantwortung für ihre Entscheidungen übernimmt und trägt.
Die Kanzlerin schert sich nicht um ihr Geschwätz von gestern
Was hat sich in Biblis oder in Philippsburg, in Neckarwestheim oder an der Isar ereignet, das Merkels Einschätzung des vergangenen Herbstes in Frage stellt? Leben wir in einer magischen Welt, in der die Explosion eines Kernkraftwerks in Japan verborgenen Einfluss auf ein Kernkraftwerk in Deutschland hat? Nein, es ist einfacher als das: Wir leben in einer Welt, in der die Bundeskanzlerin sich nicht um ihr Geschwätz von gestern schert und mit gutem Grund auf das kurze Gedächtnis der Bevölkerung setzt.
Florian Illies hat in der "Zeit" geschrieben: "Weil die Welt gesehen hat, wie ein Atomkraftwerk explodiert, ist der Glaube an die Beherrschbarkeit der Technik zerstört." Das ist ein frommer Wunsch. Er setzt auf eine Schlüssigkeit zwischen Wirklichkeit, Wahrnehmung und Handeln, die weder bei den Wählern noch bei den Politikern vorliegt. Der Glaube an die Beherrschbarkeit der Technik war immer nur das - ein Glaube. Mit Vernunft hatte das nie etwas zu tun. Und es gibt schlicht keinen Anlass zu der Vermutung, dass die Menschen aus der Vergangenheit lernen.
Die Katastrophe ist nicht planbar
Eine Katastrophe ist das unerwartete Zusammentreffen unerwarteter Umstände. Die Katastrophe ist per definitionem nicht planbar. Es bleibt ein Restrisiko. Im Fall der Atomkraft ist das nicht akzeptabel, darum ist die Atomkraft nicht akzeptabel. Es galt immer schon, dass eine kleine Wahrscheinlichkeit multipliziert mit unendlichen Schäden ein ethisches Nullum ergibt, etwas, das von keinem Menschen zu verantworten ist, eine untragbare Verantwortung.
Die Politik hat sich darüber hinweggesetzt weil billige Energie hohen Lebensstandard bedeutet. Die Nutzung der Atomkraft ist ein fortgesetzter Bruch der Vernunft. Das alles kann man, wenn man will, seit 1954 wissen, als in der Nähe von Moskau das erste Kernkraftwerk ans Netz ging.
Nein, Merkel ist keineswegs von den Gefahren der Atomkraft beeindruckt, sondern von der Gefahr des Machtverlusts. Die Wahl in Baden-Württemberg könnte für sie werden, was die Wahl in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2005 für Gerhard Schröder war: Der Anfang vom Ende. Also muss Stuttgart gehalten werden, um jeden Preis, auch um den der eigenen Schlüssigkeit. Die Schnelligkeit, mit der sie (ab)geschaltet hat, ist atemberaubend.
Margret Thatcher hat über sich selbst einmal gesagt: "This lady is not for turning", Kehrtwenden seien von ihr nicht zu erwarten. Man hat sie darum die "Iron Lady" genannt. Das wird Merkel nicht passieren. Unsere Kanzlerin ist nicht aus Eisen, sondern aus Pudding.