spiegel-online, 09:51 Uhr, 05.05.2011
Bin Laden, der Sieger
"Im Zweifel Links" Kommentar von Jakob Augstein
Als Revolutionär gescheitert, als Terrorist erfolgreich: Osama bin Laden hat dem Westen sein grausames Gesetz der Rache aufgezwungen - und der Westen hat dem nicht genug entgegensetzen können.
Hat jemand im Ernst damit gerechnet, dass Osama Bin Laden lebend gefasst wird? Dass er einst wie Rudolf Heß in Spandau als letzter Gefangener in Guantanamo sitzen würde? Nein, ein Revolutionär endet nicht als Rentner. Und ein Revolutionär war er ja, wenn auch einer des Bösen. Der Terrorist trägt seinen inneren Schrecken nach Außen. Der Selbstmordattentäter ist die schreckliche Vervollkommnung dieses Prinzips. Wenn das Selbst ganz vernichtet ist, geht mit der Achtung vor dem eigenen Leben auch die Achtung des anderen Lebens verloren.
Eine 21-jährige Frau geht auf Krücken gestützt auf einen Militärposten zu, sie humpelt. Als die Soldaten sie überprüfen wollen, zündet sie den Sprengstoffgürtel, den sie am Leib trägt. Am Abend zuvor hat sie ein Video aufgenommen, in der einen Hand ein Gewehr, in der anderen ihr Baby, das sie noch stillte. Fünf Menschen starben so im Januar 2003 am Grenzübergang Erez. Osama Bin Laden hat diese Form des Mordens nicht erfunden. Aber er hat sie verkörpert. Dagegen lässt sich kein Krieg führen.
Nur Frieden. Darin hat der Westen versagt.
Im Oktober 2001 schrieb die indische Autorin Arundhati Roy, dass Osama Bin Laden "der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten" sei. Zur selben Zeit - da hatte der Krieg gegen den Terror noch gar nicht richtig begonnen - schrieb Botho Strauß, jetzt breche der "Kampf der Bösen gegen die Bösen" an. Das waren schwer erträgliche Worte so kurz nach den Angriffen auf New York und Washington, als die Leichen noch unter den Trümmern lagen. Aber es war die Wahrheit.
Zehn Jahre danach wissen wir, wie das ist, wenn das Böse mit dem Bösen bekämpft wird. Wir haben die Gefolterten von Abu Ghuraib gesehen, die Gefangenen von Guantanamo, die Getöteten des Drohnenkrieges. Diese Bilder werden für immer neben denen der brennenden Zwillingstürme von New York stehen.
"Respekt für die gelungene Kommandoaktion"
Der Westen hat sich die Logik der Rache aufzwingen lassen und hat dem viel zu wenig entgegengesetzt. Angela Merkel sprach dem amerikanischen Präsidenten "Respekt für die gelungene Kommandoaktion" aus. Respekt dafür, dass ein unbewaffneter alter Mann, der von Frauen und Kindern umgeben war, von 79 Elitesoldaten überfallen und erschossen wird. Dieser alte Mann war ein Massenmörder und seine Resozialisierungschancen standen nach unseren Maßstäben schlecht. Aber es ist bemerkenswert, dass selbst die Bundeskanzlerin so wenig Wert auf unsere Maßstäbe legt.
Der Tod Osama Bin Ladens ist, wie die Angriffe auf New York und Washington annähernd zehn Jahre zuvor, eine Wegmarke entlang der schwierigen Entwicklung, die das Verhältnis zwischen der westlichen Welt und dem Islam genommen hat, die seit langem währt und die nun nicht an ihr Ende kommen wird.
Der "Orient" dient uns seit langer Zeit als sehnsüchtig gefürchtetes Spiegelbild. Und umgekehrt: Der Westen, der mit seiner eigentümlichen Mischung aus Pornos und Pressefreiheit, aus Coca Cola und Cruise Missiles daherkommt, mit seinem Übermaß an Arroganz und seinem Mangel an Respekt, ist ein passendes Feindbild für die Mühsamen und Beladenen, von denen es in den muslimischen Ländern mehr als genug gibt.
Dafür ist nun allerdings der Westen nicht verantwortlich. Zu viele Menschen in der muslimischen Welt werden unterdrückt. Die prowestlichen Regime unterdrücken sie und die antiwestlichen auch. Ob die Geheimpolizei im Dienst des Korans foltert oder im Dienst der CIA spielt für das Opfer eine nachrangige Rolle. Auf diesem Boden der Wut konnte die böse Saat Osama Bin Ladens aufgehen. So erfolgreich er als Terrorist war, so sehr ist er aber als Revolutionär gescheitert. Wie es häufig ist, wenn der Intellektuelle als Revolutionär auftritt: er versteht es eine Weile lang, die Massen in seinen Bann zu ziehen. Aber es fehlt ihm am Ende das Verständnis für die Bedürfnisse der Massen.
Es ist Bin Laden nicht gelungen, die arabische Revolution auszulösen, von der er wohl geträumt hat. Die ist in Nordafrika vor kurzem von ganz allein ausgebrochen, ohne Terrorismus. Und was die Leute da verlangen, ist das Gleiche wie auf der ganzen Welt: Freiheit.