Karl Nolle, MdL

spiegel-online.de, 25.08.2011

Soziale Ungerechtigkeit: Erhöht die Steuern!

Von Jakob Augstein
 
Deutschland ist ein ungerechtes Land, die Spaltung zwischen Arm und Reich nimmt zu. Doch wir können uns nicht aus der Krise sparen. Wenn wir unsere Demokratie retten wollen, müssen wir die Steuern erhöhen.

Die Krise ist der Wendepunkt. Der Begriff stammt aus der Medizin. Wenn die Krankheit am schlimmsten ist, entscheidet sich die Zukunft des Kranken. Der Arzt tut, was er kann und sieht dann zu, wie auf die Krise die Genesung folgt oder der Tod. Wie unser Tod aussehen kann, wissen wir seit den Aufständen in London. Uns droht die soziale Anomie. Der Zerfall. Unser eigenes Somalia. Um dem zu entgehen, braucht es eine Anstrengung aller Kräftigen. Ein Umsteuern des Systems. Es war die Politik der Ungerechtigkeit, die uns in die Krise geführt hat. Wenn wir sie fortsetzen, werden wir daran zugrunde gehen. Es ist höchste Zeit, die Krise als Chance zum Kurswechsel zu erkennen. Es ist höchste Zeit, die Steuern zu erhöhen.

Deutschland ist ein ungerechtes Land. Das ist eine Tatsache, keine linke Ideologie. Unser System führt zu einer "Umverteilung von Arm zu Reich". Der Verfassungsrechtler und Steuerexperte Paul Kirchhof, den Angela Merkel einst zu ihrem Finanzminister machen wollte, hat das vor wenigen Tagen so formuliert. Wenn unser politisches System auf Dauer überleben soll, muss sich daran etwas ändern.

Ein paar Zahlen? Die bestverdienenden 5000 Haushalte haben seit Mitte der neunziger Jahre ihren Anteil am Gesamteinkommen um etwa die Hälfte gesteigert. Gleichzeitig sind die realen Einkommen aller Deutschen in dieser Zeit etwa gleich geblieben. Die Nettolohnquote - also der Anteil der Löhne am Volkseinkommen - lag im Westen Deutschlands bis in die achtziger Jahre noch bei 44 Prozent. Zehn Jahre später waren es noch knapp über 38 Prozent. Heute sind es etwa 35 Prozent. In der gleichen Zeit ist der Anteil der Einkommen aus Gewinnen beständig gestiegen.

Da sind gewaltige Umverteilungen im Gange. All das ist lange bekannt. Aber wir sehen dem tatenlos zu. Warum eigentlich? Weil die Ideologie der Privatisierung, die Ideologie des staatlichen Rückzugs, die Ideologie des Neoliberalismus die veröffentlichte Meinung nun schon für die Dauer einer ganzen Generation benebelt hat.

Jetzt geht nur noch: Steuern erhöhen oder sparen

Aber die Ideologie hat Risse bekommen. "Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik", hat Frank Schirrmacher geschrieben. Es ist nicht die Stärke des linken Arguments, die den Kapitalismus in die Knie zwingt. Der Kapitalismus ist so lange gewachsen, bis er den Punkt der Unvereinbarkeit mit der Demokratie erreicht hat. Wir leben zusehends in einem System, in dem die Wenigen profitieren, die Vielen nicht. In der Demokratie werden aber die Vielen alle paar Jahre als Wahlvieh gebraucht. Sie sollen ihre Stimme abgeben - und dann schweigen. Dafür zahlt der Staat ihnen die - spärlicher werdenden - Alimente aus den Sozialtöpfen. Aber woher soll das Geld kommen, wenn die Reichen und die Unternehmen immer weniger Steuern zahlen und ihr Geld für sich behalten und die Armen gar keine Steuern zahlen, weil sie kein Geld haben? Die Antwort lautet: Schulden. Die Schulden sind der Preis, den die Staaten dafür zahlen, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Dieses System ist jetzt an sein Ende gekommen.

Die Reichen schonen und die Armen besänftigen - das wird nicht mehr gehen. Jetzt geht nur noch: Steuern erhöhen oder sparen.

Wenn die Staaten sparen, wird die Ungerechtigkeit weiter zunehmen: Schulen, Schwimmbäder, Bücherhallen, Krankenhäuser - wer Geld hat, ist nicht darauf angewiesen, dass solche öffentlichen Einrichtungen in gutem Zustand sind. Alle anderen schon. Der Strom der Wut wird wachsen. Wir können uns vorstellen, wohin er fließt: nach rechts. Wenn die Staaten sparen, werden sie das System nicht in Richtung Demokratie reformieren, sondern es in Richtung Autokratie deformieren.

Um unsere Gesellschaft zu retten, gibt es nur einen Weg: Steuern rauf. Der Spitzensteuersatz ist in Deutschland so niedrig wie nie. 53 Prozent oder 56 Prozent waren früher normal. Heute sind es 42 Prozent. Wer alle Ausnahmen geltend macht, zahlt knapp über 30 Prozent. Das ist Wahnsinn. Der Staat kann es sich nicht mehr leisten, auf das Geld der Reichen zu verzichten. Der Berliner Finanzwissenschaftler Giacomo Corneo fordert für Spitzenverdiener einen Steuersatz von 66 Prozent. Recht hat er.

Karl Nolle im Webseitentest
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