DNN/LVZ, 14.10.2011
Dünne Beweislage
Neonazi-Blockaden: Linken-Fraktionschef Hahn droht nach Aberkennung der Immunität ein Prozess
Dresden. Neben anderen Spitzenpolitikern der Linken droht Sachsens Fraktionschef André Hahn ein Prozess. Grund: Er soll Blockaden gegen Neonazis in Dresden organisiert haben. Doch die Beweislage ist dünn.
Die Entscheidung fiel am späten Mittwochabend. Nach stundenlangen Debatten, nach Auszeiten, Zwischenreden und viel Tamtam zogen die Abgeordneten von Schwarz-Gelb das durch, was seit Tagen feststeht: Hahn, Chef der zweitgrößten Landtagsfraktion, soll der Prozess gemacht werden - als einem von vier Rädelsführern bei den Krawallen. Entnervt wegen der Marathonsitzung, aber geschlossen votierten die Koalitionäre schließlich für die Aufhebung der Immunität, gegen den Rest der Opposition - gemeinsam mit der rechtsextremen NPD (diese Zeitung berichtete in einem Teil der Auflage).
Dabei stand der Fall selbst nicht mehr zur Debatte, nur Hahn durfte noch zehn Minuten erklären, warum ihm das missfällt. "Ich bleibe dabei: Es war und es ist richtig, sich gegen derartige Aufmärsche mit friedlichen Mitteln zur Wehr zu setzen", gab er zu Protokoll. Und: "Ich werde im nächsten Jahr wieder dabei sein." Intern aber war die Entscheidung längst gefallen. Damit ist der Weg frei für die Dresdner Staatsanwaltschaft, die Anfang November Anklage erheben oder einen Strafbefehl erlassen will.
Die vermeintliche Tat liegt über eineinhalb Jahre zurück. Am 13. Februar 2010 hatte die rechtsextreme Junge Landsmannschaft Ostdeutschland wie üblich am Jahrestag der Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg zum Marsch durch die Landeshauptstadt geblasen. Schon damals war für die Staatsanwaltschaft klar, dass eine Blockade der genehmigten Kundgebung gegen das Versammlungsgesetz verstößt - eine Straftat. Wie über 10000 andere Menschen auch demonstrierte Hahn dennoch gegen den Aufmarsch. Am Ende war der Sammelpunkt der Neonazis am Neustädter Bahnhof wegen der Masse der Gegendemonstranten faktisch dicht.
Das soll jetzt geahndet werden. Im Fokus stehen neben Hahn drei weitere Linke, die Fraktionschefs in Thüringen und Hessen, Bodo Ramelow sowie Janine Wissler und Willy van Oyen. Dabei ist die Beweislage dünn, vor allem im Fall Hahn. Denn der hatte zum Zeitpunkt des Neonazi-Aufmarsches längst die Neustadt verlassen und sich in eine Menschenkette auf der anderen Elbseite eingereiht - neben Regierungschef Stanislaw Tillich (CDU). Gleichzeitig war mit Klaus Tischendorf aber in der Tat ein sächsischer Spitzenlinker vor Ort. Hier wurden die Ermittlungen eingestellt, Ermittler bescheinigen ihm gar ein "anerkannt sittliches Motiv". Doch damit nicht genug, auch die Grundlage für das Vorgehen ist umstritten - gelinde gesagt. Denn das sächsische Versammlungsgesetz greift nicht, weil es vom Verfassungsgericht kassiert worden war; das Bundesversammlungsgesetz ist laut juristischem Dienst des Bundestages aus formalen Gründen ebenso untauglich. Und: Ohne Gesetz kein Urteil.
Endgültig prekär wird die Strafverfolgung aber aus einem weiteren Grund: Die Dresdner Staatsanwälte verweisen ausdrücklich auf die spezielle politische Funktion eines Fraktionschefs. Im Strafrecht geht es stets um konkrete Taten, nicht um die Maßregelung gewählter Funktionsträger in einem Parlament. Eben dem soll die Immunität von Abgeordneten einen Riegel vorschieben.
So droht Sachsen jetzt ein politisches Fiasko. Sollte es zur Anklage kommen, wären Hahn Auftritte quer durch die Republik sicher - und nicht zuletzt in Großbritannien, Israel oder den USA.
von Jürgen Kochinke