Karl Nolle, MdL

Der Spiegel, 47/2011, Seite 18, 20.11.2011

Der braune Terror

Seit 1990 sind in Deutschland über 140 Menschen Opfer rechtsradikaler Gewalttäter geworden. Die Öffentlichkeit hat sich an den Terror gewöhnt. Die Mordserie des thüringischen Neonazi-Trios macht klar, dass der Staat auch von rechts herausgefordert wird.
 
Das Opfer hatte noch spät etwas getrunken, das war sein Verhängnis. In der Nacht vom 24. zum 25. November 1990 saß Amadeu Antonio mit Freunden im Hüttengasthof, einer Gaststätte mit angeschlossener Discothek im brandenburgischen Eberswalde. Kurz nach Mitternacht ging beim Wirt ein Anruf der Polizei ein, er möge seine Gäste nach Hause schicken, ein Trupp Skinheads sei auf dem Weg zur Kneipe. Doch das half dem in Angola geborenen Fabrikarbeiter nicht mehr.

"Da sind die Neger", rief einer aus der Gruppe, die seit dem Nachmittag grölend und randalierend durch den Ort gezogen war, 40 bis 60 junge Männer in Springerstiefeln und Bomberjacke, einige mit Baseballschlägern und Zaunlatten bewaffnet. Antonio wurde von zwei Faustschlägen in den Magen getroffen, er stürzte und versuchte sich wieder aufzurappeln, aber da war die Gruppe schon über ihm. Die Schläger zerrten ihn hoch und warfen ihn hin und her wie einen Sportball. Als der Malträtierte erneut zu Boden ging, traten sie auf ihn ein, bis er regungslos auf der Straße liegen blieb. Zwei Wochen später erlag der junge Mann auf der Intensivstation des Klinikums Berlin-Buch seinen schweren Kopfverletzungen.

Amadeu Antonio ist eines der ersten Opfer rassistischer Gewalttäter im wiedervereinigten Deutschland. Mit seinem Tod wird der Terror von rechts offensichtlich, auch wenn der Staat das lange nicht so sehen wollte. Fünf Tatbeteiligte wurden im September 1992 vor dem Bezirksgericht Frankfurt (Oder) wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt; die höchste Verurteilung waren vier Jahre Jugendstrafe, ein Täter kam mit zwei Jahren auf Bewährung davon.

Als strafmildernd werteten die Richter die "allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Umstände" nach der Wende. "Wo früher Staat und FDJ bis in die Freizeit alles regelten, waren die jungen Menschen infolge des politischen Umbruchs orientierungslos geworden", heißt es in dem Urteil.

20 Jahre sind seitdem vergangen, viel Zeit, aus den Fehlern zu lernen. Jedes Jahr fließen 24 Millionen Euro in die Gewaltprävention, der Verfassungsschutz hat inzwischen so viele V-Leute in der rechten Szene versammelt, dass ein NPD-Verbot am Einspruch des Bundesverfassungsgerichts scheiterte. Aber der Terror von rechts hat nicht geendet, im Gegenteil, er ist eskaliert. Man kann auch sagen: Er ist alltäglich geworden.

Auf mindestens 137 Tote kommen Fachleute, die sich die Mühe machen, alle Opfer zwischen 1990 und 2008 zusammenzutragen. 137 Menschen, die ums Leben kamen, weil sie die falsche Hautfarbe hatten oder einen anderen Akzent oder weil sie im rechtsradikalen Weltbild einfach als überflüssig gelten. Sie wurden zusammengetreten, erstochen, angezündet; einer wurde totgetrampelt und in der nächsten Jauchegrube versenkt.

Es ist eine schreckliche Blutspur, die sich durch die Republik zieht. Und das vielleicht Unheimlichste an ihr ist: Nur wenige nahmen sie bislang zur Kenntnis. Es ist lange her, dass in Deutschland Lichterketten für die Opfer rechter Gewalt brannten. Man musste den Eindruck gewinnen, Politik und Öffentlichkeit seien mit Wichtigerem beschäftigt gewesen als mit dieser Form mörderischer Alltagsgewalt. Vielleicht hat aber auch einfach niemand außerhalb eines kleinen Kreises engagierter Bürger den Zusammenhang gesehen, den Hass, der alle Taten verbindet.

Nun ist die Republik aufgeschreckt. Seit aus dem Untergrund eine rechtsextreme Terrorgruppe auftauchte, von der man jetzt weiß, dass sie über Jahre quer durch Deutschland Jagd auf türkische Händler machte, fragen sich die Ermittlungsbehörden, wie sie übersehen konnten, was eigentlich nicht zu übersehen ist.

Das Entsetzen ist groß. Von einer "Schande für Deutschland" spricht die Bundeskanzlerin, der Bundesinnenminister warnt vor einem "enormen Schaden für das Vertrauen in unsere Sicherheitsbehörden". Am Dienstag wird sich der Bundestag mit dem Thema beschäftigen. Am Freitag vergangener Woche tagte ein großer Krisengipfel in Berlin. Beraten wurde alles, was sich schnell auf den Weg bringen lässt: ein neues "Abwehrzentrum" gegen rechtsextreme Gewalt, mehr Personal für die Spezialabteilungen bei Polizei und Staatsanwaltschaften, eine Wiederaufnahme des NPD-Verbots. Die Regierung versucht zu beruhigen, auch sich selbst

Denn die Fragen, die gestellt werden, gehen über den Fall der Jenaer Attentäter hinaus. Während die Ermittlungsbehörden noch ausleuchten, mit wem die Terrorzelle in Verbindung stand, welche anderen Straftaten sie möglicherweise begangen hat und welche Hintermänner dabei halfen, haben sich die Politiker bereits der Frage nach der Verantwortung für das Debakel zugewandt.

"Die Frage ist: Haben hier Einzelne versagt oder das ganze System?", sagt die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Für den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, ist schon jetzt klar, dass die Schuld nicht allein bei den Behörden liegt: "Während man die Brandanschläge auf Autos in Berlin von konservativer Seite sofort zum Linksextremismus erklärte, hat man die Gefahr durch rechten Terror nicht wirklich zur Kenntnis nehmen wollen."

Natürlich gibt es gravierende Unterschiede zwischen linkem und rechtem Terror. Der politische Terror von rechts hat in Deutschland nie über die Logistik oder Sympathisantenszene einer RAF verfügt, die zumindest in ihren Anfangstagen bis in die Wohnzimmer des aufgeklärten Bürgertums reichte. Auch fehlt den rechtsradikal gesinnten Attentätern der Hang zur Theorieproduktion, der die akademische Vorbildung vieler Linksterroristen verriet.

Aber es gibt mehr als eine Art, den Staat herauszufordern, wie sich zeigt. Man kann seine Repräsentanten angreifen, das ist der Weg, den die RAF ging. Man kann aber auch Gebiete abstecken, in denen der Staat sein Gewaltmonopol verliert, und damit die Gesetze der Zivilgesellschaft außer Kraft setzen.

Der rechte Terror hinterlässt selten Bekennerschreiben und keine seitenlangen Traktate, in denen für den Kampf gegen das System getrommelt wird. Die meisten Täter sind kaum in der Lage, ihre Gewaltakte in zusammenhängenden Sätzen zu begründen. Doch man soll sich nicht täuschen, auch dieser Terror hat eine Botschaft: Wer anders ist, wird totgehauen, heißt sie. Und: Bleibt weg, hier haben wir das Sagen.

Die Botschaft ist angekommen, das muss man hinzufügen. Wer im Westen Berlins lebt und leicht als Ausländer zu erkennen ist, meidet noch immer Fahrten in die östlichen Außenbezirke oder gar weiter. Amerikanern mit dunkler Hautfarbe wurde in Reiseführern schon vor längerem von einem Besuch bestimmter Regionen Ostdeutschlands abgeraten.

Der rechte Terror ist zufällig, aber er ist nicht wahllos, darin gleicht er dem der anderen Seite. Auch er sucht seine Opfer nach politischen Vorgaben aus: Ihn interessiert nicht, wie vermögend oder einflussreich jemand ist. Für ihn zählt, ob einer als "deutsch" durchgeht, wobei als tödliches Ausschlusskriterium neben der nationalen Herkunft auch die sexuelle Identität oder die Geburt als Jude gelten kann.

Jedes Gemeinwesen, dessen Bürger um ihr Leben fürchten müssen, weil sie einer bestimmten Gruppe angehören, ist in seinem Kernbereich getroffen. Die Frage ist also: Warum hat sich der deutsche Staat bislang von rechts nicht wirklich herausgefordert gefühlt?

Wer sich die Mühe macht, die Polizeiberichte zu lesen, dem kriecht ein Schauer über den Rücken. Jede Woche wird in Deutschland jemand von rechten Schlägern attackiert; oft ist es nur Zufall, wenn er mit dem Leben davonkommt. Doch in den offiziellen Zählungen tauchen viele Vorfälle nicht auf.

46 Tötungsdelikte von Rechtsextremen weist die Statistik der Bundesregierung für die Jahre 1990 bis 2008 aus. Daran haben auch die Recherchen eines Teams von Redakteuren der "Zeit" und des "Tagesspiegel" nichts geändert, die sich im vergangenen Jahr daran setzten, die "verschwundenen Opfer" ausfindig zu machen.

Auch 46 Opfer sind eine erschreckende Zahl. Sie ist immer noch größer als die Zahl der Toten, die der Terror der RAF hinterlassen hat, aber es ist eben nicht mehr ganz so furchtbar wie die andere Opferliste, die auf mindestens 137 Tote kommt. Nun müssen die 10 Opfer des Nazi-Trios hinzugerechnet werden.

Und selbst diese Zahl gibt nur ein unvollständiges Bild. Wie sehr der rechtsradikale Terror in manchen Regionen des Landes inzwischen den Alltag bestimmt, zeigt sich erst, wenn man andere Straftaten hinzunimmt, die Propagandadelikte und Anschläge, die nicht gleich in Mord und Totschlag enden. Brandenburger Ermittler haben das kürzlich exemplarisch für Zossen gemacht, eine kleine Stadt wenige Kilometer südlich von Berlin, in der eine Gruppe "Freie Kräfte Teltow-Fläming" (FKTF) jahrelang Angst und Schrecken verbreitete, bevor sie in diesem Frühjahr verboten wurde. Ein Auszug für die ersten drei Monate des vergangenen Jahres:

22. Januar 2010. Um 22.40 Uhr setzt ein 16-Jähriger das Haus der Demokratie in der Kirchstraße in Brand, das Gebäude brennt vollständig nieder. Als Motiv gibt der Täter bei der Vernehmung an, er habe sich bei den Mitgliedern der FKTF beliebt machen wollen.

27. Januar 2010. Bei einer Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag versammeln sich mehrere Störer in der Nähe des Marktplatzes. Als die Veranstalter damit beginnen, die Namen von Holocaust-Opfern zu verlesen, rufen sie "Lüge, alles Lüge", einige Personen zeigen den Hitlergruß.

16. Februar 2010. Sechs Mitglieder der FKTF müssen sich vor dem Amtsgericht wegen Verbreitung eines Flugblatts verantworten, das einen Grabstein zeigt mit der Aufschrift "BRD 1949-2009. Es ruhet hier in diesem Grab ein ganz erbärmlich feiger Staat".

28. Februar 2010. Unbekannte Täter sprühen an eine Grundstücksmauer in der Thomas-Müntzer-Straße mit hellblauer Farbe zwei Hakenkreuze, ein Hitler-Bild, die Buchstaben NS, wobei das S als Rune geschrieben ist, und das Wort "jetzt!"

7. März 2010. Eine Polizeistreife entdeckt an der Fassade des "Honig-Ladens" in der Berliner Straße ein Hakenkreuz und den Satz "Hagen du stirbst bald!" Mitinhaber des Geschäfts ist ein Mann, der sich in der Bürgerinitiative "Zossen zeigt Gesicht" engagiert und das monatlich erscheinende Informationsheft herausgibt. Er wird nach dem Vorfall unter Polizeischutz gestellt.

So geht es weiter, nicht nur in Zossen. Man muss nur genau hinsehen, um vom Einzelfall zu einer Struktur zu kommen.

Die seltsame Unwilligkeit, die Realität in den Blick zu nehmen, zeigte sich auch in den Urteilen. Dass Milde bei der Urteilsfindung nur als Schwäche des Staats verstanden wird, hat sich allerdings inzwischen weitgehend herumgesprochen. Einige Richter zögern dennoch, den politischen Hintergrund zu benennen.

Eine Ursache für die Zurückhaltung liegt im deutschen Rechtssystem. Der Bundesgerichtshof verlangt eine äußerst sorgfältige Begründung, wenn ein Gericht auf Mord aus "sonstigen niedrigen Beweggründen" erkennt. Das ist der Rechtsterminus, unter den ein Tötungsverbrechen aus politischen Motiven fällt. Bei Urteilen mit einer entsprechenden Begründung steigen die Chancen des Verurteilten, mit einer Revision durchzukommen, das wollen einige Richter offenbar vermeiden.

Nicht nur das Sicherheitsbedürfnis der Justiz schützt rechtsextreme Täter davor, auch rechts genannt zu werden. Mancherorts sind Politik und Polizei ein unheilvolles Bündnis bei der Verharmlosung des Rechtsextremismus eingegangen. Gerade im Osten des Landes sorgte lange ein falsch verstandener Heimatstolz dafür, dass man lieber wegschaute, als die Dinge beim Namen zu nennen.

Protokolle aus dem Untersuchungsausschuss des Landtags von Sachsen-Anhalt zur sogenannten Staatsschutz-Affäre geben einen Einblick, wie sich die Verharmlosung von oben nach unten durchsetzte. Drei Staatsschützer, die außergewöhnlich engagiert gegen die Rechten im Land vorgingen, waren 2007 von ihrem Chef belehrt worden, sie müssten ja "nicht alles sehen", wie sie aussagten. Zu viele registrierte rechtsradikale Straftaten würden "das Ansehen unseres Landes" schädigen; Kampagnen der Politik für mehr Zivilcourage seien doch nur Aktionen "für die Galerie".

Ein Zeuge berichtete, das Landeskriminalamt habe vom Innenministerium die Weisung erhalten, "die Fallzahlen zu bereinigen". Es habe Unstimmigkeiten darüber gegeben, welche Delikte als rassistisch motiviert einzutragen seien. So sei darüber gestritten worden, ob das Wort "Negerschlampe" oder der Satz "ich bringe dein Negerkind um" dazu ausreichten. 135 Fälle sollen allein in Sachsen-Anhalt auf diese Weise aus der Statistik gefallen sein.

Die rechtsextreme Szene, in der man Demokratie, Ausländer und alles Fremde hasst, schrumpft seit Jahren zumindest langsam, das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass der Anteil radikaler Aktivisten wächst. 25 000 Rechtsextreme zählten die Behörden 2010, 9500 davon gelten als gewaltbereit. Unter ihnen haben die sogenannten Autonomen Natio-

nalisten neuerdings besonderen Zulauf - meist junge Männer, die sich wie Linksautonome schwarz kleiden und deren Symbole kopieren.

Abseits des Alltagsterrorismus rechtsradikaler Schläger haben sich militante Neonazis seit 2007 auch im sogenannten Freien Netz zusammengeschlossen. Dass der politische Kampf auch mit Gewalt geführt werden muss, darüber sind sich die Mitglieder einig. Vor einer Neonazi-Demonstration in Dresden postete ein "Hugo" im internen Forum: "Wir haben uns überlegt, die Polizeiwache anzugreifen und abzufackeln!" An anderer Stelle wirbt ein Kamerad um Unterstützung im Kampf gegen das Weltjudentum: "Also morgen gegen 18 Uhr wird ne Aktion in Chemnitz spontan gegen Israel stattfinden." Wer dabei sein wolle, möge Fackeln und "Knaller" mitbringen.

Bislang wurden solche Ankündigungen gelegentlich als die typische Großtuerei rechtsextremer Wirrköpfe abgetan, das soll sich jetzt ändern. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP will den Verfassungsschutz umbauen und 16 Landesämter zu 3 oder 4 Behörden zusammenlegen. Innenminister Hans-Peter Friedrich plant ein neues Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus. Und gemeinsam diskutieren alle Parteien ein neues Verbotsverfahren der NPD.

Eine Auflösung hätte viele Vorteile: Die NPD müsste ihre Sitze in ostdeutschen Landtagen räumen, Konten würden eingefroren und Parteibüros geschlossen. Ihre Wahlkampfkosten würden der Partei nicht mehr aus Steuergeldern erstattet.

Doch viele Innenpolitiker erinnern sich noch gut an die Niederlage beim letzten Versuch, die Nationaldemokraten zu verbieten. Im Januar 2001 hatte die rot-grüne Bundesregierung einen entsprechenden Antrag gestellt, rund hundert Seiten umfasste die von dem damaligen Bundesinnenminister Otto Schily vorgelegte Begründung.

Noch ehe das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht richtig begonnen hatte, musste Schily einräumen, dass wichtige NPD-Funktionäre nebenbei für die Geheimdienste gearbeitet hatten. Damit war der Antrag durchgefallen, denn die Richter in Karlsruhe fragten sich, wie verfassungswidrig eine Partei sein kann, die auch von V-Leuten gesteuert wird.

Die Aussichten, dass es im zweiten Anlauf besserlaufen könnte, sind nicht gestiegen. Damals wie heute sollen etwa hundert NPD-Funktionäre heimlich die Verfassungsschutzämter mit Interna beliefern, an dieser Praxis hat sich wenig geändert.

Eines ist immerhin seit vergangener Woche auf höchster Ebene geklärt: die Frage, wie man am besten der Opfer des Nazi-Trios aus Thüringen gedenkt. Es soll ein Gespräch im Schloss Bellevue geben, mit anschließendem Fototermin. Der Bundespräsident selber hat auf einen schnellen Termin gedrängt

von Sven Becker, Stefan Breg, Markus Deggerich, Jan Fleischhauer, Gunther Latsch

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: