Karl Nolle, MdL

welt-online, 22.11.2011

Freya Klier: Das braune Erbe des Sozialismus

Schon zu Wendezeiten stand Freya Klier auf einer Mordliste der ostdeutschen Neonazis. Sie beschreibt deren Wurzeln in der DDR und erklärt, warum man trotzdem das Gespräch suchen muss
 
Schon zu Wendezeiten stand Freya Klier auf einer Mordliste der ostdeutschen Neonazis. Sie beschreibt deren Wurzeln in der DDR und erklärt, warum man trotzdem das Gespräch suchen muss

Im Jahre 1993 füllte der Bundesvorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, die zu dieser Zeit dünne westliche Personaldecke seiner Partei mit Kadern aus dem Osten auf. Für besonders förderungswürdig aber hielt er einen Professor, der zuvor langjähriges SED-Mitglied und Leiter des Bereiches Soziologie an der Sektion Wissenschaftlicher Kommunismus der Karl-Marx-Universität Leipzig war. Dieser wurde sächsischer Landesvorsitzender der rechtsradikalen Republikaner. Im Juni 1993 stand ein Parteitag in Augsburg an und mit ihm ein "Akt der nationalen Versöhnung".

Dementsprechend schwärmt der Parteichef von der DDR. Mal fand er: "Die DDR war viel deutscher als die Bundesrepublik. Hier herrschte noch Familiensinn und nicht diese Ellbogengesellschaft." Mal lobte er den "ordentlichen Stechschritt" in der DDR, mal deren "weitgehende Ausländerfreiheit". Diese Sichtweise teilte Schönhuber mit etlichen Bürgern der verblichenen DDR und vielen sozialistischen Genossen.

Dabei hatte Schönhuber noch gar nicht realisiert, was diese Genossen im Osten noch alles auf der Pfanne hatten: Einen über 40 Jahre gepflegten Antisemitismus sowie einen Zangengriff für die extreme Minderheit von Ausländern, die sich vorübergehend in der abgeschotteten DDR aufhalten durften. Denn es herrschte nach der millionenfachen Flucht von DDR-Bürgern ein solch permanenter Arbeitskräftemangel, dass die sozialistische Führung sich Ende der 70er-Jahre schweren Herzens entschloss, Kontingente von Vietnamesen und Mosambikanern hereinzulassen - für jeweils drei Jahre, dann wurden sie gegen die nächsten ausgetauscht.

"Fidschis und Mozis" aber waren in abgesonderten Wohntrakts untergebracht, die offiziellen Gaststätten waren ihnen verwehrt. Sie durften die Stadt nicht ohne Genehmigung verlassen, mussten in den Betrieben niedere Arbeiten verrichten und sollten gar nicht erst Deutsch lernen. Vor allem - und das lässt jeden Rechtsradikalen noch immer jubeln - standen ihre Frauen unter Abtreibungszwang. Gibt es ein rechtsradikaleres Programm? Die, die solches praktizierten, spielen heute Die Linke. Und schoben schon kurz nach dem Mauerfall dem Westen ihre eigenen praktizierten Miesheiten in die Schuhe.

Denn Rechtsradikalismus brach sich nun ungehindert Bahn. Im September 1990 veröffentlichte ich in der "Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung" meinen Essay über Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit, den ich in tiefen DDR-Zeiten verfasst hatte. Das brachte mir Platz acht auf der Mordliste der DDR-Neonazis ein, wie mir ein Aussteiger Jahre später eingestand. Ich hatte geschrieben, was in unserem durchorganisierten deutschen Blockwartsystem so passierte, als die "BRD" im Osten noch gar nicht präsent war.

Ich schrieb von den Vietnamesinnen und meiner alten jüdischen Freundin Johanna, die den Nazi, der sie 1935 vergewaltigt und in die Elbe gestoßen hatte, nun als Parteisekretär der SED vor sich sitzen sah. Ich schrieb von unserem kleinen antirassistischen Theaterstück, das ich 1986 mit zwei Berliner Jugendlichen einstudiert hatte, die aus einer deutsch-sudanesischen Studentenliaison hervorgegangen waren. Die Jungen wuchsen als "Nigger" und "Kohle" auf und mussten schließlich in eine Armeesondereinheit gesteckt werden, damit sie die NVA heil überstanden. Auch dieses Theaterstück studierten wir zu einer Zeit ein, da der antifaschistische Schutzwall uns noch vor den West-Nazis schützte. In plastischer Erinnerung stand mir jene Fascho-Horde, die im Oktober 1987 mit "Sieg Heil!" und "Juden raus aus deutschen Kirchen!" die Nachbarskirche überfallen und dort mit Flaschenhälsen auf fliehende Punker eingestochen hatte. Ein Jahr zuvor hatte ich mit ein paar Freunden Unterschriften gesammelt, um das Plattwalzen des jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee zu verhindern.

"Wir stehen vor einem Scherbenhaufen", schrieb ich 1990, "und haben Bilanz zu ziehen, die Bilanz einer unglaubwürdigen Gesellschaft. Im Jahr 1990 herrscht in den Städten der zerfallenden DDR ein Klima offener Gewalt." Kurz zuvor musste ich aus einem leeren S-Bahn-Abteil in Richtung Fahrerhäuschen fliehen, weil mich ein Pulk mit Springerstiefeln und Bomberjacken aufgrund meiner dunklen Haare als "Judenfotze" ausgemacht hatte. In Sicherheit wähnte ich mich erst, als ich West-Berliner Gebiet erreichte. Niemals hätte ich von einem Ost-Berliner Polizisten erwartet, geschützt zu werden.

Die Politik der herrschenden Sozialisten war der Dünger für Ressentiments gegenüber allem, was von der Norm abwich. So trübten nie Obdachlose das graue Straßenbild der DDR - wer nicht zu arbeiten gedachte, fand sich als Asozialer hinter Gittern wieder, wo er zur Arbeit gezwungen wurde, für einen Sklavenlohn. Für Behinderte gab es keine Schrägen, Integrationsschulen waren ein Fremdwort.

Schon unmittelbar nach dem Mauerfall sah ich, wie die verantwortlichen sozialistischen Genossen das ganze Thema dem "Westen", der "BRD", dem "Kapitalismus" unterzujubeln begannen. Ihre Propagandamaschine rotierte über die Jahre so massiv, dass heute ein Satz wie der von den "nach dem Mauerfall entwurzelten Jugendlichen" ebenso gesamtdeutscher Standard ist wie der von den tollen Kindergärten in der DDR. Gelernt ist gelernt. Gleichzeitig mutierten die Genossen selbst von der SED zur PDS und dann zur honigsüßen Partei Die Linke.

Wie viele Jahrzehnte halten und reproduzieren sich tief verinnerlichte Verhaltensmuster? Das Unbehagen von DDR-Bürgern galt ja jedem Abweichen von der Norm, grellen Haarfarben von Punkern ebenso wie "Negern" oder "Fidschis", Körperbehinderten oder auch nur Menschen mit einem ungewöhnlichen Hut auf dem Kopf. 1993 war ich in Berlin-Köpenick auf einer Bürgerversammlung, auf der den Bewohnern einer Eigenheimsiedlung rund ums Wendenschloss mitgeteilt wurde, es werde demnächst in ihrer Nähe ein Aufnahmeheim für bosnische Kriegsflüchtlinge entstehen.

Damals kannten die Ex-DDRler politische Korrektheit noch nicht, und so schlug dem Sozialstadtrat schon bei der Ankündigung der Hass von 300 Köpenickern entgegen. Wüst schrie zunächst alles durcheinander, dann setzte sich eine lautstarke Stimme durch: Den Menschen in den neuen Bundesländern ginge es schon schlecht genug. Man lehne es ab, diese "Schweine" - gemeint waren die Flüchtlinge - überhaupt hereinzulassen. In Brandenburg hat zwei Jahre später ein halbes Dorf gesammelt, um einen Jugendlichen zu bestärken, ein ausgebautes Asylbewerberheim abzufackeln. Der Kommentar eines Anwohners: "Besser vorher, als wenn die Menschen schon drin gewesen wären." Wie lange hält so etwas vor?

Heute denken viele Ex-DDR-Bürger immer noch so. Doch sind sie nicht mehr so blöd, das öffentlich zu äußern. Die Zungen haben sich in private Sphären zurückgezogen, dort erreichen sie die Jugendlichen an den Abendbrottischen. Mit dem Satz "Die Fremden nehmen uns die Arbeitsplätze weg" sind viele Kinder nach der Wende im Osten aufgewachsen. Und mit Verhaltensmustern, die keineswegs nur Ausländern gelten: Auch, wenn ein "Spasti geklatscht" oder ein Obdachloser zusammengetreten wird, geht nicht gerade ein Aufschrei durch die Häuserreihen zwischen Frankfurt an der Oder und Magdeburg, Rostock und Gera. 20 Jahre liegt der Umbruch nun schon zurück, und noch immer wählen in einigen Ortschaften fast 20 Prozent die NPD.

Seit den 90er-Jahren diskutiere ich in ostdeutschen Schulen über Diktatur und Demokratie, Toleranz und Fremdenfeindlichkeit. Eine der Zusammenkünfte, in einer Neuruppiner Berufsschule, mündete in einen schon öfter gehörten Satz, benickt wie eine kollektive Klage: "Wir sind hier überfremdet!" Als ich die etwa 60 Neuruppiner Berufsschüler bat, doch mal durch Handzeichen zu signalisieren, wer in dieser Runde nicht in Deutschland geboren sei, hob sich kein einziger Arm. Vielleicht hat sich keiner der Jugendlichen, denen ich begegnet bin, an rassistischen Überfällen beteiligt. Doch stellt sich die Frage, woher diese Schieflage in der Wahrnehmung kommt, wer den Boden dieses irrationalen Überfremdungsgefühls bereitet hat.

Vor wenigen Monaten, zum 50. Gedenktag des Mauerbaus, wartete die "Junge Welt" mit einer atemberaubenden Titelseite auf. Zu sehen waren die dumpfen Gesichter einer DDR-Kampfgruppe aus dem Jahr 1961: Vor der Brust die Waffe im Griff, blockierten die Genossen das Brandenburger Tor. Dann folgte der Dank für 28 Jahre Mauer! Die "Junge Welt" ist das Lieblingsblatt der Partei Die Linke und ihres Nachwuchses. Ich kann mich nicht entsinnen, dass einer ihrer Leser gegen diese Verhöhnung der Maueropfer protestiert oder gar das Blatt abbestellt hätte.

Diese Partei sollte endlich aufhören, zu heucheln, sondern sich dazu bekennen, dass sie den Boden für den Rechtsradikalismus im Osten stark mitbereitet hat. Ihren Mitgliedern sind Menschenleben nur dann wichtig, wenn sie sich politisch instrumentalisieren lassen. Und auch das schließt an eine alte DDR-Tradition an: Es war die "Junge Welt", die 1987 den Nazi-Überfall auf die Zionskirche erst dann aufgriff, als er im Westen hochkochte. Bei der Gelegenheit wurden allerdings auch wir Bürgerrechtler gleich mit in den Nazi-Topf geworfen. Es wäre verhängnisvoll zu unterschlagen, dass es selbst unter DDR-Bedingungen immer Menschen gab, für die Toleranz und Zivilcourage keine Phrase war. Auch im Osten standen Bürger tapfer vor Asylbewerberheimen, sich vor faustgroßen Steinen duckend, wenn von den zuständigen Ordnungshütern weit und breit nichts zu sehen war.

Es gibt diese Menschen, nur: Sie sind zu wenige, um geistiger Enge und Brutalität mit Aufklärung und breitem Widerstand entgegenzutreten. Noch immer fast vereinzelt kämpfen Pfarrer, Streetworker und kleine Bürgerinitiativen gegen klammheimliche Schadenfreude und eine Spirale des Schweigens. Ihre geringe Zahl verweist auf eine weitere Ursache für die unselige Gemengelage im Osten - den jahrzehntelangen Aderlass glaubwürdiger und bitter notwendiger Autoritäten. Denn auf geradezu verhängnisvolle Weise rächt sich bis zum heutigen Tag, dass sich unter den drei Millionen vergraulten DDR-Bürgern fast unsere gesamte kritische Intelligenz befand. Hier sind Generationen abgetragen worden. Und aus einem zurückbleibenden dumpfen Klima fliehen verständlicherweise nun auch die Glaubwürdigen der jüngeren Generation.

Hier könnten sich jetzt jene 68er verdient machen, die einst nicht zu den Verherrlichern der sozialistischen Diktatur zählten. Wir brauchen, um für uns selbstverständliche Grundwerte wie den Respekt vor dem Leben anderer Menschen auch in tristen Nestern glaubhaft zu vermitteln, in östlichen Jugendklubs und Schulen die Zeitzeugenarbeit jener Demokraten unter den Geflohenen, die mit Jugendlichen gut umgehen können. Ich weiß, dass dabei etwas herauskommt: Ich habe letztes Jahr in Greifswald mit rechtsradikalen Jugendlichen gearbeitet - mit der harten Sorte, die bereits im Knast gesessen hat. Wir werden nie alle erreichen, doch da gibt es eine große Reserve.

Die 68er, die ja heute in vielen Institutionen sitzen, sollten überlegen, in welche internationalen Projekte sie die "Dumpfbacken" einbinden könnten - ja, gerade die. Wir kritisieren die 68er gern. Nie aber dafür, dass sie das Mittun und Mitschweigen ihrer Eltern während der Nazi-Zeit nicht mehr von der Tagesordnung ließen. Das ist dieser Generation hoch anzurechnen, und davon sollte jetzt auch der Osten mehr profitieren. Denn bei uns gab es kein 1968, mehr noch: Die deutsche Kriegsschuld wurde kategorisch in den Westen abgeschoben, wo ja angeblich alle Nazis hingeflohen waren, wie jedes Schulkind Jahr für Jahr lernte. Nun wird auch die DDR-Geschichte zugeschwiemelt. An der nun zum zweiten Mal nicht aufgearbeiteten Vergangenheit krankt der Osten.

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: