Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 13:08 Uhr, 22.12.2011

Wulff-Affäre: Die reinigende Qual der Reue

Eine Kolumne von Jakob Augstein
 
Rechtzeitig zu Weihnachten enthüllt die Affäre Wulff die Beschädigung unseres politischen Systems. Der Zynismus der Macht von rechts und der Zynismus der Resignation von links untergraben unsere Demokratie. Wir brauchen eine neue Kultur der Wahrheit.

Ja, wir haben Wichtigeres auf dem Zettel als ein Klinkerhäuschen in Burgwedel bei Hannover. Ja, das hier ist eine provinzielle Affäre, in provinziellen Maßstäben mit provinziellen Beteiligten. Aber einer von ihnen ist Bundespräsident. Dadurch wird der kleine schmutzige Niedersachsen-Filz zur Staatsaffäre. Beispielhaft enthüllt sich in ihr die Beschädigung unseres politischen Systems. Die Werte, die ihm zugrunde liegen, werden von der rechten Seite nicht mehr ernst genommen und von der linken nicht mehr geglaubt. Auf Dauer ist das für die Demokratie gefährlich.

Rund 70 Prozent der Deutschen finden, Christian Wulff solle im Amt bleiben - aber nur 43 Prozent finden, dass er "in moralischen Fragen den richtigen Kompass hat". Wenn diese Zahlen stimmen, dann haben die Deutschen es aufgegeben, an ihren Präsidenten einen höheren Maßstab anzulegen als an sich selbst. Das ist beunruhigend. Wir müssen uns in der Disziplin der Empörung üben. Die Empörungsfähigkeit ist die Immunabwehr des politischen Systems. Wenn sie verlorengeht, verfällt der politische Körper.

Tatsächlich ist die Empörung selbst unter Verdacht geraten: dass es von da nicht mehr weit sei bis zum bigotten Tugendterror. Das ist die Gefahr, vor der Jan Fleischhauer hier zu Recht gewarnt hat: "Ein Franz Josef Strauß hätte es unter den herrschenden Moralnormen nicht einmal zum Kreisvorsitzenden gebracht. Wer das als Fortschritt betrachtet, sollte sich auch nicht beklagen, wenn seine Abgeordneten dann wie Buchhalter reden."

Die Glaubwürdigkeit wird nicht durch die Tat, sondern nach der Tat zerstört

Aber hier liegt ein Missverständnis vor. Es geht nicht um die Verherrlichung der Vergangenheitslosigkeit. Zumal wir mit einem wie Wulff gleich doppelt schlecht bedient sind, der mit Strauß nur noch die Auslegung von politischer Moral gemeinsam hat, nicht aber Intelligenz und Charisma. Ihre Kleinheit zeigen die Guttenbergs und Wulffs nicht in ihren Vergehen - denen in der Tat das Zeug zum großen politischen Skandal fehlt -, sondern erst danach, in ihrem Verhalten nach der Entdeckung. Guttenberg bestreitet bis heute, absichtlich plagiiert zu haben, und Wulff räumt immer gerade so viel ein, wie man ihm gerade nachweisen kann. Solche Politiker zerstören ihre Glaubwürdigkeit und überhaupt ihre Würdigkeit nicht durch die Tat, sondern nach der Tat.

Hugo Müller-Vogg, Mitautor des Wulff-Buchs "Besser die Wahrheit", wurde jetzt gefragt, warum denn Christian Wulff sich nicht als so anständig und aufrichtig erweise, wie er sich früher selbst gerne dargestellt hat. Der Journalist antwortete: "Wer das beantworten kann, hat Wulffs Persönlichkeit entschlüsselt. Ich kann es nicht. Ich kann es mir nur so erklären, dass er als Ministerpräsident in der Welt der Reichen und Schönen angekommen ist und daran Gefallen gefunden hat."

Da liegt die Wahrheit. Und der müsste sich Wulff stellen. So wie sich Guttenberg mit seinem Geltungsdrang befassen müsste, mit seinem Narzissmus. Natürlich bereitet das Mühe. Für sich und für die anderen. Und dann vielleicht sogar die echte Qual der Reue, die Kierkegaard "den bittersten Schmerz" genannt hat. Es ist für einen erwachsenen Mann keine Kleinigkeit, sich dem auszusetzen.

Andererseits wird ein Mann nie erwachsen, wenn er sich dem nicht aussetzt.

Der Philosoph Peter Sloterdijk hat die berühmte Zynismus-Definition aufgestellt: "Zynismus, als aufgeklärtes falsches Bewusstsein, ist eine hartgesotten-zwielichtige Klugheit geworden, die den Mut von sich abgespalten hat, alle Positivitäten a priori für Betrug hält und darauf aus ist, sich nur irgendwie durchzubringen." Das reicht für die Demokratie auf Dauer nicht aus. Ohne glaubwürdige Politik gehen der Demokratie die Demokraten aus. Aus Citoyens werden Verwaltungsbürger, die ihrem Zynismus noch freieren Lauf lassen, als die Politiker.

Dem rechten Machtzynismus steht ein linker Verzweiflungszynismus gegenüber. Eine wütende Resignation der zusammengepressten Lippen, die dem System bereits so tief misstraut, dass ihr selbst ein Rücktritt des Bundespräsidenten schon gleichgültig ist. Weil er nichts ändern würde. Man kann das nicht besser formulieren als in diesem Satz, der sich neulich in einer Debatte auf Freitag.de fand: "Es ändert sich im Grunde daran nichts, wenn im Schloss Bellevue jemand sitzt, der so aufrichtig ist, das Geld, das ich nicht habe, gar nicht anzunehmen." Ob Wulff oder ein anderer - für die, die ausgeschlossen sind, wo sich Geld, Politik und Medien zu Macht ballen, ist das ohne Bedeutung. Das ist die Analyse der Postdemokratie-Theorie. Danach leben wir längst in einem System, das den Souverän von allen wichtigen Fragen ausschließt und ihm als letzte Illusion des Einflusses nur noch den Ruf nach Rücktritt lässt.

Es wäre die Aufgabe der Regierung, die Menschen vom Gegenteil zu überzeugen. Aber die Regierung schleppt sich zusehends mühsamer von einer Affäre zur nächsten und hofft, dass über die Feiertage die Wucht der Fragen an Wulff nachlässt. Weil sich die Leute dann, wie die FAZ spöttelt, den "Freuden des Vergebens und Verdauens" zuwenden. Wie gleichgültig ihr Fragen der politischen Moral sind, hat Angela Merkel in der Affäre Guttenberg bewiesen als sie ihn im Amt halten wollte.

Seit sie im Amt ist, verbraucht diese Regierung mehr politische Substanz als sie erzeugt. Das gilt für die katastrophale Euro- und Europapolitik, für den deutschen Sonderweg in Libyen und für das innenpolitische Sittenbild einer gar nicht bürgerlichen Regierung. Die Wehrpflicht wurde abgeschafft, aber im konservativen Lager gelten die besten Tugenden junger Bundeswehrrekruten: Tarnen (Wulff), Täuschen (Guttenberg) und Abhauen (Köhler, von Beust, Koch). Merkel und ihre Männer schöpfen aus einem politischen und moralischen Reservoir, das andere vor ihnen gefüllt haben. Wenn sie so weitermachen, schöpfen sie es aus.

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: