spiegel-online.de, 18:51 Uhr, 15.03.2012
Fahndung nach Neonazis - Volle Kraft nach rechts
Bis die Zwickauer Terrorzelle aufflog, waren bundesweit mehr als 160 Rechtsextremisten untergetaucht. Dann erhöhten die Fahnder den Druck: Seit Januar wurden 46 von ihnen festgenommen. Doch bei der Bewertung der Straftaten fällt manch politisch motivierter Übergriff durchs Raster.
Hamburg - Sie verehren Adolf Hitler, huldigen ihn selbst dann mit ausgestrecktem Arm, wenn ihnen Handschellen angelegt werden, einer hat sich das Konterfei des Führers auf den bulligen Rücken tätowiert: Beispiele von Rechtsextremisten in Deutschland, nach denen seit vielen Jahren gefahndet wird; Fälle, die die Bundesregierung in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken auflistet.
Mit der Aufdeckung der rechtsextremen Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) kam die Frage auf: Wie ist es möglich, dass drei Rechtsextremisten wie Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt von 1998 bis November 2011 unentdeckt in der Illegalität leben konnten? Und vor allem: Wie viele Neonazis, die mit Haftbefehl gesucht werden, sind noch untergetaucht?
Die Antwort bekam die Linke auf ihre parlamentarische Anfrage: Demnach standen Anfang Januar bundesweit 160 Rechtsextremisten auf den Fahndungslisten - mit gültigem Haftbefehl. 37 von ihnen allein in Bayern und je 29 in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Gegen sieben Neonazis läuft auch eine internationale Fahndung. Diese Haftbefehle konnten bislang nicht vollstreckt werden, weil die Gesuchten untergetaucht sind. Seit wann sie verschwunden sind, ist nicht bekannt. Von den 160 Gesuchten konnten die Fahnder bis März bereits 46 Rechtsextremisten festnehmen.
Hat der Fall der Zwickauer Terrorzelle die Fahndung beschleunigt? Auf jeden Fall, sagt Oliver Platzer, Sprecher des bayerischen Innenministeriums. Seit dem 4. November vergangenen Jahres, als in Zwickau die Wohnung des rechtsextremistischen Trios in die Luft flog, sei die Fahndung intensiviert worden. Neben "gezielten Analysen" sei die rechtsextreme Szene erforscht und alle Polizeipräsidien sensibilisiert worden. Insgesamt seien von den 37 Flüchtigen in Bayern 14 gefasst worden.
Wer entscheidet, ob eine Straftat politisch motiviert ist?
Kriminalämter und Innenministerien werden sich nun angesichts des Fahndungserfolgs auf die Schulter klopfen - doch zugleich fühlen sich diejenigen bestätigt, die den Sicherheitsbehörden vorwerfen, zu lange zu wenig investiert zu haben in die Bekämpfung rechtsextremer Kriminalität.
Gleich nach Bekanntwerden des NSU-Sumpfes habe sie nach Neonazis, die per Haftbefehl gesucht werden, gefragt, sagt Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linken. Und das nicht zum ersten Mal. Nun präsentiere man stolz die Festnahmen. "Wenn der Druck da ist, geht es auf einmal."
Laut Innenministeriumssprecher Platzer sitzt jedoch nur ein Teil von den Gefassten momentan in Untersuchungshaft. In den anderen Fällen seien die Haftvoraussetzungen verfallen, weil die Flüchtigen, verurteilt zu Tagessätzen, den ausstehenden Geldbetrag beglichen hätten. Nicht alle Haftbefehle hätten sich auf politisch motivierte Straftaten bezogen, in Einzelfällen sei es um Diebstahl oder Verletzung der Unterhaltspflicht gegangen.
Auffällig ist, dass viele der nun festgenommenen und noch flüchtigen Rechtsextremisten aus den großen, westlichen Bundesländern kommen. Einige von ihnen werden wegen Betrug, Diebstahl oder Drogendelikten gesucht. In den meisten Fällen ist der Haftbefehl jedoch auf Straftaten ausgestellt wie Gewaltverbrechen, Volksverhetzung und andere szenetypische Delikte wie das Zeigen des Hitlergrußes oder das Tragen von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
Die Ermittler in Hamburg fahnden nach einem Flüchtigen, der einen Mann aus Ghana bedrohte, auf ihn einprügelte und dabei rief: "Ich bring dich um, Nigger." Ein weiterer Mann wird wegen Mordes gesucht. Ebenfalls per Haftbefehl sucht die Staatsanwaltschaft Amberg den Mann, der bei einem Konzert seinen Oberkörper entblößte und auf dem Rücken ein Abbild Adolf Hitlers eintätowiert hatte.
Zu den Flüchtigen gehören auch Personen, die grundlos Obdachlose zusammenschlugen, Nazi-Devotionalien verkauften oder Polizisten bei der Hausdurchsuchung oder spätestens auf der Wache eindeutig wissen ließen, dass sie Adolf Hitler "lieben", Juden "vergast" gehörten und "Deutschland den Deutschen" gehörte. Grundsätzlich keine Erkenntnisse hat die Bundesregierung über solche Fälle, in denen die Haftbefehle inzwischen verjährt oder bei denen der Haftgrund entfallen ist.
Wie viele V-Leute spionierten in der Thüringer Nazi-Szene?
Linken-Politikerin Jelpke kritisiert die Bewertung, welche Straftaten als "politisch motiviert" eingestuft werden. Die Staatsanwaltschaft Bamberg sucht beispielsweise nach einem Mann, der einen Türken würgte und dabei schrie: "So was wie ihr gehört vergast!" In der Statistik wird die Tat nicht als politisch motiviert geführt. Jelpke unterstellt den Behörden Schönfärberei und Verharmlosung und sieht dort die drohende Gefahr. "Es hat mit der Denke in unserer Gesellschaft zu tun", sagt sie. Rechtsextremisten könne man in Statistiken nicht als "normale Kriminelle" führen. "Gerade für Opfer rassistischer Straftaten und deren Angehörige ist es wichtig, wie die Täter beurteilt werden."
Ein Punkt, den auch Barbara John, Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer des NSU immer wieder anführt: "Es muss darum gehen, die Zivilgesellschaft bei ihrem Kampf gegen den Rassismus zu stärken", schreibt John in der "Jüdischen Allgemeinen". Den Opfern müsse signalisiert werden, dass es "nicht allein um Fehler von Behörden geht, sondern um unsere Gesellschaft, die sich noch längst nicht von ihrer Arroganz gegenüber eingewanderten Mitmenschen befreit hat."
Wie die Ombudsfrau fordert auch Jelpke eine "völlig unabhängige Beobachtungsstelle gegen rechte Gewalt" wie es sie bereits in Belgien und Österreich gibt. Zudem eine Stärkung der Polizeiarbeit und antirassistische Polizeiausbildung, da es bei der Polizei einen "Korpsgeist" gebe, der im Fall des NSU aus den Opfern anfangs Täter gemacht habe.
In der rechten Szene arbeiten Fahnder oft mit V-Männern. Einer der bekanntesten ist bis heute Tino B., der für den Thüringer Verfassungsschutz spitzelte. Er soll nicht der einzige gewesen sein. Mindestens noch ein weiterer Informant soll in der rechtsextremistischen Organisation "Thüringer Heimatschutz" (THS) für den Verfassungsschutz spioniert haben. Das geht aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken hervor, die am Donnerstag veröffentlicht wurde.
Zwischen 1994 bis einschließlich Januar 2001 sind demnach zwei der rechten Organisation zuzurechnende Personen als V-Leute tätig gewesen, eine davon in den Jahren 1999 bis 2000. Bislang war lediglich bekannt, dass Tino B. als V-Mann im Heimatschutz arbeitete. Er hatte seine Tätigkeit nach entsprechenden Berichten selbst öffentlich gemacht. Dem THS gehörten auch die NSU-Terroristen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt an.
Von Julia Jüttner