Freie Presse Chemnitz, 16.06.2012
Opposition beklagt Aufklärung auf "Talkshow-Niveau" - Die Untersuchungsausschüsse zum NSU im Bundestag und in Thüringen machen vor, wie gegen Rechts aufgeklärt wird. Sachsen tut sich schwer.
Die Untersuchungsausschüsse zum NSU im Bundestag und in Thüringen machen vor, wie gegen Rechts aufgeklärt wird. Sachsen tut sich schwer.
Dresden - Die lange erwartete erste öffentliche Sitzung des sächsischen Untersuchungsausschusses zu den Vorgängen rund um den rechtsradikalen "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU) begann gestern im Dresdner Landtag anders als erwartet. Nicht die eigentliche Frage nach dem Versagen der sächsischen Sicherheitsorgane stand im Mittelpunkt, die den NSU nicht aufspüren konnten, obwohl er über zehn Jahre vor ihrer Nase im Freistaat sein Unwesen trieb. Nein, überraschend stand eine Expertenrunde zum allgemeinen Phänomen Rechtsradikalismus auf dem Programm.
Dem NSU-Trio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe werden eine Serie von Morden an zehn Menschen mit meist ausländischen Wurzeln, 14 Banküberfälle vor allem in Chemnitz und Zwickau sowie mindestens ein Sprengstoffanschlag zur Last gelegt. Bei ihren Untaten konnte es sich auf ein enges Unterstützernetzwerk in Sachsen und anderen Bundesländern stützen. Doch Fragen dazu stehen auch in den nächsten Ausschusssitzungen nicht auf dem Programm.
Auch die gestrige Expertenanhörung stand unter keinem guten Stern. Ursprünglich waren sechs Sachverständige eingeladen, wovon fünf absagten. Andere geladene Experten hatten abgesagt, darunter mit der Begründung, Sachsens Landesregierung habe mehrfach die Unterstützung von Forschungsprojekten zum Rechtsextremismus bei Schülern abgelehnt.
Einzig Fabian Virchow, Rechtsextremismus-Experte von der Fachhochschule Düsseldorf, stand den Abgeordneten Rede und Antwort. Ihn hatte die Opposition eingeladen, so SPD-Ausschussmitglied
Karl Nolle. Virchow sprach Klartext: Viele Fakten um die NSU-Mitglieder tauchten Ende der 1990er-Jahre in der Szene auf, waren den Diensten bekannt, wurden aber nicht richtig interpretiert, so der Experte. So seien zunehmende Radikalisierung und terroristische Neigungen der extremen Rechten nicht erkannt worden.
Wieso aus Sachsens Verfassungsschutzberichten nach 2000 sogar der Begriff "Rechtsterrorismus" ganz verschwand, wollte Ausschusschef Patrick Schreiber (CDU) wissen. "Dafür gibt es keine plausible Erklärung", sagte Virchow und hielt politische Einflussnahme für möglich. Dem Ausschussmitglied der NPD, Andreas Storr, hielt er entgegen: Ihre Partei ist die zentrale Struktur im rechten Spektrum, sie "lehnt die Grundwerte der Demokratie ab."
Nolle war damit zufrieden. Und wieder nicht. Denn was hatte das mit dem Auftrag des Ausschusses zu tun, fragte er. "Es ist ein Trauerspiel, denn das ist das Talkshow-Niveau", polterte Nolle. "Wir wollen endlich die Arbeitsebene der Dienste hören."
Auch die Pläne für die Ausschusssitzungen im Juli und September verheißen wenig Tiefgang. So machte die Opposition klar: "Nicht mit uns." Entweder es komme zu einer Änderung der Tagesordnung oder "wir berufen Sondersitzungen zu eigenen Themen ein", drohte Ko-Vorsitzender Klaus Bartl (Linke). Für ihn war nach der Auftaktpleite im Ausschuss das "Unbehagen greifbar" und ebenso die Erkenntnis "wir verlieren an Gesicht". Kommende Woche wollen die Obleute der fünf demokratischen Fraktionen CDU, FDP, SPD, Grüne und Linke beraten. "Im September wollen wir die ersten richtigen Zeugen vernehmen", so Bartl. Und zwar jene Beamten, die im Jahr 2000 an den Observationspannen zu NSU-Mitgliedern in Chemnitz beteiligt gewesen seien. Damals lagen Verfassungsschutz und Landeskriminalamt, ohne voneinander zu wissen, auf der Lauer.
Als Skandal gewertet wurde, dass Sachsen möglicherweise noch nach Einsetzung des Ausschusses sämtliche Akten zu den Banküberfällen des NSU an die Bundesanwaltschaft übergeben hat. Jetzt soll der Generalstaatsanwalt zur Übergabe von Aktenkopien aufgefordert werden.
Von Uwe Kuhr