spiegel-online.de, 07:16 Uhr, 12.07.2012
Verfassungsschutz in Sachsen: Abgeordnete rätseln über mysteriöse Akte
Der sächsische Verfassungsschutz hat eine Geheimakte monatelang zurückgehalten - angeblich wurde sie erst jetzt gefunden. Auf den ersten Blick sind es banale Protokolle. Wäre da nicht die enge Verbindung eines Mitglieds der rechtsextremen Gruppe "Blood & Honour" zu einem V-Mann.
Als Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe im Frühjahr 1998 untertauchten, geriet Jan W. ins Visier der Ermittler. Es hatte Hinweise gegeben, dass die inzwischen verbotene Neonazi-Organisation "Blood & Honour" das Trio im Untergrund unterstützte - und so hefteten sich Mitarbeiter des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) an die Fersen der Mitglieder des Netzwerks, das lukrative Geschäfte mit rassistischer Musik machte. Allen voran Jan W.
Der 36-Jährige aus Chemnitz galt als Größe in der braunen Musikszene, jahrelang war er Anführer der "Blood & Honour"-Sektion Sachsen. Er wurde 1998 intensiv observiert, sein Telefon und sein Handy abgehört. Diese Abhörprotokolle befinden sich nach Informationen von SPIEGEL ONLINE in jener Geheimakte, die das LfV in Dresden sieben Monate lang hortete, anstatt sie dem Bundesamt für Verfassungsschutz auszuhändigen - eine peinliche Panne, die zum Rücktritt des Präsidenten des sächsischen LfV, Reinhold Boos, führte.
Bei einer bundesweiten Razzia im Zusammenhang mit der Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) im Januar dieses Jahres wurde auch Jan W.s Wohnung durchsucht. Jan W. stehtseit etwa 15 Jahren auf der Liste der üblichen Verdächtigen, wenn es um Rechtsextremisten in Ostdeutschland geht.
In Berlin machte er sich einen Namen, weil er die Musik von "Landser" unter Neonazis brachte und verkaufte. In einem der Songs auf der CD heißt es: "Terroristen mit E-Gitarren, neue Anschläge sind schon geplant." Der Tonträger wurde vertrieben mit dem Hinweis: "Alles für Deutschland. Heil Hitler!" In ihren antisemitischen Texten rief die Band zu Gewalt gegen Ausländer, die Organisatoren der Wehrmachtsausstellung sowie den TV-Moderator Michel Friedman auf.
"Landser" genießt in der Szene noch immer Kultstatus, die Gruppe wurde 2005 vom Bundesgerichtshof als kriminelle Vereinigung eingestuft und verboten. Bis dahin war sie die erfolgreichste Nazi-Band. Jan W. vertrieb die verbotenen CDs über konspirative Wege in Deutschland und wurde 2005 dafür zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Heute sagt Jan W., er habe sich von der Szene distanziert.
V-Mann Mirko
Die Telefonate, die Jan W. führte und die mitgehört wurden, drehten sich in erster Linie um Konzerttermine und Veranstaltungsorte. So auch in den Monaten im Jahr 1998, in denen er besonders intensiv observiert wurde - das belegen die Protokolle, die verlorengegangen waren und jetzt im sächsischen Verfassungsschutz aufgetaucht sind.
Wer brisantes Material erwartet hat, wird enttäuscht: Bei den etwa hundert Seiten umfassenden Akten handelt es sich um dokumentierte Telefongespräche und Kurzmitteilungen, die Jan W. geführt und erhalten hat - und die relativ unspektakulär sind. Bei den Gesprächspartnern tauchen Namen aus der Szene auf, manchmal nur Vornamen. Mehr nicht.
Auch nichts, was auf eine Verbindung zu Mitgliedern des NSU hindeuten könnte.
Inhaltlich sei bei der verschriftlichten Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) nichts Überraschendes dabei und nichts, worüber man nicht schon gesprochen habe, so beurteilen auch Teilnehmer des Untersuchungsausschusses die Unterlagen.
Einzig brisant: In den Protokollen taucht der Name Mirko auf. Dabei soll es sich um den Sebnitzer Neonazi Mirko H., 38, handeln, damals ein enger Geschäftspartner von Jan W. und führend in der rechtsextremen Musikszene Ostdeutschlands.
Er war Führungskader und Gründer der sächsischen Hammerskins, die sich als elitäre Bruderschaft und Elite der Nazi-Skins verstehen - und er war V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz.
2002 wurde Mirko H. enttarnt. Inwieweit sein Ruhm innerhalb der rechten Szene auf die Unterstützung des Verfassungsschutzes zurückzuführen ist, ist umstritten. In einer Stellungnahme bezüglich seiner V-Mann-Tätigkeit kommentierte Mirko H. 2009: "Fakt ist, dass diese ganzen Behauptungen meine Person betreffend unwahr sind."
Zwei ehemalige Weggefährten beschreiben Mirko H. als extrem gewaltbereit. Es gibt Fotos, die ihn mit Maschinenpistole im Anschlag und Armbrust zeigen, er wirkt voller Stolz auf den Bildern. Er war Herausgeber des Fanzines "Hass Attacke" und produzierte ab 1997 mit seiner Firma Hate Records Rechtsrock-Musik, bei Razzien wurden mehr als 10.000 CDs entdeckt, die er bundesweit und bis in die USA vertreiben wollte.
"Der Fisch stinkt vom Kopf her"
Wenn auch die V-Mann-Tätigkeit von Mirko H. bei den nun aufgetauchten, eher banalen Unterlagen keine Rolle spielt, bleibt die Frage: Warum ist LfV-Präsident Boos dann zurückgetreten? Rechtfertigt das Versäumnis einzelner Mitarbeiter eine solche Personalie? Oder hat er diesen peinlichen Vorfall nur zum Anlass genommen, weiteren möglichen Pannen auszuweichen?
Abgeordnete des sächsischen Landtags sprechen von einem "unvermeidbaren Schritt". "Es ist eine notwendige Maßnahme, allerdings keineswegs eine hinreichende", formuliert es Kerstin Köditz, Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission für den Geheimdienst (PKK), und betont: "Auch dieser Fisch stinkt vom Kopf her, allerdings riecht das gesamte Tier unangenehm."
Zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und vierzehn Banküberfälle - die Verbrechen des NSU zwischen 1998 und 2011 sind beispiellos in Deutschland. Nach einem mutmaßlichen Raubüberfall in Chemnitz tauchten Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos 1998 unter und lebten jahrelang unerkannt im sächsischen Zwickau - doch die Sicherheitsbehörden dort wollen weder von den Taten noch von der Existenz des Trios gewusst haben.
Innenminister Markus Ulbig müht sich eifrig um Transparenz und kündigte am Mittwoch an, einen unabhängigen Experten zur Aufklärung einzusetzen. Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses und der PKK werten dies als "eine Verhöhnung der zuständigen Gremien".
Diese laborieren seit Monaten herum und suchen Antworten auf Fragen wie: Warum hat der Verfassungsschutz Hinweise ignoriert, wonach ein "Blood & Honour"-Mitglied das untergetauchte Trio mit Waffen versorgen wollte?
Erste Ansätze für eine mögliche Antwort liefert das Gutachten zu Versäumnissen der Thüringer Behörden bei der Verfolgung des Zwickauer Trios, das eine Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen BGH-Richters Gerhard Schäfer erstellt hat. Darin heißt es: "Ein Hinweis auf Waffen lässt sich möglicherweise einer TKÜ-Maßnahme bei Jan W. im August 1998 entnehmen. Bei der Überwachung seines Handys im Zeitraum vom 4.8. bis 10.9.1998 wurden Anrufe von und zu einem Handy festgestellt, das für das Ministerium des Inneren eines anderen Bundeslandes registriert war und sich in Chemnitz befand."
Eine SMS damals lautete: "Hallo, was ist mit den Bums?"
Von Julia Jüttner