DNN/LVZ, 13.07.2012
Die Akten-Panne und kein Ende - Ermittlungen gegen Blood & Honour / Rätselraten um Boos-Rückzug
Dresden. Die Akten-Panne beim sächsischen Verfassungsschutz sorgt weiter für Debatten im Freistaat. Gestern traf sich die hochgeheime Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) des Landtags zur Sondersitzung, am Abend der U-Ausschuss zur Neonazi-Zelle. Ergebnis: Die Akten sind zwar nur von mittlerer Brisanz, dennoch besteht erheblicher Erklärungsbedarf.
Es ist der Tag danach in Dresden. Auf den Gängen stehen Pulks von Abgeordneten, im Keller tagt parallel die PKK in einem abhörsicheren Raum. Alle bewegt nur ein Thema: Welche Rolle spielt der sächsische Geheimdienst? Und: Warum hat der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz, Reinhard Boos, sein Amt so plötzlich an den Nagel gehängt? Immer wieder läuft Markus Ulbig (CDU) durch die Gänge. Sichtlich angeschlagen wirkt der Innenminister - und kann doch nur bedingt Auskunft geben.
150 Blatt in zwei Komplexen
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen dürfte selbst der Minister noch immer ein Stück weit im Dunkeln tappen; zum anderen ist er vorsichtig geworden mit vorschnellen Wertungen, will lieber weiter prüfen lassen - und die Kontrollgremien informieren. Was ihn in Not gebracht hat, steht fest: Unerwartet sind Protokolle einer Telefonüberwachung der Geheimdienste im Terror-Umfeld von Ende 1998 aufgetaucht. Die aber hätte es gar nicht geben dürfen. Zu den Inhalten hüllt sich Ulbig in Schweigen.
Dennoch lichtet sich mittlerweile das Dunkel. So handelt es sich bei den aufgetauchten Akten um rund 150 Blatt Papier, aufgeteilt in zwei verwandte Vorgänge. Knapp 120 Seiten drehen sich um eine Telefonüberwachung unter Federführung der Bundesamtes für Verfassungsschutz, in die die sächsischen Kollegen eingebunden waren. Der Rest betrifft einen ähnlich gelagerten Fall, diesmal aber initiiert von Thüringer Ermittlern. Das Verbindende der beiden Aktionen der Geheimen: Jeweils soll es um verdeckte Ermittlungen im Umfeld des Neonazi-Netzwerks "Blood & Honour" gegangen sein, aus dem die Helfershelfer der Zwickauer Neonazi-Zelle stammten.
Im Zentrum dabei steht Jan W. aus Chemnitz, ein Neonazi-Aktivist der braunen Musikszene und ehemaliger Anführer der "Blood & Honour"-Sektion Sachsen. Abgehört wurden dessen Telefon und Handy - inklusive SMS. Jan W. aber ist kein Unbekannter, sein Name taucht bereits im offiziellen NSU-Bericht von Ulbig auf. Und auch sonst sind die Inhalte der Geheimpapiere, so berichten jene, die die Akten gelesen haben, nur begrenzt spektakulär: Gespräche über Skinhead-Konzerte, Banalitäten, keine Hinweise auf geplante Straftaten. Ein Gespräch aber habe "in zeitlicher Nähe zum ersten Raubüberfall" des Terror-Trios gestanden, heißt es. Und: Es gab ganz offensichtlich "einige SMS von Uwe". Uwe ist der Vorname sowohl von Böhnhardt sowie Mundlos, den beiden Neonazi-Killern.
Suche nach Verantwortlichem
Ob es sich bei diesem Uwe aber tatsächlich um ein Mitglied des Terror-Trios gehandelt hat, ist offen. Klar ist lediglich, dass der Verfassungsschutz dazu in Kürze peinlich befragt werden dürfte. Ebenso wie zu der Frage, welcher Mitarbeiter aus dem Landesamt die Akten widerrechtlich in seinem Safe gehortet hat - und welcher Vorgesetzte dafür mitverantwortlich ist. Eng könnte es dabei nicht zuletzt für den noch amtierenden Vizechef des sächsischen Verfassungsschutzes, Olaf Vahrenhold, werden. Schließlich ist der im Gegensatz zu Boos seit vielen Jahren ununterbrochen im Amt tätig.
Unterdessen geht das Rätselraten um den Rückzug von Boos weiter. Dabei steht fest, dass er, der 2007 eigentlich "nur" den Sachsen-Sumpf trockenlegen sollte, in letzter Zeit reichlich amtsmüde wirkte. Auch dürfte er angenervt gewesen sein vom unprofessionellen Verhalten seiner Mitarbeiter. Schließlich hatten er und Ulbig bis zuletzt beteuert, Sachsen habe alle Unterlagen an die zuständigen Kontrollstellen weitergeleitet. Diese Lesart aber ist seit Mittwoch ebenso Geschichte wie die Behauptung, dem Landesamt sei "kein pflichtwidriges Unterlassen" vorzuwerfen.
Ringen mit Bundesbehörden
Hinzu aber kommen zwei weitere, wesentlich gravierendere Aspekte: Nach dem Stand der Dinge versuchen die bundesweit agierenden Nachrichtendienste derzeit den Länderbehörden in der NSU-Affäre den schwarzen Peter zuzuschieben - mit dem Kalkül, bei der geplanten Umstrukturierung des Verfassungsschutzes am längeren Hebel zu sitzen. Hier könnte Boos erkannt haben, dass sein Landesamt nach dem NSU-Desaster in der eigenen Behörde keine guten Karten mehr hat.
Denkbar ist aber auch, dass Boos nicht mehr ausschließen wollte, dass im Zuge der Ermittlungen weitere, üble Details zutage treten könnten - und er wie sein Bundeskollege Heinz Fromm den Abgang bei Zeiten gesucht hat. Dabei könnte es sich um den Einsatz von V-Leuten aus einem Geheimprojekt "Rennsteig" handeln, in das die Bundesbehörden eingebunden waren - oder um die merkwürdigen Umstände des Selbstmords von Mundlos und Böhnhardt Anfang November in Eisenach.
Von Jürgen Kochinke