Der Spiegel 36/2012, Seite 32, 04.09.2012
„Voll hinter Adolf Hitler"
Auf rund 1200 Seiten haben die Innenminister Fakten gesammelt, um die Verfassungswidrigkeit der NPD zu beweisen. Das Geheimdossier ist die Grundlage für eine der wichtigsten innenpolitischen Debatten der kommenden Wochen: Soll die NPD verboten werden?
Der Packen Papier ist dicker als ein Ziegelstein und schwerer als das Berliner Telefonbuch. Er umfasst 3051 Belege auf 1147 Seiten, eingestuft als Verschlusssache.
Die Seiten bilden die Grundlage für die Entscheidung über ein neues NPD-Verbotsverfahren, wie es Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede zum Gedenken an das Pogrom von Lichtenhagen propagierte. Einen Staat, der „wehrhaft ist", forderte dessen höchster Repräsentant, und das Dossier, das seit Ende vergangener Woche in seiner finalen Fassung vorliegt, soll die Waffe sein. Die Waffe der Demokratie, die sich gegen ihre Feinde wehrt, einer Demokratie, die nicht schwach ist, sondern wach.
Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) möchte diese Waffe um jeden Preis einsetzen, er will Entschlossenheit im Kampf gegen Rechtsextreme demonstrieren und damit seinen Land- tagswahlkampf antreiben, „notfalls im Alleingang". Sein Parteifreund Hans-Peter Friedrich, der als Bundesinnenminister die Verantwortung trägt, zögert dagegen, er fürchtet ein Scheitern vor dem Bundesverfassungsgericht. Angela Merkel, die Kanzlerin, hat sich wie so oft nicht festgelegt. Sie beobachtet.
Auf den 1147 Seiten, die der SPIEGEL ausgewertet hat, haben die Innenministerien und Verfassungsschützer dieser Republik zusammengetragen, welche Reden, Gewalttaten und öffentlichen Aufrufe beweisen könnten, dass die rechtsextreme NPD diesen Staat nicht nur verachtet, sondern auch aggressiv bekämpft. Die Sammlung ist das derzeit brisanteste Dossier der deutschen Innenpolitik und die Grundlage für eine der großen innenpolitischen Debatten dieses Herbstes und des Wahljahrs 2013.
Zur Diskussion steht die Frage, wie entschlossen der Staat auf ein Verbot seiner Gegner drängen muss — und wie viel Freiheit er den Feinden der Freiheit lassen darf. Die NPD ist die größte und wichtigste Organisation am rechten Rand der Gesellschaft, sie sitzt in zwei Landtagen und erhält Millionen Euro an staatlichen Mitteln. Ihre Vertreter leugnen den Holocaust, verhöhnen das Parlament als „gleichgeschaltete Schwatzbude" und schimpfen über „Scheißjuden".
Das Ende dieser Anti-Partei würde Neonazi-Szene wie bürgerliche Rechtsradikale empfindlich treffen. „Nach Auswertung der Beweise sollten sich Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung auf einen gemeinsamen Verbotsantrag verständigen", fordert der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann.
Der Staat ist damit allerdings schon einmal gescheitert. Das Bundesverfassungsgericht verwarf 2003 den Verbotsantrag, weil der Verfassungsschutz die Partei mit zu vielen V-Leuten unterwandert hatte; es wirkte, als steuerten die Behörden ihre Gegner. Die Rechten konnten frohlocken. Ein erneuter Rückschlag wäre für die NPD eine Garantie auf Jahrzehnte, sie könnte umso ungenierter und aggressiver auftreten. „Wir sollten nur dann ein Verbot anstreben, wenn wir auch sicher sein können, dass am Ende auch ein Verbot steht", mahnt Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). „Ein zweites Scheitern können wir uns auf keinen Fall leisten."
Damit das Verfahren nicht noch einmal durch die V-Frage belastet wird, schalteten die Innenminister alle rund zwanzig Spitzel ab, die bislang aus den Führungsgremien der Partei berichteten. Es soll nicht noch einmal so aussehen, als führte der Staat Regie, wenn ein hochrangiger Rechter gegen Ausländer dröhnt. Aus dem Innenleben der Partei erfahren die Sicherheitsbehörden seitdem nicht mehr viel. Das ist der Preis, den die Minister bezahlen müssen.
Das neue Dossier ist deshalb ein weitgehend bereinigtes, was geheime Informanten betrifft. Es stützt sich überwiegend auf Material, das ohne V-Leute gesammelt wurde, nur 65 als „geheim" eingestufte Seiten listen Abhörprotokolle und Spitzelberichte auf, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln erlangt wurden. „Wenn wir vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen wollen, sollten wir uns ausschließlich auf offene Quellen beru fen", sagt der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU). Die Richter sollen gar nicht erst in Versuchung kommen, eine Verhandlung durch die möglicherweise dubiosen V-Leute aus der Schattenwelt der Geheimdienste belastet zu sehen. Überzeugen soll das, was die NPD-Funktionäre gesagt und getan haben.
Gezeichnet wird in dem Dossier das Bild einer zutiefst rassistischen Partei, die Nähe zum historischen Nationalsozialismus in ihrer DNA trägt und die — wie der sächsische NPD-Fraktionsmitarbeiter Karl Richter - Deutschland als „durchpathologisierte Endzeit-BRD" bezeichnet, nachzulesen als Beleg Nr. 2900.
Die Ablehnung des verhassten demokratischen Systems zieht sich durch den politischen Alltag der Partei. Wie eine Grundsatzerklärung hörte es sich an, als Udo Pastörs, der Fraktionsvorsitzende der NPD im Landtag von Schwerin, am Aschermittwoch 2009 in Saarbrücken loslegte: „Die NPD hat nichts anderes als Auftrag, Werkzeug zu sein, politisches Werkzeug." Und weiter: „Wir wollen den Maximalschaden dieses Parteienstaates, der nichts anderes ist als der verlängerte Arm USraels." USrael, das ist in den Worten der Rechten die Symbiose aus den USA und Israel, die für alles Böse stehen.
Andere NPD-Funktionäre wie der Neonazi Thomas Wulff, der bis in den NPD-Bundesvorstand aufstieg, stehen Pastörs kaum nach. „Ein krankes System zittert in seinen Knochen", höhnte Wulff am 7. Mai 2009. „Die Symptome der Fäulnis haben das Gefüge der Kriegsgewinnler von 1945 und ihrer deutschen Handlanger erfasst." Und der Bundesvorsitzende der NPD-Nachwuchsorganisation „Junge Nationaldemokraten", Michael Schäfer, rief im Oktober 2009 auf einer Demo in Leipzig unverhohlen zum Umsturz auf: „Kameraden, in Leipzig ist schon einmal ein Staat zugrunde gegangen. Warum soll es nicht wieder so sein? Warum soll heute nicht der Anfang vom Ende des Projekts BRD sein?"
Offiziell lehnt die NPD Gewalt ab, sie distanziert sich von der Terrorzelle des „Nationalsozialistischen Untergrunds" und schließt schon mal Mitglieder aus, die es zu heftig treiben. Aber die Fülle von Beispielen, die von den Verfassungsschützern zusammengetragen wurden, lässt auch einen anderen Eindruck zu.
Offen drohte Fraktionschef Pastörs auf dem „Schwabentag der NPD" in Günzburg im März 2011: „Wenn wir selbstbestimmt sagen, Europa ist das Land der weißen Rasse und soll es auch bleiben, dann haben wir ein Recht darauf, das notfalls mit militärischer Gewalt sicherzustellen." Der Satz könnte aus dem Mund des norwegischen Massenmörders Anders Breivik stammen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz schnitt Pastörs' Rede mit und führt sie als Beleg Nr. 3021 an.
Noch härter gab sich Hans Puschel, ein parteifreier NPD-Kandidat bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, der im November 2011, nur Tage nach dem Auffliegen der Neonazi-Mordserie der Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, voller Zynismus fragte: „Sind die ,Döner-Mörder verfassungsgemäße Widerständler?" Und als sei das noch nicht schlimm genug: „So viel Schmutz und Gemeinheit haben die beiden Uwes nicht verdient."
Wer solche Tiraden liest, Seite um Seite aneinandergefügt, kann über den Charakter der NPD keine Zweifel mehr haben. Aber lässt sich damit eine „unmittelbare" Gefahr für die Demokratie beweisen, wie sie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verlangt wird, damit ein Verbot Bestand hat?
Schon beim ersten, gescheiterten, Anlauf verwiesen die Richter in Karlsruhe auf die europäischen Kollegen in Straßburg, die hohe Hürden errichtet hatten. Im Fall der Zwangsauflösung der Wohlfahrtspartei in der Türkei waren die Straßburger Richter der Argumentation der türkischen Gerichte gefolgt, dass die Partei aufgrund hoher Umfragewerte vor der Umsetzung ihrer Pläne gestanden habe. Davon ist die NPD weit entfernt.
In einem Kriterienkatalog, der der Beweissammlung zugrunde liegt, führen die Minister aus, dass die Beteiligung von NPD-Funktionären „an Straf- bzw. Gewalttaten beziehungsweise bei nicht nur zufälligen Verbindungen der Partei zu terroristischen Untergrundstrukturen" als Verbotsgrund zählen könnte. Doch dafür liefern weder das Dossier noch die Ermittlungen zur NSU-Mordserie Belege.
Dazu kommt, dass - anders als die türkische Wohlfahrtspartei - die NPD zuletzt von Krisen geschüttelt wurde. Sie ist eine Partei, die eher schrumpft als wächst. 1100 Mitglieder traten in den vergangenen vier Jahren aus, im November 2011 zählte die Organisation nur noch 5900 Mitglieder. Und sie leidet unter großer Finanznot; das „Reinvermögen der Gesamtpartei", so heißt es in der Beweissammlung, belief sich 2010 auf Schulden von 1,064 Millionen Euro. Argumente, die die Notwendigkeit eines Verbots aus Straßburger Sicht relativieren.
Mehr Hoffnung setzen die Innenminister deshalb auf einen anderen Punkt: die Nähe der NPD zum historischen Nationalsozialismus. Ließe sich das Porträt von Hitlers Erben zeichnen, so das Kalkül, würden sich dieser Sicht auch europäische Richter nicht widersetzen. In der Beweissammlung findet sich manch bizarre Aussage von Repräsentanten, die eine Sehnsucht nach den dreißiger Jahren erkennen lässt.
So wurde Dirk Bahlmann, NPD-Gemeinderat aus Löcknitz in Mecklenburg-Vorpommern, verurteilt, weil er eine Holocaust-Gedenktafel beschädigt hatte. Anschließend gab Bahlmann ein Interview, in dem er die Gedenktafel als „Beleidigung für alle guten Deutschen" bezeichnete. Der Holocaust sei eine jüdische Erfindung, die Juden hätten beide Weltkriege begonnen. Im Übrigen stehe er „voll hinter Adolf Hitler".
Mal ist der Antisemitismus verdeckt, mal offen, wie bei Siegfried Gärttner, NPD-Kandidat zur Bundestagswahl 2009: „Eine private jüdische Clique stößt den eigenen Staat oder die Staaten der Welt in den Bankrott." Und Rigolf Hennig, bis 2011 Kreis- und Stadtratsmitglied der NPD in Verden, rief dazu auf, es müsse „der Einfluss des internationalen Zionismus gebrochen werden".
Die Argumente liegen jetzt auf dem Tisch, es sind keine schlechten. Nun ist es an der Politik zu entscheiden, was sie wagen will. Die Diskussion wird bislang vor allem von den Ministerpräsidenten vorangetrieben. Die Länderchefs verlangen ein neues Verfahren, auch auf die Gefahr eines Scheiterns hin. Der Gang nach Karlsruhe sei „ein wichtiger Schritt im Kampf gegen den Rechtsextremismus", argumentierte der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering (SPD) in der „Bild am Sonntag". „Wir sollten diesen Schritt jetzt gehen."
Sellering schrieb diese Sätze, bevor er die Beweissammlung lesen konnte, was zeigt, dass das politische Ziel über sachlichen Argumenten steht Ähnlich ist es bei Olaf Scholz (SPD), der der „Welt" sagte, wenn die Bundesregierung nicht mitziehe, „sollten die Länder einen Alleingang wagen".
In den kommenden Wochen wollen sich die Innenminister eine Meinung bilden und die Beweissammlung bewerten, die entscheidende Sitzung ist für Anfang Dezember geplant. Dort steht auch die Abwägung an, ob das Verfahren ohne jene 65 Seiten auskommen könnte, die teilweise von V-Leuten stammen. „Wenn wir aber das Material unserer V-Leute für den Gang nach Karlsruhe brauchen, wäre ich auch bereit, den Richtern notfalls unsere Quellen zu offenbaren", sagt Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU). Sein Kollege Schünemann will vorher den Ex-Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch mit einem Gutachten über das Material beauftragen. Wenn Jentsch eine Empfehlung pro Verbot abgebe, so Schünemann, „dann kann sich dem niemand entziehen".
Eine Woche nach den Innenministern werden die Ministerpräsidenten zusammenkommen, auch Merkel wird dabei sein. Spätestens bis dahin muss die Kanzlerin zeigen, wo sie steht.
Wie heikel das Sujet trotz der Wucht der 1147 Seiten ist, zeigt eine Entscheidung von vergangener Woche. Friedrich und seine Leute hatten in dem Anschreiben zur Beweissammlung um eine „Testierung durch die jeweiligen Innenminister" gebeten, die Ressortchefs sollten dem Gericht persönlich versichern, dass das Material auch wirklich unbelastet von V-Leuten sei. Es sollte eine Art Versprechen an die Richter sein, dass der Staat keinen verseuchten Antrag wie 2003 abliefert.
So mutig sind die Innenminister dann doch nicht. Ein solches Zeugnis solle lieber nicht mit ihrem Namen verbunden werden, darin war sich die Runde schnell einig. Jetzt müssen ihre Abteilungsleiter unterzeichnen.
Hubert Gude, Holger Stark