Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 09:54 Uhr, 01.02.2013

Ex-Verfassungsschützer vor NSU-Ausschuss - König V-Mann

 
Beim Thüringer Verfassungsschutz hatten offenbar V-Leute das Sagen. Das belegen exorbitante Zahlungen und heimliche Tonbandmitschnitte. Der Auftritt des gefeuerten Behördenchefs Sippel vor dem Berliner NSU-Untersuchungsausschuss verstärkt diesen Eindruck noch.

Berlin - Beim Thüringer Verfassungsschutz war nicht der Kunde König - sondern der V-Mann. Interessenten wurden zum Beispiel so geködert: "Hol dir ne Extra-Card oder irgendwas zum Kommunizieren, hier hast du 100 Mark, hol es dir schnell, oder dein Bruder, damit es nicht auf deinen Namen läuft."

Der Satz stammt von einem V-Mann-Führer, zitiert wird er von Tino Brandt, dem wohl bekanntesten V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes. Aufgezeichnet wurde der Satz vom NPD-Vorstandsmitglied Thorsten Heise, einer der wohl bekanntesten rechtsextremen Führungsfiguren in Deutschland. Das Gespräch zwischen den beiden fand am 20. Januar 2007 statt, die Mitschnitte entdeckte das Bundeskriminalamt bei einer Razzia in Heises Gutshaus im thüringischen Fretterode. Vor zehn Tagen gingen die Tonbandaufzeichnungen dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags zu.

Thomas Sippel, von 2000 bis 2012 Verfassungsschutzchef von Thüringen, erfuhr erst am Donnerstagabend von den Kassetten, als er als Zeuge vor dem Ausschuss erschien. "Davon höre ich heute zum ersten Mal", sagte der 56-Jährige und schluckte. Sippel ist einer von drei geschassten Behördenleitern, die wegen der aufgedeckten Ermittlungspannen im Fall NSU im vergangenen Jahr ihren Job verloren.

Vor dem NSU-Ausschuss sagte Sippel, er habe grundsätzlich Verständnis dafür, wenn ein Verantwortlicher gehen müsse, "weil die Luft dünn wird". Doch er habe weder darum gebeten, in den einstweiligen Ruhestand versetzt zu werden, noch habe er einvernehmlich eingewilligt. Im Gegenteil: Er habe Widerspruch eingelegt. Vermutlich ist er gerade auf Jobsuche, als Bewerbung für einen neuen, hochdotierten Posten taugte sein Auftritt vor den Bundestagsabgeordneten indes nicht.

"Uns fehlten Informationen, an die man hätte anknüpfen können"

"Es ist uns nicht gelungen, das Trio aufzuspüren und es mit der Mordserie in Verbindung zu bringen", sagte Sippel. Die Begründung klang simpel: Seine Leute hätten nach Mai 2001 keine Hinweise mehr zu den drei Untergetauchten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erhalten. "Uns fehlten Informationen, an die man hätte anknüpfen können."

Und auf die V-Leute war ebenfalls kein Verlass: Die wussten genau, wie sie ein doppeltes Spiel spielen konnten. Beispiel Tino Brandt. "Viele Sachen haben einfach auch nur deswegen funktioniert, weil man wusste, wie der Dienst funktioniert", verrät er Heise laut Mitschnitt. Das wichtigste Motto des Verfassungsschutzes laute "Quellenschutz". Oder in Brandts Worten: "Wenn ich denen sage, ich mache ein Konzert mit Frank R. im Saal soundso, und nur zwei Mann wissen Bescheid, wo das stattfindet, dann bin ich quellenehrlich gewesen und sie können mir das Ding nicht dichtmachen. Sie wissen, sie gefährden die Quelle. Das heißt, deswegen habe ich da immer Ruhe gehabt."

Brandt war Kopf des Neonazi-Netzwerks "Thüringer Heimatschutz" (THS), später führender NPD-Mann, der unter dem Decknamen "Otto" von 1994 bis 2001 als V-Mann für den Thüringer Verfassungsschutz arbeitete. Bis zu 200.000 Mark soll er kassiert haben.

"Schön zu wissen, dass der Verfassungsschutz die nationale Bewegung in Thüringen aufgebaut hat. Das ist schon... ja... sehr cool", sagt Heise auf einer der Tonbandkassetten zu Brandt - es klingt wie ein Lob, fast nach Anerkennung. "Bis auf zwei Hausdurchsuchungen, die der Freistaat Bayern gegen mich veranlasst hat, wo ich es nicht vorher wusste", so Brandt, sei er immer bestens präpariert gewesen: "Sonst haben sie Computerattrappen mitgenommen. Die haben ja jedes Mal eine Beschlagnahmung für meinen Computer gehabt." Bei den Attrappen soll es sich um "Uraltcomputer" gehandelt haben, die er selbst zusammengezimmert habe. Den richtigen Computer, auf den es die Fahnder abgesehen hatten, habe er am Bahnhof in ein Schließfach gepackt.

Zusammenarbeit von Verfassungsschutz, Polizei und LKA "nicht optimal"

Die Mitglieder des NSU-Ausschusses zeigten sich entsetzt. "Wurde die Verhältnismäßigkeit gewahrt? Kann man denn Quellenschutz verabsolutieren?", fragte der Vorsitzende Sebastian Edathy (SPD). Warum die alte Ermittlerregel "bei kleinster Enttarnung besteht größte Gefahr" auf keinen der enttarnten V-Männer in Thüringen zutreffe, wollte Clemens Binninger (CDU), Obmann der Union und ehemaliger Polizeikommissar, wissen. Weder Tino Brandt noch andere seien nach ihrem Auffliegen von der Szene geächtet worden. Spricht das nicht dafür, dass sie die Szene vielleicht nie verraten haben?

Ex-Geheimdienstchef Sippel mühte sich um Antworten, fand aber keine überzeugenden. Er dementierte, dass der Verfassungsschutz in den zwölf Jahren unter seiner Ägide gemauert habe. Die Zusammenarbeit zwischen seinen Leuten und der Polizei und dem Landeskriminalamt sei "nicht optimal" gewesen, aber Informationen habe man nicht verschwiegen.

Zielfahnder Sven Wunderlich hatte Stunden zuvor dem Ausschuss gesagt, dass ihn brisante Geheimdienstmeldungen nie erreicht hätten - zum Beispiel, dass das Trio sich bewaffnen und Überfälle begehen könnte. Zudem hätten er und sein Team vor einem Dilemma gestanden: "Wir sollten nach dem Trio fahnden und gleichzeitig in der rechtsradikalen Szene keine Unruhe verursachen."

Umstände, die ebenfalls dazu geführt haben dürften, dass es - wie Sippel behauptet - bereits 2001 keine Anknüpfungspunkte mehr für eine Fahndung gegeben habe. Damals - so argumentieren sämtliche Verantwortliche in der Causa NSU - ahnte keiner, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe als Terrorbande mordend durch die Republik zogen. "Die drei waren vom Bildschirm verschwunden, spielten all die Jahre keine Rolle", resümierte Obmann Binninger am Donnerstag.

"Desolate Verhältnisse" beim Thüringer Verfassungsschutz

Umso merkwürdiger sei es daher, dass ausgerechnet diese drei "Bombenleger von Jena", wie sie genannt wurden, bei einer Veranstaltung zum Thema "Rechtsterrorismus" im Oktober 2003 im Bundesamt für Verfassungsschutz von den Thüringer Verfassungsschützern als potentielles Beispiel angeführt wurden und sogar 2004 im Bundesverfassungsschutzbericht Erwähnung fanden. "Warum wollte man diese Erinnerung wach halten?", fragte Binninger den verdutzten Sippel. Und: "Wenn Sie das Trio doch noch im Auge hatten, warum haben Sie dann nicht nach ihm gefahndet?", hakte Grünen-Obmann Wolfgang Wieland nach.

Gab es etwa doch rechtzeitig Indizien dafür, dass sich die drei Untergetauchten militarisiert hatten und einen Feldzug planten? Was Tino Brandt laut Tonbandmitschnitt sagt, kann man durchaus so interpretieren: "Vielleicht haben die auch in Richtung der drei verschwundenen Jenaer gedacht, dass die der legale Arm einer Terrorbewegung werden könnten", sagt er auf dem Tonband. Später wird er konkreter, sagt: "Ich glaube eben, die haben in der Zwischenzeit andere Sachen (machen müssen, d. Red.), um sich über Wasser zu halten und dadurch gab's neue Verjährungsfristen."

Bei der Aufzeichnung des Gesprächs war auch Kai-Uwe Trinkaus anwesend. Er ist zu diesem Zeitpunkt Spitzel des Landesgeheimdienstes, Deckname "Ares". Unklar ist bis heute, ob Trinkaus seinem V-Mann-Führer über Brandts Äußerungen berichtet hat. Klar hingegen ist, dass sich viele Verfassungsschützer keine Schuld eingestehen wollen. "Er wollte gegenüber Heise nicht als Verräter dastehen", mutmaßte Sippel am Donnerstag. Auf dem Stuhl links neben ihm lag fast filmreif der obligatorische Tarnmantel eines Verfassungsschützers: ein beigefarbener Trenchcoat. Darunter: der agentenerprobte, silberne Hartschalenkoffer.

Vielleicht sind es auch Reminiszenzen an zwölf Jahre an der Spitze eines Geheimdienstes. Die Freude, als Sippel zum Chef des Thüringer Verfassungsschutzes avancierte, dürfte sich rasch gelegt haben, wie er am Donnerstag im Bundestag berichtete: Das Amt sei bei seinem Antritt im November 2000 in "keinem guten Zustand" gewesen, es hätten "desolate Verhältnisse" geherrscht. Ausgerechnet in einer Behörde, die damals die größte Bedrohung in Thüringen im Blick behalten sollte: den Rechtsextremismus.

Von Maik Baumgärtner und Julia Jüttner

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