Deutschlandfunk "Interview der Woche", 06.09.2015
Sebastian Kurz "Wir betreiben hier ein Schlepper-Förderungsprogramm"
Anstatt den gefährlichen Weg nach Europa auf sich zu nehmen, müssten Asylbewerber ihren Asylantrag in ihrem Heimatland stellen können, forderte Österreichs Außenminister Sebastian Kurz im DLF. So lege man den Schleppern das Handwerk und sorge dafür, dass auch Alte, Kranke und Schwache, die nicht zur Flucht fähig seien, eine Chance auf Asyl hätten..(Sebastian Kurz ist seit Ende 2013 Österreichs Außenminister)
Sebastian Kurz im Gespräch mit Annette Riedel.
Annette Riedel: Herr Kurz, kann die EU aus der Flüchtlingskrise gestärkt hervorgehen, wie es ja auch bei anderen Krisen schon der Fall war oder droht diesmal über der Flüchtlingskrise wirklich der Riss?
Sebastian Kurz: Die EU kann natürlich gestärkt herausgehen, wenn es uns gelingt, diese Krise gemeinsam zu lösen. Das muss uns auch gelingen, denn alles andere würde uns ins Chaos stürzen. Wir haben eine extrem angespannte Situation mittlerweile. Wir haben Tausende Menschen, die jeden Tag von der Türkei nach Griechenland strömen. Wir haben Unzählige, die über die Mittelmeer-Italien-Route nach Europa gelangen. Wir haben keine faire Verteilung in der Europäischen Union. Und wir haben immer mehr Länder, die versuchen, alleine die Krise für sich in den Griff zu bekommen – was natürlich nicht funktionieren kann. Insofern braucht es eine europäische Lösung und vor allem ein rascheres Aktivwerden der Europäischen Union. Bis jetzt waren wir als Europa hier viel zu langsam.
Riedel: Wir müssen, wir sollten, wir könnten ganz sicher – auf der anderen Seite, was man im Moment lautstark hört, sind gegenseitige Schuldzuweisungen. Und da ist ja nicht nur der ungarische Regierungschef Orbán, der gesagt hat, das Ganze sei sowieso eher ein deutsches Problem, sondern auch vonseiten Österreichs gab es durchaus von der österreichischen Innenministerin auch Kritik an Deutschland.
Kurz: Ja, es gibt sehr viel Kritik untereinander. Es gibt einen Streit über die Quoten. Es gibt harte Diskussionen. Das, was wir jetzt brauchen, ist auch bei diesem emotionalen Thema eine ordentliche Sachpolitik, auch ein Abrüsten der Worte innerhalb der Europäischen Union, sonst wird es keine Lösung geben können. Es braucht vor allem aber auch ein Aktivwerden. Denn bis jetzt ist vor allem auch diese angeheizte Stimmung entstanden, weil man Nationalstaaten mit ihren Problemen alleine gelassen hat, sie teilweise sogar ignoriert hat. Und das kann so definitiv nicht funktionieren. Sie müssen sich nur zurückerinnern an die Finanz- oder Griechenlandkrise. Da ist es uns gelungen, fast täglich in unterschiedlichen Meetings und Formaten zusammenzutreffen, um auch gemeinsam dieses Thema in den Griff zu bekommen.
Riedel: Trotzdem nochmal kurz nachgehakt: Ist die Tatsache, dass Deutschland ein vergleichsweise freundliches Asylsystem hat, mit einer vergleichsweise hohen Anerkennungsquote beispielsweise, mit einer vergleichsweise guten Ausstattung, ist das ein Problem für die Union? Weil das ist ja das, was die österreichische Innenministerin gesagt hat.
Kurz: Nein, die Innenministerin hat angesprochen, dass es hier Aussagen von deutscher Seite gegeben hat, dass Dublin für Syrer aufgehoben wurde und dass somit jeder Syrer, unabhängig davon, ob er in einem anderen EU-Land registriert ist und dort eigentlich sein Verfahren bekommen sollte, das Verfahren in Deutschland bekommt. Das hat auch zu einem massiven Run auf Deutschland geführt und ist innerhalb von wenigen Tagen auch von Deutschland revidiert worden. Insofern gab es da keine grobe Kritik unserer Innenministerin, sondern einfach nur die Feststellung, dass diese Aussage, Dublin außer Kraft zu setzen – die ja wenige Tage später revidiert wurde –, dass die einen Run ausgelöst hat – womit die Innenministerin Recht hat. Aber das ist ja nur ein Detail und in dem sollte man sich jetzt auch nicht verstricken, sondern die Frage ist: Was können wir als Europäische Union tun, um diese Krise in den Griff zu bekommen?
Riedel: Hat Europa schlussendlich dieses Problem, was da auf es zurollt, unterschätzt, verdrängt? Hat es sich hinter der Griechenlandkrise ein Stück zu sehr im Hintergrund abgespielt? Oder sind wir wirklich so überrascht worden von dem, was da jetzt passiert?
Kurz: Zum einen: Ja, es hat eine massive Steigerung innerhalb von sehr kurzer Zeit gegeben. Der Innenminister von Deutschland hat das, finde ich, sehr gut formuliert, als er gesagt hat: Diese Steigerung hat sogar gut organisierte Länder, wie Deutschland, sehr stark herausgefordert. Der zweite Punkt – und da können wir durchaus schon kritischer mit uns selbst sein – ist, dass wir ja seit Jahren wissen, dass Dublin so de facto nicht funktioniert.
Riedel: Das System für die Aufnahme der Außengrenzen – sollte man noch mal kurz sagen –, also dass dasjenige Land zuständig ist für die Abwicklung von Asylbewerberverfahren, wo jemand als Erstes den europäischen Boden betritt.
Kurz: Genau. Wir wissen seit Jahren, dass wir nach Griechenland teilweise nicht mehr zurückstellen können, weil dort keine Verfahren durchgeführt werden. Wir wissen, dass viele Flüchtlinge weitergewunken werden. Wir haben aber trotzdem uns an dieses System geklammert und nie wirklich deutlich ausgesprochen, dass es nicht funktioniert, weil es sich zahlenmäßig doch noch irgendwie überall ausgegangen ist, mit den Flüchtlingen umzugehen. Da hätten wir schon viel früher ehrlich sein sollen. Und der dritte Punkt ist, dass es natürlich schon ein Problem innerhalb der Europäischen Union ist, wenn nur einzelne Länder betroffen sind und die Masse der Länder gar nicht will, dass das Thema behandelt wird, weil sie Sorge haben, dass sie danach schlechter aussteigen könnten, als das derzeit der Fall ist. Sie können sich also vorstellen, dass es durchaus einige Länder in der Europäischen Union gibt, die kein großes Interesse haben, dass das Thema behandelt wird und hier eine europäische Lösung gefunden wird.
"Die Hotspots sind ein wesentlicher Punkt - ich unterstütze sie"
Riedel: Aber was macht Sie dann so sicher – weil Sie vorhin eingangs sagten: 'Nein, ein Riss ist nicht da und wir kriegen das hin'? Das ist doch genau das, was Sie jetzt beschreiben, was wir im Moment erleben.
Kurz: Ich habe nicht gesagt, dass kein Riss da ist, ich habe gesagt, dass wir in einer Riesenkrise sind und ich habe aber auch gesagt, dass ich glaube, dass wir diese Krise lösen werden, denn ich sehe keine Alternative. Die Europäische Union ist ein Projekt, das auf Solidarität fußt. Wenn wir jetzt hier in dieser Situation erleben, dass es diese Solidarität zum Beispiel bei der Verteilung innerhalb Europas nicht gibt, dann würde das Vieles in der Europäischen Union gefährden. Ein zweiter Punkt: Unsere Idee des Europas ohne Grenzen nach innen, die fußt darauf, dass es Grenzsicherheit an den Außengrenzen gibt. Wenn es das nicht gibt, gefährden wir unser Schengen-System. Und insofern ...
Riedel: Aber da macht doch der ungarische Ministerpräsident genau das Richtige.
Kurz: ... ist so viel in Gefahr, dass ich davon ausgehe, dass, auch wenn es lange dauert, aber doch hoffentlich jetzt endlich Europa aktiv wird und eine gemeinsame Antwort findet. Zu der Frage, ob Orbán genau das Richtige macht: Der Fehler ist, dass wir als Europa einzelne Staaten mit ihren Problemen in dieser Frage alleine lassen. Wenn Ungarn weit über 100.000 Asylanträge in diesem Jahr hat, dann überrascht es mich nicht, wenn Ungarn versucht, mit Einzelmaßnahmen das Problem in den Griff zu bekommen. Meine große Sorge ist, dass wenn wir nicht schnell als Europa eine Lösung finden, dass immer mehr Staaten beginnen werden, alleine zu versuchen, das Problem zu lösen. Das wird schlecht gelingen, aber immer mehr werden es versuchen. Die Ungarn haben schon ihren Zaun gebaut. Bulgarien hat schon vor Langem den Grenzschutz verstärkt und von einer Mauer gesprochen. Die Dänen haben gerade die Sozialleistungen für Flüchtlinge halbiert. Wenn wir länger zuwarten, werden wir hier noch unser Wunder erleben.
Riedel: Das Problem ist doch aber auch, dass die Ungarn gleichzeitig die Art von Hilfe, die die EU relativ leicht anbieten könnte, nämlich 'Hotspots' einzurichten, wie es sie in Italien schon gibt, in Griechenland in Kürze geben wird, also europäisch betriebene und bezahlte Zentren, die diese Erstaufnahme von Asylbewerbern übernehmen können – dass Ungarn das überhaupt nicht will.
Kurz: Ja, ich unterstütze ganz klar die Idee, dass es hier Hotspots geben soll.
Riedel: Aber man kann es ihnen ja nicht verordnen. Wenn sie es nicht wollen, wollen sie es nicht.
Kurz: Ja. Ich glaube, es braucht einfach dringend eine breiter angelegte Diskussion zu diesem Thema. Wir diskutieren über Einzelmaßnahmen, ohne das gesamte Bild zu sehen. Und ja, die Hotspots sind ein wesentlicher Punkt – ich unterstütze sie. Was man da aber natürlich auch dazu sagen muss ist, dass die Flüchtlinge, die über die Westbalkanroute kommen, also die auch nach Ungarn kommen, die waren alle zuvor schon in Griechenland. Und insofern: Natürlich müssen wir mal an der griechischen Außengrenze beginnen und dort Hotspots einrichten. Denn es ist ja auch eine Schande, dass in ein Land, wie Mazedonien oder Serbien, Flüchtlinge aus der Europäischen Union, nämlich aus Griechenland, weiterziehen. Wir sind immer diejenigen, die mit dem erhobenen Zeigefinger als Europäische Union allen anderen begegnen und ihnen sagen, wie sie die Dinge regeln und tun sollen; jetzt strömen Tausende Flüchtlinge jeden Tag aus einem EU-Land in ein Nicht-EU-Land, das damit vollkommen überfordert ist, und wir reagieren nicht.
Riedel: Ich würde noch mal nachhaken wollen, was Dublin und Schengen angeht. Wenn ich Sie richtig verstehe, gehören Sie zu denjenigen, die sagen: Dublin funktioniert nicht mehr. Wir haben keine Ausnahmesituation, in der man mal kontrollieren muss, sondern wir haben eine ständige Ausnahme im Moment – Österreich hat auch wieder vermehrt mit Kontrollen begonnen, die Italiener haben mit Kontrollen begonnen. Wenn Dublin aber nicht funktioniert, kann Schengen nicht funktionieren, also der gemeinsame Bereich, innerhalb dessen man sich frei bewegen kann.
Kurz: Das ist das Gefährliche daran.
Riedel: Jetzt gibt es Menschen, die sagen – Sie gehören dazu –, es bedarf, um die Grenzen eben vernünftig sichern zu können, damit es innen freizügig bleiben kann, eines gemeinsamen europäischen Grenzschutzes. Warum sollte ein Land wie Ungarn so etwas wollen?
Kurz: Ja. Ich glaube, dass es vor allem einmal ein Thema für Griechenland und Italien ist. Und die haben, meinen Informationen nach, hier durchaus Interesse auch an Unterstützung. Grenzschutz ist auch etwas Aufwändiges, Kostspieliges. Wenn wir alle von den gemeinsamen sicheren Außengrenzen profitieren, dann ist es auch legitim, dass wir hier einen Beitrag leisten, finanziell, aber auch mit Knowhow. Aber wie Sie vorhin schon gesagt haben, unsere Idee des Europas ohne Grenzen fußt auf einer ordentlichen Außengrenze, die auch gesichert wird. Und wenn wir hier noch länger zusehen, dann habe ich durchaus die Sorge, dass zum Beispiel auch einmal etwas passiert. Was machen wir, wenn ein IS-Rückkehrer sich unter den Flüchtlingsstrom mischt? Was machen wir, wenn hier das erste Mal eine Tragödie geschieht? Dann ändert sich die Diskussion und das Stimmungsbild in Europa rapide. Und ich gebe ganz ehrlich zu, davor habe ich Angst. Und insofern hoffe ich, dass wir hier nicht noch länger zusehen, obwohl wir wissen, dass Vieles einfach nicht mehr so funktioniert, wie es eigentlich in den verschiedensten Verträgen und Vereinbarungen abgeschlossen und festgelegt ist.
"Flüchtlingshilfe-Verweigerern in der EU Stimmrechte zu entziehen, wird schwierig werden"
Riedel: In der kommenden Woche wird EU-Kommissionspräsident Juncker eine Rede zur Lage der Union halten. Natürlich wird das Migrations- und Flüchtlingsthema eine entscheidende Rolle spielen. Nachdem, was man schon gehört hat, wird er die Verteilung von ankommenden Flüchtlingen von 100.000 – EU-Ratspräsident Tusk hat sogar von 120.000 Flüchtlingen gesprochen, der zuständige Kommissar bei den Vereinten Nationen, Guterres, von 200.000 – vorschlagen. Wie will man erreichen, dass diejenigen Länder, die sich schon auf einen ersten Ansatz, zumindest mal 40.000 zu verteilen, nicht einigen konnten, sich daran beteiligen? Braucht man mehr Zuckerbrot, also finanzielle Unterstützung oder braucht man mehr Peitsche? Das geht ja hin bis Vorschlägen, die Stimmrechte in der Union zu entziehen, wenn jemand sich nicht beteiligen will.
Kurz: Also Stimmrechte entziehen, das wird schwierig gehen. Aber unser Bundeskanzler zum Beispiel hat auch klar gemacht, dass insbesondere Länder, die von Nettozahlern wie uns profitieren, indem sie auch finanzielle Unterstützung seitens der Europäischen Union bekommen, natürlich auch sich hier solidarisch beteiligen müssen, wenn dieses System so aufrecht erhalten werden soll. Insofern gibt es natürlich die Möglichkeit, hier auch Druck zu machen. Ganz entscheidend ist für mich aber schon auch, dass der Vorschlag für den Verteilungsschlüssel etwas durchdachter ist, als der letzte Vorschlag. Da kann man natürlich auf die Bevölkerungsgröße abzielen, auf die Arbeitsmarktsituation, auf die wirtschaftliche Lage in dem Land. Aber was natürlich nicht sein kann ist, dass wir hier nur von einer Verteilung von Flüchtlingen – im neuen Vorschlag – aus Griechenland und Italien und Ungarn in alle andern EU-Länder sprechen und gar nicht berücksichtigen, dass es Länder wie uns gibt, die in diesem Jahr wesentlich mehr Asylanträge haben. Ich nenne Ihnen hier eine Zahl: In diesem Jahr hatte Österreich pro Kopf zehnmal so viele Asylanträge, wie Italien und Griechenland zusammen. Das bedeutet: Ja, es gibt Länder, die eine Außengrenze haben, es gibt Länder, die formal und nach Dublin dafür zuständig wären, alle zu registrieren, aber es werden sehr viele weitergewunken, und dadurch gibt es Länder, wie Deutschland, Österreich oder Schweden, die wesentlich betroffener mittlerweile sind. Und insofern muss der Verteilungsschlüssel nicht nur gut überlegt sein, sondern es muss auch klar sein, dass wir nicht willkürlich auswählen, aus welchen Ländern wir wegverteilen, sondern von dieser Verteilung müssen auch Länder, wie Österreich oder Deutschland profitieren, als hauptbetroffene Länder. Und es kann nicht sein, dass die hauptbetroffenen Länder nochmal zusätzlich Flüchtlinge aufnehmen müssen.
Riedel: Wir haben schon die Frage nach dem Umgang mit den Ursachen der Flüchtlingsbewegung gestreift, das sind die Krisen dieser Welt eine davon. Tut die EU, was die Krisendiplomatie angeht, nicht genug?
Kurz: Also, die Europäische Union ist, meiner Meinung nach, sehr aktiv, was die Krisendiplomatie betrifft. Es gibt auch Erfolge, die wir nicht verschweigen sollten. Es ist erst vor wenigen Wochen oder Monaten ein Abkommen mit dem Iran in Wien zum Beispiel zustande gekommen, ein Abkommen, das den Iran aus der Isolation holt und somit eine Krise, die uns lange auch beschäftigt hat, zumindest einmal vorerst als gelöst scheint. Und insofern, glaube ich, sollten wir hier der Europäischen Union keinen Vorwurf machen. Was es aber schon braucht – und da ist es natürlich schwierig, als ein neutrales Land mit sehr geringen militärischen Kapazitäten, vorzupreschen –, aber was es, meiner Meinung nach schon bräuchte, wäre ein engagierterer Kampf gegen den IS-Terror – denn sehr viele unserer Flüchtlinge fliehen genau vor diesen Terroristen – und, meiner Meinung nach, wird hier militärisch noch viel zu wenig getan. Ein zweiter Punkt, wo wir aktiver werden müssen, ist die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge, die in der Region sind. Die Masse der Flüchtlinge zieht ja nicht sofort nach Europa weiter, sondern bleibt erst mal in den Nachbarländern.
Riedel: Das wäre dann mal Scheckbuchdiplomatie.
Kurz: Ja, natürlich. Wenn wir hier mehr Geld in die Hand nehmen, dann unterstützen wir einerseits, dass das Leid dieser Menschen vor Ort geringer wird und andererseits helfen wir uns selbst, weil der Migrationsdruck zurückgeht. Wir haben als Österreich jetzt gerade die Entscheidung getroffen, hier weitere zwei Millionen Euro in Flüchtlingscamps in der Region zu investieren – im Libanon, in Syrien, in der Türkei –, als Hilfe für die Menschen, aber auch in unserem eigenen Interesse. Darüber hinaus – und das ist schon etwas Entscheidendes – bin ich der Meinung, wenn wir schon diese Diskussion jetzt führen – und wir müssen sie führen –, müssen wir auch über einen Systemwechsel nachdenken. Denn es wäre langfristig ein wesentlich sinnvolleres System, wenn wir es möglich machen würden, Asylanträge in der Region zu stellen, in den Herkunftsländern zu stellen und nicht darauf zu warten, dass die Flüchtlinge mit den Schleppern nach Europa gebracht werden. Das, was wir hier betreiben, ist teilweise ein Schlepper-Förderungsprogramm und zum Zweiten führt es auch dazu, dass diejenigen, die nach Europa weiterziehen, meistens nicht die Ärmsten der Armen im finanziellen Sinne sind, denn sie haben einige Tausend Dollar oder Euro für die Schlepper, und es sind auch meistens junge Männer, die fit genug sind, diese Reise überhaupt zu überstehen. Die Alten, die Kranken, die Frauen, die Kinder, die Schwangeren, das sind diejenigen, die meistens in der Region zurückbleiben müssen. Also unser System hat schon neben dem, dass es innerhalb Europas nicht funktioniert, sehr starke Schattenseiten, die man auch einmal beleuchten sollte.
"Es kann nicht unser Ziel sein, dass jeder nach Europa flüchten muss"
Riedel: Nun gibt es ja Pläne, die auch relativ konkret werden. Die EU-Außenbeauftragte Mogherini wird nach Niger fahren in den kommenden Tagen; im Niger soll unter Umständen probeweise ein erstes EU-Auffanglager für Flüchtlinge aufgebaut werden, also ein Hotspot auf afrikanischem Boden. Der Vorwurf, der sich daran natürlich ganz leicht knüpfen lässt ist: 'Festung Europa' – jetzt versucht ihr die Menschen außen vor zu halten. Anstatt legale Wege zu schaffen, zu uns zu kommen, versucht ihr sie abzufangen!
Kurz: Natürlich kann man Vorwürfe machen mit solchen Reizworten. Aber es kann ja nicht unser Ziel sein, dass jeder nach Europa flüchten muss oder glaubt, dorthin flüchten zu müssen, das kann weder funktionieren, noch kann es unser Ziel sein. Und wir wissen, dass Menschen, die bis nach Europa geflohen sind, zum Beispiel, wenn der Fluchtgrund überwunden ist, wesentlich seltener zurückkehren. Wir wollen zum Beispiel in Syrien, im Irak doch bitte keine Region, in der es keine religiösen Minderheiten mehr gibt, in der es keine normaldenkenden Menschen mehr gibt und der IS-Terror sich durchgesetzt hat, weil er alle nach Europa vertrieben hat und selbst wenn der Kampf gegen den IS-Terror gewonnen ist, keiner mehr zurückkehrt, weil alle in Europa sind. Das kann doch nicht unser Ziel für die Region sein. Und es kann auch nicht sinnvoll für diese Länder sein, wenn gerade die jungen Männer alle nach Europa weiterziehen. Insofern sehe ich diesen Vorwurf nicht. Es ist kein nachhaltiges Konzept zu glauben, dass wir jedem hier eine Unterkunft in Europa schaffen können. Man muss schon auch bei den Zahlen bedenken, dass ja mehr als die Hälfte der Flüchtlinge, die zu uns strömen, nach wie vor Wirtschaftsflüchtlinge sind, die keine Chance auf einen positiven Asylbescheid in Europa haben und auch wieder zurückgestellt werden müssen, das heißt, ein sehr, sehr aufwändiges System. Die Hilfe vor Ort ist da oftmals wesentlich effizienter.
Riedel: Es wird einen EU-Afrika-Sondergipfel aus Anlass der Flüchtlingskrise auf Malta im November geben. Muss man da noch viel mehr das betreiben, was man auf angelsächsisch so schön "thinking out of the box" nennt? Also, müssen die Ansätze für Entwicklungshilfe noch viel kreativer werden? Müssen wir Ausbildungspartnerschaften machen? Müssen wir tatsächlich Rückkehrer auch dann vor Ort finanzieren? Müssen wir unsere Entwicklungshilfe letztendlich zielgenauer und auch kreativer machen?
Kurz: Ja, definitiv. Ich habe ein sehr gutes Gespräch mit einem Afrikaner vor wenigen Tagen gehabt, der in Europa studiert hat, dann nach Afrika zurückgegangen ist und jetzt bei uns in Österreich ausgezeichnet worden ist. Und er hat sich dann zur Wort gemeldet zur Flüchtlingskrise und hat gesagt: 'Ihr macht einen Fehler, wenn ihr glaubt, ihr müsst alle aufnehmen. Helft uns lieber, dass es bei uns besser wird!' Das heißt, der einzige Weg kann eine positive Entwicklung für diesen Kontinent sein. Und was die Entwicklungszusammenarbeit betrifft, da gibt es jetzt – Gott sei Dank – sehr viel Bewegung. Wir kommen weg von einer reinen Unterstützung, hin zu wesentlich nachhaltigeren Projekten. Wir setzen in Österreich zum Beispiel sehr stark jetzt auf Wirtschaftspartnerschaften. Das heißt, wir unterstützen Unternehmen, die in Afrika investieren wollen, die dort Ausbildungsplätze schaffen und so langfristig auch Arbeitsplätze dort sichern.
Riedel: All das hätte man natürlich alles auch schon früher machen können. Nun ist "hättest", "könntest", "dürfte" immer schwierig. Aber es stellt sich ja schon die Frage...
Kurz: Es ist trotzdem besser, etwas jetzt zu machen, als es nie zu machen.
Riedel: Aber es stellt sich natürlich schon die Frage, ob es erst dieser Dramen, die wir im Moment erleben, bedarf, dass das passiert, wovon wir schon so lange reden. Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen. Es geht ja nicht nur um Fördern und Wachstum und Investitionen und Ähnliches, es geht auch darum, dass man von diesen Ländern, den Herkunftsländern, erwartet, dass Menschen, die hier kein Asyl bekommen, weil sie nach unseren Regeln kein Asylrecht genießen, wieder aufgenommen werden sollen. Und da gibt es dann auch so kreative Ideen zu sagen: Dann lass uns doch unser Entwicklungsengagement an die Bereitschaft dieser Länder knüpfen, die Menschen dann auch zurück zu nehmen. Wäre das ein gangbarer Weg?
"Wir brauchen einen Gipfel der Staats- und Regierungschefs zur Flüchtlingskrise"
Kurz: Na ja, natürlich. Definitiv braucht es hier natürlich auch das klare Wort der Europäischen Union, dass Zusammenarbeit niemals nur in eine Richtung laufen kann. Und wenn wir in Ländern als Europäische Union aktiv sind, helfen, unterstützen, dann muss es auch klar sein, dass diese Länder bereit sind, Personen zurück zu nehmen, die bei uns keinen positiven Asylbescheid bekommen. Und ja, natürlich, diese Macht, die muss man auch nutzen. Es ist ja nicht zum Schaden des Landes, es ist auch nicht unfair, sondern es ist eigentlich ein ganz normales Prozedere, das selbstverständlich sein sollte und das ja mit vielen Ländern funktioniert, ohne dass man Druck auf sie ausüben muss.
Riedel: Der EU-Afrika-Sondergipfel, von dem wir schon gesprochen haben, ist offenbar der Sondergipfel der EU – nachdem wir im Frühjahr einen hatten – zur Flüchtlingsfrage. Reicht das aus oder kann er dem Eindruck, der in der Öffentlichkeit entstanden ist, genug entgegen setzen, dass die EU gipfelte, was das Zeug hält, als es um die Finanzkrise ging, um Griechenland ging, und bei den Flüchtlingen ist es eher still?
Kurz: Natürlich reicht das nicht aus. Es ist ein Armutszeugnis, dass wir noch keinen Gipfel der Staats- und Regierungschefs zur Flüchtlingskrise hatten. Bitte, man muss sich vorstellen, wir haben mitten in Europa mittlerweile die Situation, dass zum Beispiel die direkten Zugverbindungen zwischen Wien und Budapest eingestellt sind. Wir haben die Situation, dass sich Tausende Menschen zu Fuß auf den Weg von Ungarn nach Österreich gemacht haben. Wir haben dramatische Szenen, die sich hier abspielen zwischen Polizeikräften und Flüchtlingen mitten in Europa. Wir haben in Mazedonien und Serbien Länder, die vollkommen überfordert damit sind, dass aus einem EU-Land täglich Tausende Flüchtlinge zu ihnen strömen, um wieder in ein anderes EU-Land weiterzuziehen. Dass wir hier als Europäische Union zusehen, das ist absolut der falsche Weg! Und insofern kann ich nur wieder darauf drängen, dass es dringend einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs zu dieser Krise gibt, auch unter Einbindung aller Minister, die einen Beitrag leisten können – die Innenminister, die Verteidigungsminister, die Justiz- und die Außenminister. Denn wir dürfen nicht den Fehler machen zu glaube, dass wir diese Krise aussitzen können oder dass ohnehin bald die kalte Jahreszeit kommt und dann die Flüchtlingsströme wieder zurückgehen.
Riedel: Aber wir hatten ja einen Gipfel zur Flüchtlingsfrage im Frühjahr und der hat ja durchaus auch Ergebnisse gebracht: Anti-Schlepper-Mission beispielsweise, ein Beginn von Umverteilung. Was würden Sie denn denken, was ein so neuer Gipfel Neues bringen könnte?
Kurz: Aber Sie müssen mir doch Recht geben, dass die Maßnahmen, die dort beschlossen worden sind, gut sind, dass es sie gibt, aber im Vergleich zu dem, was wir brauchen, in Wahrheit nur Kosmetik stattgefunden hat. Wir haben weder eine Verteilung innerhalb der Europäischen Union, noch eine ordentliche Grenzsicherheit, noch ein ordentliches Engagement in den Herkunftsländern zusammengebracht. Wir sind weder beim Kampf gegen die Fluchtgründe, noch bei unseren innereuropäischen Maßnahmen deutlich vorangekommen.
Riedel: Und ein Gipfel wird es dann richten?
Kurz: Da bin ich mittlerweile, nach eineinhalb Jahren im Außenministerium, ein bisschen anderer Meinung, als ich am Anfang war. Ich habe am Anfang diese Gipfel und Treffen teilweise verachtet, weil ich der Meinung war: Ein Riesenaufwand, jeder muss hinfahren, sehr viel Zeit, sehr viel Geld und meistens kein Output. Mittlerweile habe ich gelernt, dass es oftmals einfach einen Zeitpunkt braucht, um Druck aufzubauen, um zu zeigen: Bis dahin muss etwas fertig sein, um auch in die Auseinandersetzung zu gehen und Dinge auszustreiten, um vielleicht auch den Druck der Medien zu spüren. Das habe ich in den eineinhalb Jahren als Außenminister gelernt und insofern weiß ich jetzt, dass es zwar immer die Gefahr gibt bei einem Gipfel, dass nichts herauskommt, aber ich weiß umso mehr, dass wenn es diese Sitzungen, Deadlines oder Gipfel nicht gibt, dass dann die Gewissheit ist, dass sich alle zurücklehnen. Und in dieser Phase sind wir im Moment.
Riedel: Herr Kurz, herzlichen Dank für das Gespräch.
Kurz: Vielen Dank.