spiegel online, 12:33 Uhr, 20.10.2015
Deutsche Lügen - Eine Kolumne von Jakob Augstein
Erst VW. Jetzt der Fußball. Nichts ist mehr heilig in Deutschland. Überall lauern Lug und Trug. Welche "Werte" sollen die Einwanderer noch mal anerkennen? Die deutschen? Lieber nicht.
Das war's. Erst die Autos. Dann der Fußball. Jetzt ist nichts mehr unbefleckt. Der ganze Stolz der Deutschen ist hin. Jeder Hohn und alle Häme bleiben einem im Hals stecken. Es lässt sich gar nicht ermessen, was da jetzt den Bach runtergeht. Eine ganze Generation lernt ihre Lektion in Zynismus.
Das erste Opfer ist die Leitkultur-Debatte. Was sollen die Einwanderer mit "deutschen Werten" anfangen, wenn nicht mal die Abgaswerte etwas taugen und selbst eine Fußballweltmeisterschaft offenbar nur ein Fest der Korruption ist? (Lesen Sie hier die Titelgeschichte im neuen SPIEGEL)
Neulich haben wir gelernt: Ohne Betrug kann VW gewisse Abgasnormen nicht einhalten. Jetzt erfahren wir: Ohne Korruption kann Deutschland anscheinend keine Fußballweltmeisterschaft ausrichten. Die Erschütterung ist nicht zu überschätzen. Dies alles könnte noch unser 11. September werden. Damals wurden die Vereinigten Staaten von außen angegriffen, und die Gegenwehr galt einem äußeren Feind. Die Angriffe, die Deutschland jetzt erschüttern, fordern keine Menschenleben - aber für die Moral des Landes sind sie unweit gefährlicher. Sie kommen von innen. Sie höhlen uns aus. Wenn sich die Deutschen nicht mehr auf VW und Fußball verlassen können, dann erleben sie den Zusammenbruch ihrer Moral.
Vor zwanzig Jahren schrieb Henryk M. Broder einen klugen Artikel über Deutschland. Dort hieß es: "Das zentrale deutsche Problem ist weder das Waldsterben im Allgäu noch das Ozonloch über der Antarktis. Es ist die nicht erfüllte Bestrafungserwartung nach dem kollektiven Ausrasten von 1933 bis 1945. Soweit haben die Nazis das moralische Fundament der Volksgemeinschaft doch nicht aufgeweicht, als daß die gewesenen Volksgenossen nicht mehr wüßten - oder wenigstens ahnten -, daß dem Verbrechen die Strafe zu folgen habe." Aber für den Westen gab es keine Strafe. Stattdessen nur eine selbstauferlegte Pflicht: die süße Pflicht zum Guten - samt dem daraus resultierenden Wohlgefühl.
Wir sind ein hochmütiges Volk. Friedrich Schiller schrieb: "Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte, doch der Tag des Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit." Darunter ging es nicht. Und als alles in Trümmern lag, da fragten sich die Deutschen, was nun aus ihren Tugenden werden sollte, wenn es doch vor allem solche waren, mit denen man ein Konzentrationslager leiten konnte. Und sie fragten sich, was vom Wort "Anstand" geblieben war, nachdem Heinrich Himmler es im Herbst 1943 in jener berüchtigten Rede von Posen gebraucht hatte. Also pflegten die Deutschen eben das Gefühl, durch Schuld und Sühne gereinigt, gleichsam auserkoren zu sein, den anderen den richtigen Weg zu weisen. Auch der Sündenstolz ist ein Stolz.
Darf man von Volkswagen auf den Volkscharakter schließen?
Zuletzt haben in Europa die Griechen gelernt, was es heißt, die Deutschen als Lehrmeister zu haben. Die betrügerischen Griechen, die sich in den Euro geschummelt hatten. Denen haben die Deutschen gesagt: Nehmt euch ein Beispiel an uns. Wir sind ehrlich. Wir arbeiten hart. Aber so hart, die US-Abgasnormen auf legalem Weg einzuhalten, wollten die Deutschen dann doch nicht arbeiten. Und so ehrlich, die Weltmeisterschaft auf legalem Weg zu erhalten, konnten sie dann wohl doch nicht sein. Man wird es den Griechen nicht verübeln, wenn sie den Deutschen künftig gelassener begegnen.
Darf man von Volkswagen auf den Volkscharakter schließen? Soll man Franz Beckenbauer als das Rollenmodell sehen, als das er sich selbst jahrzehntelang präsentiert hat? Dann wären die Deutschen möglicherweise ein Volk von Lügnern und Betrügern.
Wir werden sehen, was die Einwanderer daraus machen, die jetzt in Scharen zu uns kommen. Die werden ja beim Grenzübertritt gleich vergattert. Sigmar Gabriel: "Man muss unsere Werte nicht nur kennen, sondern auch aktiv annehmen." Necla Kelek: "Die Muslime müssen unsere Werte akzeptieren lernen." Joachim Gauck: "Unsere Werte stehen nicht zur Disposition." Aber ein bisschen stehen sie offenbar schon zur Disposition, wenn der größte Autokonzern und wohl auch der größte Fußballer in einem Land, für das nichts so zählt wie Autos und Fußball, es mit diesen ganzen Werten nicht so genau nehmen.
Ja, man kann sich ein Bild von Deutschland malen, so schön, dass man davon ganz betrunken wird. So wie Nils Minkmar das so liebenswert im SPIEGEL getan hat: "Das Land hat die Kurve gekriegt. Deutschland ist mehr als erfolgreich, mehr als lebenswert, es ist in diesem Sommer schlagartig sympathisch geworden, bewohnt von Menschen, die ihre Freiheit nicht bloß aushalten, sondern sich daran erfreuen. Die Leute in Deutschland sind heute anders." Aber das ist eine Illusion.
Der amerikanische Journalist Roger Cohen, der Deutschland seit Langem beobachtet, hat einen realistischeren Blick: "Es ist etwas ungewöhnlich Deutsches an der Kluft zwischen den Bekundungen moralischer Rechtschaffenheit und dem unbesonnenen Fehlverhalten, zwischen Hochkultur und niederem Verhalten." Jenes Deutschland, das er kannte, schrieb Cohen, sei verblasst: "Anstelle der Selbstbefragung, die das Beste zum Vorschein brachte, sind unterschiedliche Formen der Selbstgefälligkeit, ja sogar des Gedächtnisverlusts getreten."