Karl Nolle, MdL

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.08.2018

Martin Höpner: Keine Eulen nach Athen: Wacht endlich auf aus dem linksliberalen Schlaf!

 
Warum ich die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ unterstütze

von Martin Höpner

Die politische Landschaft ist in Bewegung geraten. Derzeit formiert sich, maßgeblich angestoßen von der Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht, eine Sammlungsbewegung mit dem Namen „Aufstehen“. Eine Parteigründung wird nicht angestrebt. Vielmehr soll es darum gehen, auf die bereits bestehenden Parteien des Mittelinks-Spektrums einzuwirken – mit dem Ziel, den sozialen Zusammenhalt zurück in das Zentrum progressiver Aufmerksamkeit zu rücken.

Dieses Ziel klingt einigermaßen merkwürdig. Aufstehen, um Eulen nach Athen zu tragen? Ist die Sensibilität für die Verteilungsfrage, ist das Engagement für sozial Ausgegrenzte nicht gerade das, was linke Politik ausmacht? So könnte man meinen. Aber sehen Sie sich einmal im Internet an, an welchen Stellen der Leipziger Parteitag der Linkspartei vom vergangenen Juni wirklich lebhaft wurde. Da ging es nicht um Steuerkonzepte, Rentenpolitik oder Sozialwohnungen, sondern um Migration, genauer: um die vermeintliche Rechtsoffenheit jener, die die Maximalforderung „offene Grenzen für alle“ kritisieren.

Die tumultartigen Szenen aus Leipzig waren Ausdruck einer übergeordneten Transformation der Orientierungspunkte, anhand derer sich die Zugehörigkeit zum linken Lager entscheidet. Dieser Wandel ist kein Spezifikum der Linkspartei, sondern findet ebenso in der SPD und bei den Grünen, in Stiftungen und – mit Abstrichen – bei den Gewerkschaften statt. Überall dort hat sich die Aufmerksamkeit von der sozialen Konfliktachse auf eine Querachse verlagert, die von Kosmopolitismus, „mehr Europa“, offenen Grenzen und der Verallgemeinerung des postmodernen, urbanen Lebensstils handelt. Dort, nicht auf der sozioökonomischen Achse, findet derzeit Politisierung statt.

Das Problem wäre überschaubar, würde es allein in der Verwässerung der progressiven Aufmerksamkeit für die soziale Frage bestehen. Der Konflikt schneidet aber tiefer, denn auf der Querachse stehen sich der postmoderne Kosmopolit und der sozial Marginalisierte in aller Regel als Gegner gegenüber. Das kosmopolitische Ideal spricht dem gutausgebildeten Globalisierungsgewinner aus der Seele. Ihm stehen die ortsgebundenen „locals“ gegenüber, die zu Recht ahnen, dass sie die vom Kosmopoliten für rückwärtsgewandt gehaltenen Institutionen des Nationalstaats noch einmal brauchen könnten.

Dieser Konflikt schwelt schon länger. Vor zwei Jahren war es dann die Migrationsfrage, die aus ihm einen Flächenbrand machte, der insbesondere die Linkspartei an den Rand der Spaltung führte. Die vorbehaltlose Verteidigung des Asylrechts ist dort, wie auch anderswo im Mitte-links-Spektrum, unumstritten. Anders verhält es sich mit der Verallgemeinerung der offenen Grenzen für Verfolgte zu offenen Grenzen für alle. Die Kritiker dieser Position verweisen auf die Verschärfung der Konkurrenz im unteren Segment des Arbeitsmarkts, um soziale Dienste, um erschwinglichen Wohnraum, um die Aufmerksamkeit überforderter Lehrer, um den Platz an den Tafeln. Dies alles sind genuin soziale Fragen. Abgehandelt wird der Konflikt aber in der Sprache der Querachse, in der es auf der einen Seite Weltoffenheit und Toleranz gibt und auf der anderen Seite Nativisten – und Schlimmeres.

Der bedingungslose Kosmopolitismus hat auch die Sicht auf die Europäische Union vernebelt. Hört man seinen Protagonisten zu, könnte man meinen, das „soziale Europa“ existiere wirklich. Tatsächlich aber hat sich die EU zu einem Vehikel der Marktschaffung entwickelt, während das soziale Versprechen der europäischen Integration seit dem Binnenmarktprogramm keinen Fuß mehr vor den anderen gekriegt hat. In allen mir bekannten Parteien und Organisationen des Mitte-links-Spektrums ist die Beschäftigung mit diesem glasklaren Fakt tabuisiert. Es gäbe Wege, das Soziale besser vor den Übergriffen der Binnenmarktfreiheiten, des europäischen Wettbewerbsrechts und der im Zuge der Euro-Rettung eingeführten Überwachungs- und Korrekturverfahren zu schützen. Die Forderung nach solchem Schutz aber gilt den linken Integrationisten als rückwärtsgewandt, nostalgisch, ja „sozialnationalistisch“. Unterhalb der Maximalforderung nach Ablösung der Nationalstaaten durch möglichst rasch zu gründende „Vereinigten Staaten von Europa“ sind für weite Teile in SPD, Grünen und Linkspartei alle Katzen grau – eine Eigenart der deutschen Linken übrigens, die anderswo in Europa keine Nachahmer findet.

Ein anderes Anschauungsobjekt ist die Behandlung der inneren Sicherheit als Thema „der anderen“, also: der Rechten. Gehen Sie auf eine hauptsächlich von Linken besuchte Feier, dann äußern Sie dort besser nicht, die Bandenkriminalität nähme zu und verlange nach einer Antwort des Staates. Den Verdacht auf Rassismus werden Sie den Abend über nicht mehr los. Ihr Einwand, dass angesichts der zunehmenden sozial-räumlichen Segregation nun einmal bestimmte Schichten unter diesen und anderen Fehlentwicklungen leiden, hilft nicht. Denn abgehandelt wird der Konflikt garantiert nicht als soziales Problem. Vielmehr stellen Sie den postmodernen, urbanen Lebensstil in Frage.

Man möge mir nachsehen, dass ich den Konflikt überzeichne, um seine Grundstruktur zu verdeutlichen. Natürlich sind die Haltungen im Mitte-links-Spektrum in Wahrheit vielschichtiger, der Kosmopolitismus existiert ebenso wie die Einwände gegen ihn in unterschiedlichen Graden und Facetten. Worauf es hier ankommt, ist die Einsicht, dass sich die Linke durch die Überpolitisierung der kosmopolitischen Konfliktachse in doppelter Hinsicht von den Interessen der sozial Marginalisierten abgewandt hat: einmal durch die Relativierung der Aufmerksamkeit für soziale Problemlagen und dann noch einmal durch die Gegnerschaft zu den „locals“, die umso mehr zunimmt, je mehr der urbane Globalisierungs- und Modernisierungsgewinner zum Zielpunkt politischer Ansprache wird. Die von der kosmopolitischen Party Ausgeschlossenen reagierten bekanntlich in zwei Schüben: zuerst durch Wahlenthaltung und seit einigen Jahren durch vermehrte Hinwendung zum Rechtspopulismus.

Dieser Status quo ist nicht in Stein gemeißelt. Aber von allein werden sich die Parteien nicht von ihm wegbewegen. Es braucht eine Kraft, die von außen auf sie einwirkt. Die von ihnen einfordert, sich für die sozial Marginalisierten überhaupt erst einmal wieder zu interessieren, selbst wenn sich das nicht von heute auf morgen in Wählerstimmen auszahlt. Die nicht nach neuen Erzählungen sucht, sondern echten programmatischen Wandel einfordert. Und die auch den Mut aufbringt, zu fragen: Was haben wir falsch gemacht?

Einer linken Sammlungsbewegung geht es nicht darum, dem Internationalismus die Vorsilbe zu nehmen. Es geht um das glaubhafte Eintreten für eine realistische Reformpolitik, die einen fairen Ausgleich zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Globalisierung herbeiführen will. Hierfür aber ist es notwendig, die bestehenden linken Parteien zunächst einmal aus ihrem linksliberalen Schlaf zu wecken und sie dazu anzuhalten, die Schattenseiten der Globalisierung und der europäischen Integration ebenso klar in den Blick zu nehmen wie ihre Vorzüge. Weil ich davon überzeugt bin, dass dies die richtige Antwort auf den Aufstieg des Rechtspopulismus ist, unterstütze ich die Sammlungsbewegung und sehe den Entwicklungen der kommenden Monate mit Freude entgegen.

Martin Höpner, geboren 1969, ist Politikwissenschaftler, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und außerplanmäßiger Professor an der Universität zu Köln. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Vergleichende Politische Ökonomie.

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