DIE ZEIT, 07.06.2018
Bernd Stegemann/Sahra Wagenknecht: Von linker Moral und neoliberalen Interessen
Unser Plan für eine Sammlungsbewegung
von Bernd Stegemann und Sahra Wagenknecht
Nach jüngsten Umfragen steht die SPD bei rund 17 Prozent, Grüne und Linke kommen jeweils auf etwa 10 Prozent. Was im vorigen Bundestag zumindest rechnerisch noch möglich war, ist in weite Ferne gerückt: eine Mehrheit für linke Politik in Deutschland. Zugleich scheint es schwer vorstellbar, dass nicht die Mehrheit der Bevölkerung eine Politik wählen würde, die für Abrüstung und Frieden, für höhere Löhne, bessere Renten und gerechte Steuern ist. Es gibt also einen eklatanten Widerspruch zwischen der mangelnden Zustimmung zu Parteien, die dem linken Lager zugerechnet werden, und dem Wunsch nach einer solidarischen Gesellschaft.
Wer diesen Widerspruch verstehen will, darf sich nicht nur den Kopf darüber zerbrechen, warum die SPD nicht aus dem Gefängnis ihrer Agenda-Politik herausfindet, sondern muss auch darüber nachdenken, warum die meisten Wähler, die der SPD abhandenkommen, nicht etwa zur Linkspartei wechseln, sondern entweder im Lager der Nichtwähler untertauchen oder der AfD ihre Stimme geben. Dass inzwischen mehr Arbeiter und Arbeitslose AfD wählen als SPD (oder Linkspartei), sollte jedem progressiven Geist schlaflose Nächte bereiten - macht es doch deutlich, wohin das politische business as usual eines Tages führen kann: zu einem deutschen Donald Trump im Kanzleramt.
Wem vor einer solchen Perspektive graut, der muss die eingefahrenen Wege verlassen. Es gibt einige europäische Länder, in denen aus dem Niedergang der traditionellen Parteien erfolgreiche linke Bewegungen entstanden sind, etwa Podemos in Spanien oder La France insoumise in Frankreich. Beide sind heute Wortführer der Opposition in ihren Ländern und setzen die Themen der öffentlichen Debatte. In Großbritannien hat sich die Labour Party mit Jeremy Corbyn zu echter Erneuerung durchgerungen und gute Aussichten, aus der nächsten Wahl als Sieger hervorzugehen. Und überall dort, wo ein neuer linker Aufbruch gelingt, sieht die politische Rechte schnell so alt aus, wie sie es verdient. Sollten das nicht hinreichende Gründe dafür sein, auch in Deutschland eine überparteiliche Sammlungsbewegung zu starten, die zusammenführt, was bisher getrennt agiert?
Eine solche Bewegung könnte durch eine Mischung aus unkonventionellem Politikstil und moderner digitaler Infrastruktur, klassischen sozialen Forderungen und ungewohnten Gesichtern, die zum überwiegenden Teil selbst keine Politiker sind, jene vielen wieder erreichen, die sich in den vergangenen Jahren verärgert und entmutigt von den etablierten Parteien abgewandt haben. Allerdings gibt es eine Gemeinsamkeit aller in Europa erfolgreichen linken Projekte: Sie haben in der Konsequenz mit dem Neoliberalismus gebrochen. Versuchen wir also, eine Antwort auf eine existenzielle Frage linker Politik zu finden: Warum ist die Befreiung aus dem Neoliberalismus so schwer? Sein Geheimnis besteht bekanntlich darin, dass er zwei gegensätzliche Begriffe von Freiheit verbindet. Er fordert die Freiheit für den Markt, damit sich die Akteure dort bestmöglich in Konkurrenz bringen können. Und er setzt die Menschen frei, sich selbst zu optimieren, um sich auf diesem Markt erfolgreich zu verkaufen. Freiheit ist eine schöne Sache, denken viele. Doch was meint Freiheit, wenn sie der Fuchs vorm Hühnerstall fordert? Die konkreten Folgen dieser doppelten Freiheit dringen in alle Poren des gesellschaftlichen Zusammenhangs vor. Unter den Schlagworten Grenzenlosigkeit und Diversität haben sich die Widersprüche inzwischen zu einem Komplex aus Moral, Interessen und Herrschaftstechnik verquickt. Grenzenlosigkeit ist die Geschäftsgrundlage, mit der multinationale Konzerne demokratische Regeln umgehen, Steuern vermeiden und die heimischen Arbeitsmärkte unter Druck setzen. Und Grenzenlosigkeit ist für ein bestimmtes Milieu in den Wohlstandszonen eine moralische Pflicht und ein konkreter Genuss. Wer für sich die Frage vermeidet, wie begrenzte Ressourcen gerecht verteilt werden können, wer nie existenziell erleben musste, dass Rivalität um knappe Güter zu Gewalt führt, und wer die Welt aus der Perspektive eines Menschen sieht, dessen soziale, intellektuelle und sprachliche Kompetenzen ihn befähigen, überall auf der Welt leben zu können, der lebt in einer anderen Welt als die meisten anderen. Die Fülle dieser Privilegien sei ihm gegönnt, wenn er denn auf die zentrale Frage eine befriedigende Antwort hätte: Warum sollen alle anderen Menschen seine Sicht auf die Welt teilen? Warum soll das der Arbeiter am Flughafen in Los Angeles tun, der den Koffer des Privilegierten aus dem Flugzeug lädt, die Näherin in Bangladesch, die dessen Designerklamotten anfertigt, oder der Müllwerker in Deutschland, der dessen ordentlich getrennte Mülltonnen leert? Die Antwort auf diese Frage fällt fast immer enttäuschend aus. Man versuche, ökologisch korrekt zu leben, und sei an einem moralisch intakten Verhalten interessiert. Was übersehen wird, sind die materiellen Bedingungen einer solchen Moral. Man muss sich ein solches Leben leisten können, und man muss geschickt ausblenden, dass nicht alle die gleichen Privilegien genießen.
Streitfragen werden inzwischen immer öfter dadurch entschieden, dass die jeweilige andere Partei moralische Noten vergibt. Werden die sozialen Verhältnisse als sehr ungleich beschrieben, erfolgt unmittelbar das Attest, dass es sich hier wohl um eine pessimistische und wenig zukunftsfrohe Meinung handeln müsse. Wird auf die Ungleichheit der Vermögen und die damit verbundene Ungerechtigkeit bei den Aufstiegschancen verwiesen, wird das als Neiddebatte diffamiert. Und wird auf die Privilegien der Doppelmoral hingewiesen, so wird das als gefährlicher Populismus gebrandmarkt. Vor allem in den Auseinandersetzungen in der Migrationsfrage werden diese Pirouetten immer wieder neu gedreht. Die Streitereien sind häufig sinnlos, weil die eine Seite leugnet, dass es den "Flüchtling" eben zweimal gibt. Er ist einmal der vor Gefahren Fliehende, und dann ist er der nach einem besseren Leben suchende Arbeitsmigrant. Er ist der Schutzbedürftige, und er ist der Konkurrent um die knappen Ressourcen am unteren Ende der Gesellschaft. Er ist der Fremde, den es zu beherbergen gilt, und er ist der Fremde, dessen unbekanntes Verhalten zu Verunsicherung führen kann. Die moralische Position in diesem Streit macht sich dieses Doppelwesen in einer raffinierten Volte zu eigen. Wer hier dennoch versucht zu unterscheiden, unterliegt gnadenlos dem absoluten Anspruch der Mitmenschlichkeit. Wer argumentiert, dass Fliehenden geholfen werden muss, aber über den Umfang der Arbeitsmigration mit den einheimischen arbeitenden Menschen ein Konsens gefunden werden muss, hat augenblicklich verloren. Der dauernde Wechsel der Argumentation führt zu einer Position, deren Kern eine absolute moralische Forderung ist: Kein Mensch ist illegal, die Grenzen müssen offen für alle sein, die kommen wollen, und jeder, der kommt, hat Anspruch auf die landesüblichen Sozialleistungen, solange er keine Arbeit findet. Eine linke Position dagegen müsste die Bereitschaft zur Hilfe auch und gerade mit denjenigen in unserer Gesellschaft verabreden, die selbst schon an den Rand gedrängt sind und die über keine laute Stimme mehr verfügen. Man kann eine solche Abwägung diffamieren, indem man ihr vorwirft, hier würden Arme gegen Flüchtlinge ausgespielt. Ein solcher Vorwurf ignoriert jedoch die Realität, in der genau diese Kämpfe stattfinden, egal ob sie den
Politikern genehm sind oder nicht. Die Vertreter der Moral sehen dagegen keinen Anlass, über die Bedingungen ihrer Wahrheit zu verhandeln. Ihre Weltsicht fühlt sich gut an, und sie sind darüber mit sich selbst im Reinen. So weit handelt es sich um das ganz normale Verhalten von Menschen, die in einer komplizierten Welt gern unschuldig bleiben wollen. Es gibt darin liebenswerte Züge der Umsicht und Rücksicht, und es gibt darin die unangenehmen Eigenschaften der Besserwisserei und Bevormundung. In jedem Fall blendet diese Moral offensichtliche Zusammenhänge aus, wenn sie ihr eigenes gutes Gefühl in einer Willkommenskultur pflegt, um dann die realen Verteilungskämpfe in ein Milieu zu verbannen, das sich weit weg vom eigenen Leben befindet. Es handelt sich also eher um einen Fall von Doppelmoral.
Ein Beispiel dafür ist auch die Instrumentalisierung der AfD. Aus der rechten Protestpartei macht der geschickte Doppelmoralist einen schlagenden Grund, warum man ihn auf keinen Fall mehr kritisieren dürfe. Seine Strategie besteht darin, die AfD einerseits größer zu machen, als sie (augenblicklich zum Glück noch) ist, um dann zu fordern, dass nun alle guten Kräfte zusammenstehen müssen gegen den neuen Faschismus. Man ist an der Macht und wesentlich verantwortlich für den Aufstieg der AfD, schürt aber jetzt selbst Ängste, um sich dadurch jede Kritik verbitten zu können, die ja nur Wasser auf die Mühlen der AfD wäre. Vorwürfe, etwas oder jemand sei ein Büttel der AfD, sind heute so geläufig, dass, angenommen, sie würden alle stimmen, es längst zu einer Mehrheit für ganz rechts reichen würde. Wie gefährlich eine solche Inflation von Vorwürfen ist, wird hingegen vergessen. Denn wie nennt man den Nazi, wenn jeder ein Nazi ist, der nicht meiner Meinung ist? Dass der Einsatz dieser gefährlichen Ausgrenzung auch nicht vor explizit linken Positionen haltmacht, zeigen gerade einige Reaktionen auf den Plan einer linken Sammlungsbewegung. Dass es bei der Ablehnung einer solchen Bewegung zu einer munteren Querfront von CDU, Grünen sowie Teilen der SPD und der Linkspartei kommt, scheint weder die einen noch die anderen zu stören. Hätte es noch eines Beweises für das Zusammenspiel zwischen linker Moral und neoliberalen Interessen bedurft, so wäre es spätestens jetzt offensichtlich geworden. Aber lässt man sich nicht von den Bannflüchen erschrecken, zeigt die Art der Kritik an der geplanten Bewegung vor allem, wie genau sie den blinden Fleck der aktuellen Politik getroffen hat. Denn wo ist die Kraft, die die Interessen der ärmeren Menschen in diesem Land vertritt und nicht gleichzeitig - und sei es ungewollt - die Bedingungen für prekäres Leben vergrößert? Wo ist die Kraft, die nicht aus der moralischen Überheblichkeit der Privilegierten Verteilungskämpfe als Ausdruck von schlechtem Charakter abqualifiziert? Wo ist mit einem Wort eine machtvolle Bewegung, die endlich wieder einen Widerspruch zwischen der Freiheit des Kapitals und der Freiheit des Menschen erkennt? Und wo sollen politische Mehrheiten herkommen, die gegen die unbegrenzten Kapitalfreiheiten kämpfen, wenn diejenigen, die unter ihnen am schlimmsten leiden, immer weniger Gründe erkennen können, Parteien zu wählen, die sich im weitesten Sinne als links verstehen? Ein neuer Anlauf, der auf diese Fragen eine überzeugende Antwort sucht, lohnt sich allemal.