Von Uwe Westdörp
Osnabrück. Sahra Wagenknecht macht weiter - sichtlich entspannter, aber unverändert deutlich in der Sache. Im Interview fordert sie, offen über die mit Migration verbundenen Probleme zu diskutieren, statt sie zu tabuisieren. Zugleich mahnt sie, Linkssein heiße, soziale Missstände zu bekämpfen, "und nicht etwa, einen bestimmten Lifestyle zu pflegen, der womöglich sogar noch ziemlich elitär ist".
Die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, hat mit ihren Kritikern abgerechnet und sich gegen „Lügen“ und „Diffamierungen“ in der Migrationsdebatte verwahrt. Wagenknecht sagte unserer Redaktion: „Wer jeden, der eine differenzierte Sicht auf Migration einfordert, in die Nazi-Ecke stellt, begreift nicht, dass er genau damit die rechten Parteien stärkt.“ Viele Menschen fühlten sich durch solche Debatten verächtlich gemacht. „Und wenn man ihnen immer wieder einredet, dass sie mit ihrer Meinung ‚rassistisch‘ seien, dann identifizieren sie sich irgendwann damit und wählen aus Wut tatsächlich AfD.“
Die Politikerin, die ihren Rückzug vom Fraktionsvorsitz angekündigt hat, aber politisch aktiv bleiben will, nannte es außerdem „eine große Lüge“, dass man Armut in der Dritten Welt bekämpft, indem man Migration fördert. An die Adresse der eigenen Partei sagte sie: "Die Linke hat sich von den ärmeren Schichten teilweise entfremdet, weil sie oft nicht deren Sprache spricht." Die Grünen bezeichnete sie als "programmatisch völlig beliebig". Der SPD attestiert sie zumindest "Schritte in die richtige Richtung".
Das Interview im Wortlaut:
Frau Wagenknecht. Sie haben Ihren Rückzug aus der ersten Reihe der Linksfraktion angekündigt, nachdem Sie „ziemlich ausgebrannt“ waren. Wie befreit fühlen Sie sich heute? Welche Last ist da von Ihnen abgefallen?
Es geht mir sehr viel besser, der extreme Druck ist weg, auch wenn ich natürlich immer noch relativ viele Termine habe, denn noch bin ich ja Fraktionsvorsitzende. Und auch danach werde ich politisch aktiv bleiben, denn es ist mir natürlich nicht egal, wohin sich unser Land entwickelt. Ich möchte mich nur auf einer anderen Ebene einmischen, wieder mehr publizieren, neue Ideen in die Debatte bringen.
Woran hat es gelegen, dass der Stress so groß wurde? Haben Sie sich mit Fraktionsführung und der Gründung von „Aufstehen“ übernommen? Oder haben die innerparteilichen Machtkämpfe zu viel Kraft gekostet?
Da kam viel zusammen. „Aufstehen“ ist für mich eine sehr spannende Erfahrung gewesen, weil es etwas völlig Neues war und ich erlebt habe, wie viele Menschen, die sich teilweise noch nie politisch engagiert haben, sich plötzlich mit großer Leidenschaft einbringen. Deshalb hat diese Bewegung trotz aller Anfangsschwierigkeiten auch eine Perspektive. Aber, klar, es war auch viel Arbeit – zusätzlich zum Fraktionsvorsitz. Und hinzu kamen die zermürbenden Konflikte in der Partei. Irgendwann war ich so ausgebrannt, dass es einfach nicht mehr ging.
Sie sagen, Sie wollen ein „politischer Mensch“ bleiben. Wo wird der Schwerpunkt Ihrer Arbeit liegen?
Wenn man sich die Entwicklung unserer Gesellschaft ansieht, kann einem angst und bange werden, wie viele Zukunftsfragen verschlafen werden und an wie vielen Stellen die Weichen falsch gestellt sind. Das betrifft die digitalen Technologien, die derzeit so eingesetzt werden, dass sie einem gefährlichen Überwachungskapitalismus den Weg bereiten. Das betrifft die ungebrochene Verschwendung natürlicher Ressourcen durch die Wegwerfwirtschaft. Und es betrifft ganz zentral die soziale Frage. Jeder weiß: Die Gesellschaft ist tief gespalten, sozial, aber auch kulturell. Wir haben unterschiedliche Milieus, die sich kaum noch begegnen und sich immer weniger zu sagen haben. So zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt und auch die Demokratie.
Sie haben unlängst in Hamburg auch Enteignungen von Immobilienbesitzern gefordert. Warum so radikal?
Enteignung, das klingt nach Staatswillkür und Unrecht. Aber wenn man genau hinguckt, haben wir heute im Immobilienbereich ständige Enteignungen, nämlich der Mieterinnen und Mieter. Finanzinvestoren kaufen Hunderttausende Wohnungen auf und treiben die Mieten nach oben, um ihren Anteilseignern zweistellige Renditen auszuschütten. Bei der „Deutsche Wohnen“ etwa liegt die Rendite aktuell bei 18 Prozent. Bei den Häusern dagegen werden oft notwendige Investitionen unterlassen, oder man setzt auf Luxusmodernisierungen, um einkommensschwache Familien gezielt zu vertreiben. Das elementare Recht auf Wohnen ist zu einem Spekulationsobjekt geworden. Das muss gestoppt werden. Grundgüter wie Wohnen, Gesundheit und Pflege gehören nicht in die Hände hemmungsloser Renditejäger. Das sind öffentliche Aufgaben. Und wo Eigentum zum Schaden der Allgemeinheit eingesetzt wird, sieht das Grundgesetz die Übernahme in die Gemeinwirtschaft ausdrücklich vor.
Zu einem weiteren Streitthema: Sie haben in der Flüchtlingsdebatte von Kapazitätsgrenzen gesprochen. Werden Sie – im Gegensatz zu vielen anderen Linken – weiter für einen eher restriktiven Kurs in der Migrationspolitik kämpfen?
Verfolgte haben Anspruch auf Schutz, dieses Asylrecht darf nicht ausgehöhlt werden. Aber es ist eine große Lüge, dass man Armut in der Dritten Welt bekämpft, indem man Migration fördert. Das Gegenteil ist der Fall. Denn es verlassen nicht die Ärmsten ihre Länder, sondern eher die Mittelschicht und die etwas besser Ausgebildeten. Das verstärkt die Armut vor Ort, während es den Unternehmen bei uns billige Arbeitskräfte verschafft und so die Löhne unter Druck setzt.
Und daraus folgt?
Statt zu sagen: Jeder, der möchte, kann nach Deutschland kommen, müssen wir vor Ort helfen. Wir müssen aufhören, mit unserer Agrar- und Handelspolitik die Wirtschaft in Entwicklungsländern zu schädigen. Man kann übrigens auch nicht einen starken Sozialstaat fordern und gleichzeitig jedem Erdbewohner freistellen, dessen Leistungen in Anspruch zu nehmen. Und schließlich müssen die mit hoher Zuwanderung verbundenen Probleme zumindest offen debattiert werden, statt sie zu tabuisieren. Mit Letzterem hat man die AfD groß gemacht.
Und ihre Partei geht da jetzt mit?
Es hat sich einiges bewegt. In der Asylfrage besteht ohnehin Konsens. Und in der Frage der Arbeitsmigration teilen wir die Kritik des DGB, dass die Einwanderung in den Niedriglohnsektor ein Problem ist, weil sie Lohndrückerei erleichtert. Genau darum geht es ja beim sogenannten Fachkräfteeinwanderungsgesetz, denn oberhalb eines bestimmten Einkommens ist Zuwanderung in den Arbeitsmarkt schon heute problemlos möglich.
Es bleiben aber innerparteiliche Kritiker. So wird Ihnen AfD-Nähe vorgeworfen.
Solche Diffamierungen verhindern eine sachliche Debatte. Das ist ein Phänomen, das es bei Weitem nicht nur in unserer Partei gibt. Wer jeden, der eine differenzierte Sicht auf Migration einfordert, in die Nazi-Ecke stellt, begreift nicht, dass er genau damit die rechten Parteien stärkt. Viele Menschen fühlen sich durch solche Debatten verächtlich gemacht. Und wenn man ihnen immer wieder einredet, dass sie mit ihrer Meinung „rassistisch“ seien, dann identifizieren sie sich irgendwann damit und wählen aus Wut tatsächlich AfD.
Haben die Linken noch genügend Basisnähe? Oder sind sie abgehoben?
Linke Politik muss in erster Linie Politik für Normalverdiener und die Ärmeren sein: für Facharbeiter, kleine Selbstständige, vor allem aber für die vielen Millionen, die im Niedriglohnsektor arbeiten – auch für Menschen, die schlechte Renten beziehen, oder Angst davor haben. Wenn die Linke diese Basis verliert, verliert sie ihre Existenzberechtigung. Linkssein heißt, soziale Missstände zu bekämpfen, und nicht etwa, einen bestimmten Lifestyle zu pflegen, der womöglich sogar noch ziemlich elitär ist. Den Bioladen können sich nur Gutverdiener leisten, und wer eine Wohnung in teurer Innenstadtlage bezahlen kann, hat es in der Regel auch leichter, den Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad zu bewältigen. Auch lebt es sich leichter „weltoffen“, wenn man die Welt kennt, weil man sie bereisen kann. Wer stattdessen seine Kinder in einer Schule weiß, in der 80 Prozent der Erstklässler kein Deutsch sprichen, empfindet Vielfalt vielleicht nicht in jeder Hinsicht als Bereicherung.
Die Grünen haben gerade vorgemacht, wie erfolgreich eine Partei sein kann, wenn sie Grabenkämpfe beilegt und sich auf gemeinsame Ziele fokussiert. Brauchen auch die Linken neue Integrationsfiguren an ihrer Spitze?
Die Grünen führen ihre Kämpfe, die sie ja unverändert auch haben, intern. Das ist eine kluge Entscheidung, und in diesem Punkt kann die Linke von ihnen lernen. Zugleich sind die Grünen inzwischen leider programmatisch völlig beliebig geworden. Ihr Höhenflug resultiert nicht aus gelungener Profilierung, sondern vor allem aus der Schwäche der anderen. SPD und Union sind für viele Menschen einfach nicht mehr wählbar, und für die großstädtischen Milieus bieten sich die Grünen als Alternative an. Wenn die SPD sich neu aufstellen würde, mit überzeugenden Köpfen an der Spitze, und wenn sie wieder glaubwürdig für soziale Verbesserungen eintritt, wäre der Höhenflug der Grünen ganz schnell vorbei.
Sie haben einer rot-rot-grünen Zusammenarbeit bislang skeptisch bis ablehnend gegenübergestanden. Sehen Sie jetzt mehr Spielraum, da die SPD die Grundrente und eine Reform der Hartz-IV-Gesetze vorantreibt?
Ich habe mir immer gewünscht, dass wir eine sozialere Regierung bekommen. Und ja: Die SPD hat jetzt Schritte in die richtige Richtung gemacht. Die von ihr geforderte Grundrente gab es übrigens schon einmal, damals hieß das „Rente nach Mindestentgeltpunkten“. Insofern ist das Theater, das die Union dazu aufführt, ziemlich unehrlich. Es ist auch gut, dass die SPD endlich über die Überwindung von Hartz IV diskutiert, das Millionen Menschen brutal enteignet hat. Die SPD wird aber nach Meinung vieler Wähler erst dann glaubwürdig für sozial gerechte Politik stehen, wenn Sie Personen an ihre Spitze bringt, denen man solche Ziele abnimmt und die nicht mit jahrelanger groß-koalitionärer Kungelei verbunden werden.
Wenn man sich die Umfragewerte von SPD und Linken ansieht, dann ist der Zeitgeist aktuell allerdings alles andere als links...
Wir haben auf jeden Fall einen sozialen Zeitgeist. Es gibt eine breite Mehrheit für mehr sozialen Ausgleich, bessere Löhne, höhere Renten. Allerdings haben die Sozialdemokraten viele Jahre realpolitisch das Gegenteil umgesetzt. Und die Linke hat sich von den ärmeren Schichten teilweise entfremdet, weil sie oft nicht deren Sprache spricht und von ihnen als belehrend und von oben herab empfunden wird. Beide Parteien müssen sich ändern, damit wir eine linke Mehrheit im Bundestag zurückgewinnen können.
Was wird jetzt aus „Aufstehen“? Zuletzt gab es Streit und den Vorwurf, die Führung der Sammlungsbewegung habe versagt.
Einige haben mir verübelt, dass ich meinen Rückzug aus der Spitze nicht zuerst intern diskutiert habe. Aber das war das Ergebnis meiner längeren Krankheit, es gab einfach keine Möglichkeit dazu. Und unabhängig von meiner persönlichen Situation bleibe ich dabei: Die Berufspolitiker sollten sich jetzt zurücknehmen und Führungsverantwortung an die Aktiven an der Basis übergeben. Inzwischen ist auch klar: Die vielen Tausend aktiven Mitstreiter bei „Aufstehen“ glauben an das Projekt und wollen weitermachen. Und ich werde die Bewegung natürlich ebenfalls weiterhin unterstützen.
Oskar Lafontaine hat eine mangelnde Öffnung anderer Parteien für die Sammlungsbewegung beklagt. Ist das jetzt nicht doch der Anfang vom Ende für „Aufstehen“?
Nein. Wir brauchen eine soziale Bewegung. Die Vorhaben sind ja nicht erledigt, im Gegenteil. Natürlich war es enttäuschend, dass die Parteien sich eingemauert haben. Statt die Chance, die mit einer Bewegung von 160 000 Menschen verbunden ist, zu nutzen, sehen die Parteiführungen offensichtlich keinen Bedarf, sich neu aufzustellen, obwohl sie große Teile ihrer einstigen Wählerschaft nicht mehr erreichen. Das ist traurig.
„Aufstehen“ kann also immer noch zu einer neuen politischen Mehrheit beitragen?
Ich hoffe das. Und ich hoffe auch, dass es „Aufstehen“ perspektivisch gelingt, mehr Menschen auf die Straßen zu bringen, so wie in Frankreich die Gelbwesten. Dann wäre auch der Druck viel stärker – auf die Parteien und auf die Politik.
Noch ein Blick über die Grenzen. Migration und Nationalismus sind auch große Themen im Vorfeld der Europawahl. Welche Strategien empfehlen Sie?
Die EU muss sich endlich selbst hinterfragen. Wenn viele Menschen die Europäische Union in erster Linie als Interessenverband für große Unternehmen und Banken wahrnehmen, ist es nicht erstaunlich, dass sie sich abwenden. Wir brauchen eine EU, die soziale Sicherheit und naturverträgliches Wirtschaften fördert, statt ein Motor für Privatisierungen, Sozialabbau und Lobbywirtschaft zu sein. Die EU hat es unterstützt, dass die Banken in der letzten Krise Milliarden bekommen haben, aber wenn eine Gemeinde die Ticketpreise im Nahverkehr subventionieren möchte, wird das als verbotene Beihilfe verfolgt. Aber viele Politiker haben nichts begriffen. Frau Kramp-Karrenbauer etwa meinte unlängst, was der europäische Zusammenhalt heute brauche, sei ein deutsch-französischer Flugzeugträger für künftige gemeinsame Kriege. So viel Realitätsverlust kann einen sprachlos machen...