Karl Nolle, MdL

DIE ZEIT, Dossier 17/2002, 29.04.2002

Konsens beim Thema Kormorane

Landtage befassen sich mit Kleinigkeiten, seit sie viel von ihrer Macht an den Bund abgeben mussten. Mit geselligen Abenden trösten sich die Abgeordneten über ihren politischen Bedeutungsverlust hinweg
 
Wenn Niedersachsens politische Elite über die Zukunft ihres Landes zu befinden hat, verkriecht sie sich in einen Bunker. Einen Raum ohne Fenster, Plenarsaal des Landtags genannt, von Strahlern erhellt in immer gleichem Licht, kalt und stechend. Die Sonne mag scheinen, ein Gewitter sich entladen - die Parlamentarier merken davon nichts. Drei Tage im Monat kommen sie zur Plenarsitzung zusammen, feste Termine für alle Abgeordneten. Höhepunkte der demokratischen Kultur in Niedersachsen müssten diese Tage sein, doch die Landtagsabgeordnete Edda Goede verabscheut diesen Raum und alles, was sich während dieser Sitzungen dort abspielt: Abnicken von Anträgen, Ablehnen von Anträgen, je nachdem, wie es parlamentarische Ausschüsse vorentschieden haben, Streiten über Nichtigkeiten und Absonderlichkeiten, Mittagessen, weiter Streiten, Kaffeepause, Vertagen. Wenn die SPD-Abgeordnete Goede beschreiben soll, was eine Plenarsitzung ausmacht, sagt sie: "Den politischen Gegner an die Wand stellen."

Landtag, das Forum der Landespolitik - in Wahrheit nur eine Bühne für sinnentleerte Schaukämpfe?

Für das freudlose Leben im Bunker wird Edda Goede entschädigt durch die kurzweiligen Stunden außerhalb des Bunkers. Parlamentarische Abende, gesellige Zusammenkünfte, ausgerichtet von Verbänden und Institutionen, sind die wahren Höhepunkte in ihrem Politikerleben. Ein Glas Champagner, Rehrücken badisch, Bayrisch Krem - der Abend entschädigt für den grauen Tag. Lobbyisten tragen bei solchen Gelegenheiten den Abgeordneten Wünsche und Sorgen vor und hoffen, dass sich die Politiker am nächsten Morgen noch daran erinnern, wer sie bewirtet hat.
Dienstag, 19 Uhr. Der Verband der niedersächsischen Musikschulen hat eingeladen. Alle 157 Parlamentarier dürfen kommen, der Sparkassen- und Giroverband stellt die Aula. Kinder schleppen Gitarren, Funktionäre legen Faltblätter aus, und der Zweck des Treibens lautet: Bitte mehr Geld vom Land für die Musikschulen, und zwar sofort.

Edda Goede ist auch zur Stelle. Erste Tischreihe, vorderster Platz. Ehrenloge sozusagen, für die Vizepräsidentin des Landtags. Gleich wird sie das Wort ergreifen. Musikschulen, wird sie sagen, seien eine segensreiche Sache. Von Zuschüssen spricht sie nicht, bedankt sich aber artig für den verheißungsvollen Auftakt des Abends. Als am Ende einige Abgeordnete zur Musik der Kinder tanzen, freut sich die Vizepräsidentin schon auf den nächsten Lohn für politische Mühsal: "Morgen Abend können wir zu den Fahrradfahrern oder zu den Jägern."
Landtagsabgeordnete lieben solche Veranstaltungen. Sie wollen hofiert werden. Sie wollen das Gefühl haben, wichtig und einflussreich zu sein. Ein Gefühl, das nicht lange andauert. Tatsächlich frustriert sie der Parlamentsbetrieb, führt ihnen oft die Bedeutungslosigkeit ihres Schaffens vor. Schleichend hat der Bund den Ländern im Lauf der Jahre immer mehr Befugnisse entzogen und ihren Parlamenten die Macht genommen. Im Gegenzug räumte der Bund den Ländern zwar mehr Mitsprache im Bundesrat ein. Von diesem Machtzuwachs in der Regierungskammer profitieren jedoch allein die Landesregierungen, vor allem die Ministerpräsidenten. Die Landesparlamente haben nichts mitzureden, sie werden oft nicht einmal informiert. Der sächsische Landtagspräsident Erich Iltgen stellt deshalb die Frage nach der "Existenzberechtigung" der Landtage.

Dienstgespräche mit Wahrsagern

Weil die Landesparlamente nicht mehr viel zu sagen haben, seien sie auch nicht attraktiv für ehrgeizige und talentierte Nachwuchspolitiker, meint der Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim. Wer etwas aus sich machen wolle, der gehe in die Wirtschaft oder bewerbe sich um ein Bundestagsmandat. In den Landeshauptstädten klagen Parteichefs und Regierungsmitglieder, natürlich nur hinter vorgehaltener Hand, dass aus den Fraktionen kaum noch Ministernachwuchs gewonnen werden könnte. Sind die Landtage zu Sammelbecken der Unterbegabten und Überforderten verkommen?

Wenn Landtagsabgeordnete Schlagzeilen machen, dann auffallend oft in ziemlich zwielichtigen Zusammenhängen. Gegen einen Grünen-Abgeordneten im Saarland wurde ermittelt, weil er in einem Baumarkt drei Badematten gestohlen haben soll; das Verfahren wurde gegen Zahlung von 10 000 Mark eingestellt. In Schwerin trat die PDS Fraktionsvorsitzende zurück, nachdem sie bei einem Ladendiebstahl erwischt worden war. In Stuttgart hielt die Polizei einen angetrunkenen CDU-Abgeordneten in seinem Sportwagen an, nachdem er in der Tiefgarage des Landtags in das Auto gestiegen war - der erste Delinquent, den die neue Videoanlage ertappte. Im Bayerischen Landtag flog ein CSU-Abgeordneter auf, der von seinem Diensttelefon 405-mal mit Sex-Hotlines "gesprochen" und dabei knapp 27 000 Mark Gebühren verursacht hatte. Bei anschließenden Überprüfungen zeigte sich, dass vier Prozent aller von bayerischen Abgeordneten geführten Telefonate nur mit viel Fantasie als Dienstgespräche zu deklarieren waren, darunter Anrufe bei Wahrsagern und beim Rätseldienst der Bild-Zeitung.

Hans Herbert von Arnim hält diese Einzelfälle für symptomatisch: "Sie sind Ausdruck von Frust, weil die Abgeordneten so wenig zu tun haben. Es gibt nichts Frustrierenderes als die Tätigkeit eines Landtagsabgeordneten." Die Aufgaben der Landesparlamente seien "kaum mehr umfangreicher als die von Großstadtparlamenten". In groteskem Gegensatz dazu stehe die Bezahlung. Um "überhaupt noch Leute zu finden, die sich für ein Landtagsmandat interessieren", sei ihr finanzieller Status "in völlig übertriebener Weise" aufgewertet worden. So erhalten Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg über 4400 Euro im Monat an Diäten, in Bayern gut 5600 Euro. Die höchsten Diäten zahlt Hessen mit über 5900 Euro. Hinzu kommen in allen Fällen Kostenpauschalen von nochmals mehreren hundert Euro, in Mecklenburg-Vorpommern sogar mehr als 1000 Euro. Diese Lockstoffe bewirkten jedoch das Gegenteil des erwünschten Effekts: "Jetzt bewerben sich zunehmend Menschen, denen es vornehmlich darauf ankommt, von der Politik zu leben und nicht für sie", urteilt von Arnim.

Je mehr die Landtage an Bedeutung verloren haben, desto stärker haben sie sich aufgebläht. Ursprünglich war ein Landtagsmandat ein Ehrenamt und ein Teilzeitjob. In Niedersachsen betrug die Aufwandsentschädigung vor 40 Jahren 510 Mark im Monat. Die Abgeordneten waren auf ordentliche Berufe zur Existenzsicherung angewiesen; das machte sie politisch weitgehend unabhängig - und die Landtage zu Spiegelbildern der Gesellschaft: Aus der Wirtschaft kamen damals noch mehr Volksvertreter (36 Prozent) als aus dem öffentlichen Dienst (29 Prozent). Heute stellen die Beamten in den meisten Parlamenten Zweidrittelmehrheiten.

Das "Diätenurteil" des Bundesverfassungsgerichts von 1975 änderte die Situation grundlegend. Es legte fest, dass die im Grundgesetz geforderte "Entschädigung" der Abgeordneten eine Vollalimentierung sein müsse, weil "Parlamentarier" inzwischen ein Hauptberuf geworden sei. Die Länder verabschiedeten darauf hin Abgeordnetengesetze, in denen vollständige Versorgungssysteme einschließlich Ruhestandsgeldern eingeführt wurden. In Niedersachsen betragen die nach wie vor "Entschädigung" genannten Bezüge der Abgeordneten heute knapp 5300 Euro, hinzu kommt eine Aufwandspauschale von mehr als 1000 Euro.

Der hannoversche Arbeitswissenschaftler Rolf Paprotny beobachtete und befragte die niedersächsischen Volksvertreter Mitte der neunziger Jahre eine Legislaturperiode lang und entlockte ihnen zum Teil verblüffende Bekenntnisse. So räumten sie ein, die Tragweite vieler Beschlüsse nicht ermessen zu können. Sie verlassen sich auf Kollegen, wobei sie sich oft nur als "Stimmvieh" fühlen. Darüber mit Fraktionskollegen zu sprechen, trauen sie sich aber nicht. Die meisten Abgeordneten kommen sich bei Debatten im Plenum als bloße "Saaldekoration" vor. In Ausschusssitzungen werde kaum noch diskutiert. Denn die wegweisenden Entscheidungen fallen schon vorher, in Arbeitskreisen der Fraktionen. Obwohl sie viel arbeiten, einige bis zu 116 Stunden in der Woche, bringen die Abgeordneten nach eigener Einschätzung in ihrer Parlaments- und Wahlkreisarbeit nur wenig Vorzeigbares zustande. Landtagsabgeordnete, die ABM-Kräfte der großen Politik?

Edda Goede wirkt am Morgen nach dem langen Abend bei den Funktionären der Musikschulen ausgeruht und gut gelaunt. Ihre 61 Jahre sieht man ihr nicht an. Seit 1986 vertritt sie den Wahlkreis Wesermünde, der zum Landkreis Cuxhaven gehört. Sie hat ihn erstmals direkt für die SPD gewonnen und seither immer wieder. Die Mutter zweier erwachsener Kinder sitzt in den Ausschüssen für Wirtschaft und Verkehr sowie für Häfen und Schifffahrt, in den entsprechenden SPD-Arbeitskreisen ebenfalls. Dass sie sich als gelernte Erzieherin mit Realschulabschluss "nicht in epischer Breite mit fachwissenschaftlichen Fragen auseinander gesetzt" habe, ließen sie die Kollegen nie spüren. Fragt man sie nach politischen Erfolgen, antwortet sie: Fördermittel beschafft für die Straßenbauprojekte A 26 und B 73, außerdem für den Wesertunnel in Nordniedersachsen.

Sie liest wenig. Wenn sie etwas erfahren will, fragt sie bei Experten in der Verwaltung nach. Man hört ihren Sätzen an, dass sie das politische Vokabular trainiert hat. Das Training müsste fortgesetzt werden. Edda Goede wartet. Noch zehn Minuten bis Sitzungsbeginn. Im Plenum beginnt ein aufgeregtes Geschnatter. Nur wenige Abgeordnete haben sich auf ihre Sessel gesetzt, die meisten reden weiter in kleinen Gruppen, andere eilen geschäftig hin und her, Türen gehen auf, fallen ins Schloss. Die Zuschauertribünen sind voll besetzt, viele Jugendliche befinden sich unter den Besuchern. Durch eine Tür hinter dem Präsidiumstisch stiehlt sich beinahe unbemerkt der Hausherr, Professor Rolf Wernstedt, herein. Der Präsident des Landtags läutet die Glocke, bittet um Ruhe, vergeblich. Dann sagt er in den Stimmenwirrwarr hinein: "Hiermit eröffne ich die 97. Sitzung im 38. Tagungsabschnitt in der 14. Wahlperiode des Niedersächsischen Landtags."

Genau 49 Tagesordnungspunkte werden die Abgeordneten in den folgenden drei Tagen behandeln. Abzuarbeiten ist unter anderem: ein Gesetz zum Staatsvertrag zwischen Niedersachsen und Bremen über ein gemeinsames Landessozialgericht, ein Antrag auf Einführung des Abiturs nach zwölf Schuljahren, der Einsatz von Brechmitteln gegen Drogendealer, die Einrichtung eines historischen Instituts zur Aufarbeitung des Kommunismus.

Doch gleichgültig, welches Thema gerade an der Reihe ist - das Geraune und Türenschlagen nehmen kein Ende. Es gleicht einem Schichtwechsel: Im Rhythmus der Tagesordnung lösen Spezialisten der unterschiedlichen Themen einander ab. Doch auf die Argumente der anderen lauert kaum jemand. Die Redner sprechen in erschlaffte Gesichter. Alles, was vorgetragen wird, ist längst bekannt, in etlichen Gremien vorgekaut. Die Leute der eigenen Fraktion klatschen gelegentlich, müde und pflichtschuldig, politische Gegner rufen dazwischen.

Mit Zwischenrufen lässt sich im Plenum die höchste Aufmerksamkeit erzielen. Ideale Mittel gegen die Langeweile. Gelungene Zwischenrufe, die den Gegner aus dem Konzept bringen, honoriert die eigene Fraktion mit ungewöhnlich leidenschaftlichem Applaus. Zwischenrufer werden auch gern von Landtagskorrespondenten der Medien zitiert. Eine Meldung in der Zeitung, das sind Pluspunkte im Wahlkreis. Abgeordnete wiederum, die sich durch Attacken anderer verletzt fühlen, revanchieren sich gern mit gleicher Münze. So schaffen die Abgeordneten ein giftiges Klima, unter dem sie alle leiden.

Schon nach einer Stunden verlassen die meisten Jugendlichen den Zuschauerraum. "Ich bin selbst Mitglied in einem Verein. So sarkastisch, so zirkushaft wie hier geht es bei uns nicht zu", schrieb ein Schüler ins Gästebuch des Landtages. "Die Arbeitsweise im Plenum wirkt abstoßend auf junge Menschen", vermerkte ein anderer. "Hallo Lars", schrieb ein Schüler seinem Freund in einem Brief, den später Putzfrauen auf der Zuschauerbank im Landtag fanden, "ich denk die ganze Zeit, ich wär' im Hühnerstall oder im Ameisenhaufen ... Die Leute da unten, die sich Politiker schimpfen, benehmen sich wie kleine Kinder."

Edda Goede kennt einen Ort, wo Politik noch schön anzusehen ist. Im vornehmen Restaurant Leineschloss, im Untergeschoss des Landtags, sitzen auch an diesem Sitzungstag mal wieder mehr Abgeordnete als im Plenarsaal. "Die eigentliche Politik wird hier gemacht", sagt sie. Da hinten, die vier Männer an einem Tisch, "das sind unsere Provinzfürsten, die vier niedersächsischen SPD-Bezirksvorsitzenden. Die handeln gerade die niedersächsische Kandidatenliste für die Bundestagswahl aus." Edda Goede hat andere Sorgen: Wohin heute abend - zu den Jägern oder zu den Radfahrern? "Lieber zu den Jägern", sagt sie, "die haben das bessere Büffet."

"Kafkaesk!" Womit sich Landtagsabgeordnete befassen und wie sie sich aufführen, das könne man nur noch mit "kafkaesk!" bezeichnen. Der das hervorstößt, hat sein Büro neben dem von Edda Goede: Albert Janssen, Direktor des Niedersächsischen Landtags und Professor für Verfassungsrecht. Verwaltungschef Janssen amtiert bereits seit Jahrzehnten und hat den Niedergang des Länderparlamentarismus aus der Nähe mitverfolgt - in Niedersachsen, in den meisten Bundesländern.

Die beliebteste Methode, den Landesparlamenten Macht zu entziehen, nennt sich "konkurrierende Gesetzgebung". Laut Grundgesetz haben die Länder auf diesem weiten Gebiet, das vom Strafrecht bis zur Abfallbeseitigung reicht, "die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrech keinen Gebrauch macht". Das aber hat dieser weidlich getan, indem er immer wieder die Gesetzgebung an sich reißt, sodass den Ländern nicht mehr viel übrig geblieben ist.

Diskussion um Kreisstraße 206

Und immer wieder änderte der Bundestag das Grundgesetz, um die konkurrierende Gesetzgebung auf weitere Bereiche auszudehnen und die Befugnisse der Länder weiter einzuschränken. Die Steuergesetzgebung beispielsweise liegt jetzt nahezu vollständig beim Bund. Während die Gemeinden über die Hebesätze zur Gewerbe- und Grundsteuer ihre Steuereinnahmen immer noch selber mitbeeinflussen können, wissen die Länder nicht mehr, wie sie an ihren Steuereinnahmen drehen können.
Am stärksten wurde die Finanzhoheit der Länder durch die Einführung der so genannten Gemeinschaftsaufgaben beschädigt. "Zur Verbesserung der Lebensverhältnisse" erklärt sich der Bund bereit, den Ländern auf drei wichtigen Gebieten finanziell zu helfen: beim Hochschulbau, bei der regionalen Wirtschaftsförderung und der Agrarförderung. Was spendabel klingt, ist in Wirklichkeit eine Zwangsjacke: Der Bund gibt die Projekte vor, die Länder müssen mitmachen und ebenfalls in die Tasche greifen. Zum Gestalten bleibt nicht viel Geld. Und nicht viel rechtlicher Raum - Polizei- und Kommunalrecht, Kultur- und Medienpolitik, das ist noch Ländersache.

Man kann sich das Ganze als Verschiebebahnhof von Macht und Entscheidungshoheit vorstellen: Die Änderungen im Grundgesetz, mit denen der Bund seine Kompetenzen vermehrte, mussten im Bundesrat abgesegnet werden, im Gremium der Landesregierungen. Die verlangten als Belohnung für ihre Verzichtserklärung mehr Mitsprache bei den Gesetzen des Bundes - und erhielten sie auch: Der Anteil der Bundesgesetze, denen der Bundesrat zustimmen muss, ist von rund zehn Prozent in den Nachkriegsjahren auf heute über 60 Prozent gestiegen. Die großen Verlierer dieser Entwicklung sind die Landtage, die viel hergegeben, aber nichts bekommen haben. Zu "vergrößerten kommunalen Vertretungsorganen" seien die Landtage inzwischen verkümmert, meint Verfassungsrechtler Janssen. Gelinge es ihnen nicht, Entscheidungsbereiche zurückzuerobern, sei ihr Ende absehbar: "Niemand trägt auf Dauer unbemerkt vom Steuerzahler einen zu groß geschneiderten Anzug."

Der Landtagsdirektor wirft den Abgeordneten vor, dass sie ihre politische Entmündigung sogar beschleunigen. Statt die verbliebenen Rechte zu nutzen, flüchteten sie entweder in langatmige Debatten über "große Bundespolitik bis hin zur Außenpolitik" oder verschanzten sich in den Kleingärten der Lokalpolitik. "Gehen Sie mal im Sommer, bei strahlendem Sonnenschein, an einem Freitagnachmittag ins Plenum. Da sitzen zehn Mann und diskutieren über Kreisstraße 206."

Oder die Landesministerien werden überschüttet mit den abstrusen Anfragen politisch verunglückter Existenzen. Rekordhalterin im pausenlosen Landtagswettbewerb "Der abwegigste Antrag" ist die inzwischen ausgeschiedene sächsische PDS-Abgeordnete Christine Ostrowski, die es auf mehr als 1100 Anfragen brachte. Ihr verdankt das Land eine genaue Definition von Kasperletheater. "Im landläufigen Sinne", antwortete die Staatsregierung auf Ostrowskis entsprechende Anfrage, "versteht man unter Kasperletheater eine Veranstaltung, in der der Held Kasper das Gute verkörpert, mit unermüdlicher Fröhlichkeit tapfer und mutig das Böse bekämpft und besiegt."

Landtage spielen gern Bundestag

Tatsächlich sind Spiele im Landtagsleben äußerst beliebt, Rollenspiele an erster Stelle. Um von ihrem politischen Siechtum abzulenken, spielen die Landtage gerne Bundestag, so wie kleine Kinder Vater und Mutter spielen. Landtagsabgeordnete lieben es, ins Ausland zu reisen, und sie mögen es, Delegationen aus aller Welt zu begrüßen. Dieses Spiel nennt sich "Landtag ohne Grenzen" und dient ebenfalls der Bedeutungsgaukelei.

Mittwoch, 16 Uhr, Edda Goede wartet auf Südafrika. Im Zimmer des Ältestenrats stehen kleine Standarten auf dem Tisch, die Abordnung des Partnerparlaments aus der Provinz Eastern Cape müsste gleich hier sein. Endlich, da kommen die fünf Gäste. Als der Delegationsleiter sich erkundigt, wie man in Hannover Aids bekämpfe, schweigt Edda Goede, eine CDU-Kollegin springt schnell ein: Es gebe Aids-Cafés. Bei der Aufklärung komme es darauf an, die Mütter anzusprechen: "Wenn Sie die Mütter haben, haben Sie auch die Söhne!"

An den wichtigen Fragen, jenen wenigen, die ihnen noch geblieben sind, seien die Volksvertreter nicht interessiert, hält Landtagsdirektor Janssen ihnen vor. Die mittelfristige Finanzplanung zum Beispiel werde weder im Haushaltsausschuss noch im Plenum ernsthaft diskutiert. Dabei lasse sich mit dieser Planung tatsächlich etwas bewegen im Lande: "Die Abgeordneten diskutieren nicht über Subventionen. Die fragen nicht: Sind Staatsbäder noch zeitgemäße Aufgaben eines Landes? Oder muss das Land bei VW einen so hohen Anteil halten? Die Abgeordneten lesen das gar nicht."

Janssen wirft den Abgeordneten vor, dass sie gar kein Interesse mehr an einer gründlichen Gesetzesberatung hätten. Die Fraktionen gäben viel zu kurze Beratungszeiten vor. Die Spanne zwischen der letzten Beratung eines Gesetzes im zuständigen Ausschuss und der Behandlung im Plenum sei so knapp bemessen, dass die Ausschussberichte in der Regel erst nach der Verabschiedung des Gesetzes vorliegen. Und selbst wenn sie einmal rechtzeitig fertig sind, sei es üblich geworden, sie nicht mehr im Plenum vorzutragen, sondern bloß noch zu Protokoll zu geben. Das heißt, der Landtag kennt das Ergebnis der Beratungen nicht, die ein Teil seiner Mitglieder ja in seinem Auftrag durchgeführt hat, gleichwohl stimmt er darüber ab. Auf diese Weise gehe "ein Stück demokratischer Legitimation des Gesetzes verloren". Diese Erosion des demokratischen Entscheidungsprozesses hält Janssen für "noch beunruhigender als den fortschreitenden Kompetenzverlust".

Den letzten Rest an gesetzgeberischer Macht lassen sich die Landtage von den Fachministerkonferenzen nehmen. Meist nicken die Abgeordneten nur die Beschlüsse ab, die die Minister von den Konferenzen mit ihresgleichen mitbringen und den Parlamenten zur Abstimmung vorlegen. Änderungen können sie dann kaum mehr vornehmen, wollen sie nicht die eigene Regierung bloßstellen. So kommt es, dass die Ländergesetze "einander wie ein Ei dem anderen" ähneln, kritisiert von Arnim. In einem Kernbereich der Länderhoheit, der Schul- und Hochschulpolitik, hätten die Parlamentarier ihre Kompetenzen "praktisch an die Kultusministerkonferenz abgetreten" und sich selber zum "bloßen Vollstrecker der Entscheidungen irgendwelcher Minister- und Beamtenzirkel" degradiert.

Je weniger die Landtagspolitiker entscheiden, desto weniger hoffen sie falsch zu machen und desto geringer schätzen sie das Risiko ein, vom Wähler abgestraft zu werden. An nichts liegt ihnen mehr als an der Wiederwahl. Wer einmal ein Mandat erlangt hat, will es mit Klauen und Zähnen verteidigen. Stunden um Stunden verbringen die Abgeordneten im heimischen Wahlkreis bei Schützenfesten, Diavorträgen des Alpenvereins oder 25-Jahr-Feiern der Gebäudereinigergilde, tapfer halten sie bei Grillabenden des Kanuklubs und Mitmachnachmittagen in Altenheimen aus. Viele Abgeordnete fürchten, als "bürgerfern" und "eingebildet" zu gelten und damit die Wiederwahl aufs Spiel zu setzen, notierte der Interviewer Paprotny. Aus demselben Grund sitzen sie viele Stunden in örtlichen Parteisälen ab, in Ortsvereins-, Unterbezirks- und Kreisverbandssitzungen. Diese Gremien sind es schließlich, die die Landtagskandidaten aufstellen. "Keiner der Befragten", schreibt Paprotny, "sieht seinem Amtsverständnis nach seinen Arbeitsschwerpunkt in der Parlamentsarbeit."

Im Osten klammern sich die Abgeordneten besonders fest an ihre Stühle. Von Beginn an habe es in den neuen Ländern "kaum Fluktuation gegeben", sagt der sächsische SPD-Abgeordnete Karl Nolle. Der aus dem Westen stammende Druckereiunternehmer, seit 1999 im Dresdner Landtag, machte sich einen Namen als "Biedenkopf-Jäger". Mit penetranten Nachfragen im Landtagsplenum während der zahlreichen politischen Affären des sächsischen Ministerpräsidenten trug Nolle zu Kurt Biedenkopfs vorzeitigem Abtreten aus der großen Politik bei.

Dass niemand in der CDU-Fraktion Biedenkopfs "höfisches, vordemokratisches Gebaren" kritisiert habe, wie Nolle sagt, könne er zwar nachvollziehen, aber keinesfalls gutheißen. Dass aber auch die eigene Fraktion von ihm abrückte, weil er zu offensiv auftrat, lässt ihm keine Ruhe. "Hier herrscht ein Massenopportunismus ohnegleichen", erregt sich der SPD-Abgeordnete. In allen Fraktionen laute die Devise: "Nur nicht anecken".

Den Grund für das Duckmäusertum sieht Nolle darin, dass die meisten Abgeordneten unbedingt wieder in den Landtag gewählt werden wollten, um nicht arbeitslos zu werden. Sie hätten sich nicht wie die meisten Ostdeutschen nach der Wende weitergebildet oder umschulen lassen. Daher hätten sie heute kaum Chancen, einen Job zu finden. Nolle ist überzeugt: "Wenn das sächsische Parlament aufgelöst würde - es würde keiner merken im Land!"

Der Schriftsteller Landolf Scherzer hat 1999, vor der letzten Landtagswahl in Thüringen, viele Monate im Erfurter Parlament zugebracht, um Beobachtungen für ein Buch zusammenzutragen. Oft saß er in der Kantine, trank mit Abgeordneten Bier und hörte ihnen zu. Irgendwann haben sie den Fremden wohl als einen der ihren empfunden und ihm vieles anvertraut.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Heiko Gentzel, damals Parlamentarischer Geschäftsführer, berichtete ihm voller Stolz, nun "kein popliger Reparaturschlosser mehr, sondern ein Landtagsabgeordneter" zu sein: "Man verdient auch anständig Kohle, kann sich endlich ein paar Wünsche erfüllen. Fängt beispielsweise an, ein Haus zu bauen. Meine Frau wollte, dass ich ein Haus baue. Aber ich habe keins gebaut ... Andere Abgeordnete haben gebaut und vereinbarten mit der Sicherheit ihrer Diäten hohe Rückzahlraten. Aber nach den ersten vier von den fünf Jahren, für die sie gewählt worden sind, kriegen sie plötzlich das große Grübeln und schließlich Schweißausbrüche: Was wird, wenn ich nicht wiedergewählt werde, aber die Raten weiter pünktlich zahlen muss? Da fängt man an zu strampeln, damit man gut dasteht im Wahlkreis ..."

Landtagsabgeordneter - das ist vor allem im Osten, wo gut bezahlte Posten viel rarer sind als im Westen, ein Beruf, ein Broterwerb, weniger eine Berufung. Parteitage, auf denen Kandidaten gekürt werden, entscheiden da leicht über Existenzen. Der Schriftsteller Scherzer schaute zu, als 70 PDS-Genossen sich um einen aussichtsreichen Listenplatz bewarben. Eine 35-jährige Abgeordnete, die sich vergeblich beworben hatte, wandte sich ab und weinte. Ein Parteifreund tröstete sie und erklärte: "Sie muss in Erfurt ein teures Haus abzahlen. Sie war zuletzt Unterstufenlehrerin und Pionierleiterin und hat nur noch eine Chance: wieder in den Landtag kommen."

Die Existenzangst im Nacken, haben sich die ostdeutschen Parlamente großzügige Rentenregelungen genehmigt. In Thüringen einigte sich die Große Koalition in der letzten Legislaturperiode darauf, dass Abgeordnete schon nach sechs Jahren im Landtag eine Rente von 29 Prozent ihrer Diäten (das sind über 1000 Euro) erhalten sollten. Das Thüringer Verfassungsgericht erklärte die Regelung nach einer Klage der PDS für verfassungswidrig - nun gibt's die 29 Prozent erst nach zehn Jahren Parlamentszugehörigkeit.

Einladung von der Feuerwehr

Der Thüringer SPD-Abgeordnete Gerd Schuchardt kann sogar verstehen, dass seine Kollegen an ihren Mandaten kleben. "Im Westen sitzen viele Beamte und Juristen in den Parlamenten. Ihre Welt hat sich nicht verändert, wenn sie nach vier Jahren zurückkehren. Im Osten sind aber viel mehr Naturwissenschaftler und Ingenieure Abgeordnete, die haben danach den Anschluss verpasst." Schuchardt gehört dem Thüringer Landtag seit 1990 an, von 1994 bis 1999 war er Wissenschaftsminister. Er hat etwas von einem Grandseigneur. Gemessenen Schritts betritt er die Kantine, die Informationsbörse im Thüringer Landtag. Schuchardt bleibt meist allein, wenn er sich am Automaten einen Kakao zieht und sich setzt.

An anderen Tischen geht es oft geselliger zu. Willibald Böck von der CDU, der ehemalige Innenminister, der wegen einer Parteispendenaffäre zurücktreten musste, ist einer, der immer Leute um sich schart, Kollegen, Journalisten. Auch sein Fraktionskollege Wolfgang Fiedler sitzt hier oft in fröhlicher Runde, und seine sonore Stimme ist von weitem bereits zu hören.

Auch Fiedler musste zurücktreten, gleich von fünf Ämtern. Er wurde aus dem Erfurter Edelpuff Cleopatra geprügelt, weil er nicht 180 Mark für eine Flasche Sekt zahlen wollte. Ein Taxifahrer habe ihn da abgeliefert, als er spät am Abend noch ein Bier trinken wollte, rechtfertigte sich Fiedler, ahnungslos sei er in das Etablissement hineingeraten.

Seiner Popularität hat das eher genutzt. "Die Leute haben sich gesagt: Der is ooch e Mensch wie du und ich", sagt er grinsend, und als er merkt, wie missverständlich dieser Satz aufgefasst werden kann, schiebt er mit ernstem Gesicht nach: "Ich meine, die haben gesehen, auch ein Abgeordneter kann schnell mal zum Opfer werden."

Und Fiedler ist leidenschaftlicher Feuerwehrmann. Als der Thüringer Feuerwehrverband zum parlamentarischen Abend in die Landtagskantine lädt, ist Fiedler in seinem Element. Immer wieder sieht man ihn Bier für seine Freunde holen. Der pausbäckige Chef der Landesfeuerwehr hält eine Rede, eine Kapelle spielt Grüße vom Rennsteig, der Innenminister spricht und auch Willibald Böck als Vorsitzender des innenpolitischen Ausschusses.

Die geröteten Augen so mancher Parlamentarier beim Plenumsbeginn am nächsten Morgen zeugen davon, dass wieder ein gelungener parlamentarischer Abend hinter ihnen liegt. Die Plenarsitzung beginnt mit dem Bericht des Innenausschusses über ein Gesetz zu Änderungen im Veterinärwesen. Berichterstatter ist der 30-jährige CDU-Abgeordnete Mike Mohring. Er hat das Wort: "Der Gesetzentwurf wird mit folgenden Änderungen angenommen: In Absatz 1 wird das Wort „Januar“ durch das Wort „April“ ersetzt. In Absatz 2 wird das Wort „Januar“ durch das Wort „April“ ersetzt. In Absatz 9 wird das Wort „Januar“ durch das Wort „April“ ersetzt."

Der Jungpolitiker ist einer der wenigen, die sich bei der letzten Wahl über einen vorderen Platz auf der Landesliste einen Abgeordnetensitz inmitten der Altvordern erkämpften. Auf ihn trifft zu, was Hans Magnus Enzensberger einmal über Berufspolitiker schrieb: "Schon in der Adoleszenz verbringt er seine Tage in einer Schülerorganisation oder einem Hochschulbund ... Es ist eine harte Schule, bei der es vor allem um die Ausbildung der Ellenbogen geht. Sobald die Ochsentour durch Ortsverein, Bezirksausschuss, Gemeinderat absolviert und der Sprung in den Landesverband gelungen ist, erübrigt sich die Suche nach einem Broterwerb."

Bis 1993 gehörte Mike Mohring dem Neuen Forum an, dann wechselte er zur CDU und stieg rasch auf: mit 23 Jahren Kreisvorstandsmitglied der CDU, mit 25 Fraktionschef im Kreistag Weimarer Land, zwischendurch Kreisvorsitzender der Jungen Union, mit 27 Landtagsabgeordneter und inzwischen finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion, mit 28 schließlich Landesvorstandsmitglied der CDU Thüringens. Außerdem ist Mohring Vorsitzender des Aufsichtsrats der Entsorgungsgesellschaft Landkreis Weimar. Nebenbei beendet er gerade ein Jurastudium.

Wenn Mohring über Politik spricht, dann ist viel die Rede von "Strategie" und "Taktik" und "Gremienarbeit". Fragt man ihn nach den Zielen seines Engagements, fällt die Antwort vage aus, "mithelfen, etwas zu verbessern", sagt Mohring dann. Dagegen weiß er genau, wie man nach oben kommt. An Inhalten ist ihm wichtig, wie sie verpackt sind. So einen wie ihn mögen die Parteioberen. Sogar der Ministerpräsident soll ihn gelobt haben.

Donnerstag, 16.30 Uhr, der Sitzungstag neigt sich dem Ende zu. Eine aktuelle Stunde steht noch auf der Tagesordnung, das Thema: "Die Dezimierung von Fischen in Bächen und Seen, verursacht durch Kormorane". Wie es heißt, hätten in Thüringen bereits Jäger und Angler zur Selbsthilfe gegriffen und begonnen, die Vögel ohne Erlaubnis abzuschießen. Es wird also Zeit, dass sich die Volksvertreter des Themas annehmen. Ein Abgeordneter der CDU-Fraktion erklärt ohne Wenn und Aber, der Landtag dürfe nicht zulassen, "dass der Thüringer Jungwanderfisch nach Überwindung der teuren Fischtreppen in den Gewässern ermattet in die Schnäbel zugewanderter Kormorane sinkt".

Vertreter aller drei Fraktionen im Landtag sind sich einig, dass Handlungsbedarf besteht. Der Sitzungstag in Erfurt hat damit ein versöhnliches Ende genommen. Der nächste parlamentarische Abend kann beginnen.

(von Roland Kirbach)

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DIE ZEIT
Dossier 17/2002

Die Tüchtigen zieht es nicht in einen Landtag
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Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt über den Leidensdruck der Abgeordneten und den drohenden Mangel an vorzeigbaren Nachwuchspolitikern
von Roland Kirbach (Gesprächsführung)

DIE ZEIT: Die Landtage verlieren immer mehr ihrer Kompetenzen an den Bund, haben sie überhaupt noch eine Existenzberechtigung?

Werner Patzelt: Ja, Landtage haben eine doppelt wichtige Aufgabe. Sie bieten nach wie vor die beste Möglichkeit, das Handeln einer Landesregierung zu kontrollieren. Zum anderen sind Landtagsabgeordnete wichtige Bindeglieder zwischen Bürgerschaft und politischem System. Sie dienen Bürgern als Anlaufstellen und helfen Kommunen bei Förderprogrammen.

ZEIT: Könnten Ombudsmänner nicht die gleiche Funktion erfüllen? Sind die großen Apparate der Landtagsverwaltungen nicht überflüssig?
Patzelt: Will man leistungsfähige Parlamente auf Landesebene oder nicht? Wenn man sie will, dann muss man die Fraktionen und die einzelnen Abgeordneten auch arbeitsfähig machen, weil sonst die Landtage den Landesregierungen hoffnungslos unterlegen sind. Auch geht es um die Grundfrage: Will man Föderalismus, oder glaubt man, mit einer zentralstaatlichen Verwaltung besser zu fahren?

ZEIT: Sind die Landtage denn leistungsfähig? Die Regierungen entziehen sich immer häufiger der Kontrolle durch Gemeinschaftsbeschlüsse mit den anderen Landesregierungen, die Landtage sind außen vor, dürfen die Entscheidungen nur noch abnicken.

Patzelt: Am Beispiel der deutschen Länder lässt sich ablesen, was den Nationalstaaten auf europäischer Ebene blühen wird. Wenn man Integration will, kann man einen solchen Bedeutungsverlust nicht grundsätzlich abwenden. Notwendig ist allerdings eine Reform des Föderalismus, eine stimmige Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Das bedeutet klare Zuständigkeiten auf europäischer, auf Bundes- und auf Landesebene, sodass eine Landesregierung auch tatsächlich von ihrem Landtag haftbar für ihre Politik gemacht werden kann.

ZEIT: Wo müsste so eine Reform ansetzen?

Patzelt: Wir müssen aus der Politikverflechtungsfalle ausbrechen. Die Gemeinschaftsaufgaben müssen abgeschafft werden, bei denen der Bund den Ländern projektbezogen Geld gibt und überaus stark auf die Gestaltung der Landespolitik einwirkt. Die Selbstkoordination der Länder muss reduziert werden. Solange die Länder ihren größten Ehrgeiz darauf richten, etwa ihre Bildungssysteme ununterscheidbar zu machen, begeben sie sich ihrer eigenständigen Gestaltungsmöglichkeiten auf einem Feld, wo sie diese noch haben.

ZEIT: Für wie realistisch halten Sie es, dass sich solche Vorschläge tatsächlich durchsetzen lassen?

Patzelt: Der Leidensdruck ist größer geworden. Zum einen tangiert das Abfließen von Kompetenzen in Richtung Europa inzwischen auch gründlich die Länder. Zum anderen müssen sie sich dagegen wehren, dass der Bund die Euro-Kriterien vor allem auf Kosten der Länder einhält. Die Folge ist, dass es jetzt eine Diskussion über eine finanzielle Entflechtung von Bund und Ländern gibt. Und wenn der Leidensdruck weiter zunimmt, gibt es im Lauf des nächsten Jahrzehnts durchaus die Chance auf Reformen im deutschen Föderalismus.

ZEIT: Spüren die Abgeordneten denn überhaupt diesen Leidensdruck? Man kann den Eindruck haben, sie scheuen sich auch davor, Verantwortung zu übernehmen.

Patzelt: Gestaltungswillige, an politischer Innovation interessierte Leistungsträger werden in der Tat von Landtagen nicht sonderlich angezogen. Ein tüchtiger Mensch findet außer der Möglichkeit, eine in den Bundestag oder die Landesregierung führende Karriere zu starten, sehr wenig Gründe, in einen Landtag zu gehen, wo er nur geringe Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten hat. Solange die Landtage nicht mehr zu sagen haben, wird sich daran auch wenig ändern.

ZEIT: Aber selbst wenn Landtagsmandate wieder attraktiver werden sollten, sind ja als Nadelöhr immer noch die Parteien davor. Sie sind es, die die Kandidaten auswählen.

Patzelt: Man muss sich die Rahmenbedingungen klarmachen: In unserem parlamentarischen Regierungssystem geht die Regierung aus der Parlamentsmehrheit hervor, und beide wirken eng miteinander zusammen. Genau das macht die Parteien zu den zentralen Akteuren des politischen Systems. Es gibt auch gar keinen vernünftigen Grund, daran etwas zu ändern. Also werden die Parteien auch künftig die zentrale Rekrutierungsinstanz für Nachwuchspolitiker bleiben. Erst wenn Mangel an leistungsfähigen und vorzeigbaren Mitgliedern auftrittt, werden Parteien gehalten sein, Sympathieträger auch außerhalb der eigenen Reihen zu rekrutieren. Was die PDS seit einiger Zeit macht, nämlich populäre Leute ganz unabhängig von ihren politischen Qualifikationen aufzustellen, ist ein Signal künftiger Entwicklungen.

ZEIT: Soll man die Macht der Parteien dadurch brechen, dass das Volk die Ministerpräsidenten direkt wählt?

Patzelt: Der Vorschlag erfreut sich in Deutschland gewisser Popularität. Doch das wäre ein Systemwechsel vom parlamentarischen zum präsidentiellen Regierungssystem. Wenn die Regierung nicht vom Parlament, sondern direkt vom Volk bestellt wird, mindert das durchaus die Macht parlamentarischer Parteiführer. Die Kehrseite ist eine reduzierte parlamentarische Kontrolle der Regierung. Als Folge wäre die politische Rolle der Landtage noch geringer als heute schon. Die Frage ist, ob das irgendein wichtiges Problem lösen hilft.

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: