DNN/LVZ, 22.04.2003
Genossen in Sachsen und Thüringen vor der Zerreißprobe
Viele befürchten, dass der Sozialabbau das SPD-Selbstverständnis zerstört
DRESDEN. In der SPD grummelt es. Ob Jusos, Parteilinke oder Gewerkschafter - überall regt sich Widerstand gegen den Kurs von Gerhard Schröder (SPD). Grund sind die geplanten Einschnitte im Sozialbereich und der Versuch des Kanzlers, das umstrittene Reformpaket per Vertrauensfrage durchzusetzen. In Sachsen meldet sich vor allem
Karl Nolle zu Wort: "Die Lasten dürfen nicht einseitig auf die Schultern von Arbeitnehmern, Arbeitslosen und Kranken gelegt werden", sagt der SPD-Landtagsabgeordnete und erhält Unterstützung von der Parteijugend. "Die Ostkomponente lässt in der Agenda zu wünschen übrig", moniert Juso-Chef Martin Dulig. Käme das Programm vom politischen Gegner, "wir würden alles tun, um es zu verhindern".
An der SPD-Basis kommt das gut an. "Wir wollen eine ernst zu nehmende Veranstaltung und keinen Kanzler-Huldigungsverein", sagt René Vits, Chef eines kleinen SPD-Ortsvereins im Norden der Landeshauptstadt. Der 54-Jährige ist Betriebsrat und fordert mehr Mitbestimmung. Punkte wie die Lehrstelleninitiative oder Erleichterungen für Handwerker trage er ja mit; aber wenn beim Kündigungsschutz Beifall von der FDP komme, rieche das verdächtig. Radikaler ist ein anderes Ortsvereinsmitglied: "Der Kanzler spinnt wohl. Man kann doch nicht erst etwas verkünden und dann die Basis unter dem Druck der Machtfrage diskutieren lassen." Jetzt wollen die Dresdner ein Positionspapier verfassen und zum SPD-Sonderparteitag am 1. Juni vorlegen.
Viele Genossen befürchten, dass der Sozialabbau das SPD-Selbstverständnis zerstört. Mögliche Folge: Erst laufen die Mitglieder davon, dann die Wähler. Anzeichen sind in Sachsen und Thüringen bereits spürbar. So hat ein Dresdner gleich nach Schröders Regierungserklärung Mitte März das Parteibuch hingeworfen, 18 weitere sind ihm bislang gefolgt - ein bitterer Verlust bei nur 4900 Mitgliedern. In Thüringenhatte sich bereits im März eine Mehrheit des Landesvorstands gegen das Reformpaket ausgesprochen, rund 50 Mitglieder haben die Partei verlassen.
Das macht reformbereiten Sozialdemokraten das Leben schwer. So befürchtet der 27-jährige SPD-Bundestagsabgeordnete Carsten Schneider aus Erfurt einen "Showdown" in der Partei. An dessen Ende werde sich zwar Schröder durchsetzen, weil sonst die SPD-Regierung platzt; das notwendige Reformvorhaben aber nehme Schaden. Jetzt gehe es nur noch um "Ja oder Nein".
Das trifft die Grundstimmung in Sachsen. Während die Kritiker auf Konfrontationskurs gehen, mahnen andere vor Hysterie. "Wir haben Gerhard Schröder als Kanzler gewollt", meint Klaus Hirschnitz, "ich werde mich jetzt nicht benutzen lassen, um ihn zu demontieren". Für Hirschnitz, Geschäftsführer des Dresdner SPD-Unterbezirks, bietet die Agenda Reformchancen, "wir kommen gar nicht umhin, das durchzusetzen".
Das aber ist heftig umstritten. So warnt auch Schneider vor Negativfolgen für den Osten. Da die Arbeitslosigkeit hier zu Lande höher ist als im Westen, fordert er wie die Dresdner SPD-Bundestagsabgeordnete Marlies Volkmer, den zweiten Arbeitmarkt in den neuen Ländern zu erhalten. Noch weiter geht Nolle.
Die geplante Gleichsetzung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sei "Wählertäuschung", schimpft er. Wer wie Schröder mit solchen Einschnitten ein Investitionsprogramm für die Kommunen finanzieren wolle, schade der deutschen Einheit. "Dann finanziert der ostdeutsche Arbeitslose die Straßenlaternen im Westen."
(Sven Heitkamp/Jürgen Kochinke)