Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 10.01.2004

Vor den Landtagswahlen im September: Schlappe für die sächsische SPD-Vorsitzende Constanze Krehl

Ein Chef für die Chefin
 
Die Landespartei verzichtet auf die Urwahl und nominiert überraschend Thomas Jurk zum Spitzenkandidaten

Der große Kampf in der kleinen sächsischen SPD sollte an diesem Wochenende beginnen. In Zwickau und Dresden wollten die Landesvorsitzende Constanze Krehl und der Chef der Landtagsfraktion, Thomas Jurk, sich auf den ersten von acht Regionalkonferenzen den Mitgliedern vorstellen, damit die Basis zum Monatsende in einer Urwahl ihren Spitzenkandidaten für die Landtagswahl bestimmen könne.

Schon vor dem ersten Duell aber hatten sich die Genossen Bewerber im Clinch verhakt. Sogar das erste Foulspiel wurde beklagt, ein dirty trick wie in einem Wahlkampf bei den ganz Großen. Ein gefälschtes Interview des Kandidaten Jurk, das ihm schaden könnte, war verbreitet worden – und zwar vom Computer eines Unterstützers der Landesvorsitzenden. Jurk wollte verärgert mindestens eine Entschuldigung, Krehl distanzierte sich und forderte Aufklärung.

Das peinliche Weihnachtsvideo

Und es kamen nun noch mehr Notrufe aus der Partei an ihre Spitzen. Briefe, Anrufe, Mails mit dem immergleichen Tenor: Bitte, hört auf damit! Besorgt warnten Kreisvorsitzende der Partei, dass vielleicht gar nicht viele Genossen zu den Regionalkonferenzen kommen könnten. Die Basis interessiere der Wettstreit ihrer Top-Leute nicht, groß sei die Angst, dass die kleine Partei mit ihren 4700 Mitgliedern sich zerfleische über einen unsinnigen Streit. Eine Partei, die den letzten Wahlen lediglich auf 10,7 Prozent gekommen sei, müsse keinen internen Krieg über die Spitzenkandidatur austragen. Eine große Friedenssehnsucht an der Basis machten prominente sächsische Spitzen-Sozis wie der frühere Landeschef Karl-Heinz Kunckel aus, sie mussten eine Urwahl mit deprimierend geringer Beteiligung befürchten. „Sie wissen ja“, sagt ein führender Dresdner Sozialdemokrat, „wir Ostdeutschen sind harmoniebedürftig.“

Unter Kunckels Vermittlung hat die Sachsen-SPD jetzt die Notbremse gezogen und die Urwahl im letzten Moment abgesagt. Offiziell gibt es keine Verlierer. Jurk und Krehl treten als Team an, allerdings wird Jurk der Listenplatz ganz oben zugestanden. Die Landesvorsitzende stellt sich dahinter an und macht sich keine Illusionen darüber, wie dieser Schritt gewertet wird. Die Europa-Abgeordnete aus Leipzig geht als Verliererin aus dem Kampf hervor, der gar nicht mehr stattfindet. Offenkundig hat sie aus Rücksicht auf die Partei verzichtet, weil ihre Chancen auf einen Sieg als gering erachtet wurden. Sie macht eine heitere Miene zum für sie bitteren Deal, aber die tiefe Enttäuschung ist nicht zu übersehen. In ihrem Lachen klingt Bitterkeit mit.

Denn vor allem sie hatte diese Spitzenkandidatur unbedingt gewollt, während der auffällig bescheidene Jurk anfangs noch prüfte, ob er sich der Aufgabe stellen sollte. Für Krehl – die die Parteiführung nach dem Wahlfiasko von 1999 übernommen hatte – stand schon im vergangenen Sommer fest, dass sie kandidieren würde, falls Leipzigs Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee die angebotene Spitzenkandidatur nicht annehmen würde. Als Tiefensee im Oktober dann verzichtete – aus Rücksicht auf die Leipziger Olympia-Bewerbung – machte die Landesvorsitzende sofort ihre Ansprüche geltend. Sie sagte offen, dass sie sich für besser als Jurk halte. Sie machte sich sogar die Idee der Urwahl aller Mitglieder zu eigen, obwohl sie ahnte, dass der heitere, gemütliche Jurk – ein Mann wie ein kräftiger, knuffiger Bär – es bei der Basis leichter haben würde.

Die eher herb erscheinende Christine Krehl trieb gar einen außergewöhnlichen Aufwand, als sie sich einer beklemmenden Zumutung aussetzte. Zu Weihnachten bekamen die 4700 Mitglieder ein zehnminütiges Video ins Haus geschickt, auf dem die vielgereiste und weltgewandte Europa-Parlamentarierin sich vor Tannenbaum und Schnitzkunst aus dem Erzgebirge mit ihrer Familie zeigte und als volksnahe biedere Frau gab. Doch ihre schauspielerischen Versuche wirkten Mitleid erregend. Die Großstädterin und allein erziehende Mutter konnte das schlichte ländliche Familien-Idyll nicht überzeugend vertreten – und spürte das erkennbar schon in der Rolle selbst. Entsetzt mokierten sich jüngere Sozialdemokraten über diesen „Beitrag für die Sendung von Stefan Raab“.

Während das Video als Weihnachtsgabe über Sachsens Sozis kam, wies Krehl bereits brüsk die ersten Vorschläge zurück, die Urwahl abzusagen. Schließlich sei der interne Wahlkampf vom Landesvorstand so beschlossen worden, der sei doch keine Spaßveranstaltung. Doch zu Jahresbeginn sah sie offenbar ein, wie gering ihre Chancen sind und wie groß der Schaden für die Partei sein könnte. Wie eine Art Unterhändler fühlte der frühere Parteichef Kunckel zunächst in Einzelgesprächen vor, welcher Kompromiss möglich sein könnte, dann kam es zu Wochenbeginn zum Geheimtreffen.

Thomas Jurk, der sonst sehr kontrolliert wirkt, kommt am Tag danach außergewöhnlich heiter daher. Der 41-jährige gelernte Funkmechaniker, der die Fraktion seit 1999 führt, bekennt offen, dass er allen Grund zur Freude hat. Er plaudert entspannt wie selten. Der aus dem kleinen Weißkeißel bei Weißwasser in der Nähe der polnischen Grenze stammende passionierte Radio-Bastler – er baute schon zu DDR-Zeiten gigantische Antennen, um Westfernsehen sehen zu können – weiß, dass es für ihn jetzt darauf ankommt, überhaupt erst bekannt zu werden. Seine Freunde setzen darauf, dass der umgängliche Techniker viele Wähler im direkten Kontakt eher für sich als Person einnehmen kann. Im Landtag wird die SPD als drittstärkste Partei hinter CDU und PDS mit oft grotesk geringen Redezeiten kaum wahrgenommen, obwohl immerhin Jurks Fraktion im Konflikt um Kurt Biedenkopfs Affären eine treibende Kraft war.

Offiziell nur Sieger

Zum Formelkompromiss von Jurk und Krehl gehört die Vereinbarung, dass beide sich über die Aufstellung der Landesliste verständigen werden. Beide wissen, dass diese Aufgabe reichlich Potenzial für den nächsten Streit in sich birgt. Vor allem die Wiederaufstellung des im Ton oft drastischen Abgeordneten Karl Nolle, der maßgeblich einige Affären aus der Biedenkopf-Ära aufdeckte, wird umstritten sein. Krehl lehnt Nolles Stil entschieden ab, sie wollte ihn eigentlich gar nicht wieder auf der SPD-Liste haben – auch wenn der Abgeordnete der vielleicht bekannteste aller sächsischen Sozialdemokraten ist.

So mag es auch kein Zufall sein, dass eben dieser Abgeordnete ihr bereits am Donnerstagabend öffentlich nahe legte, doch bitte aus ihrer parteiinternen Niederlage Konsequenzen zu ziehen und als Vorsitzende aufzugeben. Freilich zeichnet sich schon der nächste Formelkompromiss ab. Die Partei könne ja, so sagte Thomas Jurk am Freitag der SZ, die Liste nach dem Reißverschlussverfahren aufstellen. So hätte man keine Verlierer in der Partei – offiziell zumindest.
(Von Jens Schneider)

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: