Karl Nolle, MdL

Leipziger Volkszeitung LVZ/DNN, 01.04.2004

Untreue-Verdacht: Durchsuchung bei Oberbürgermeister in Görlitz

 
Dresden. Es war ein Großeinsatz von einigem politischen Belang: Gestern statteten 35 Wirtschaftsexperten aus dem Landeskriminalamt (LKA) der Rathausspitze von Görlitz einen überraschenden Besuch ab. Im Zentrum der breit angelegten Durchsuchung standen Dienst- und Geschäftsräume der beiden wichtigsten Vertreter der Stadt, Oberbürgermeister Rolf Karbaum (parteilos) und Finanzbürgermeister Rainer Neumer (CDU). Laut LKA-Sprecher Lothar Hofner geht es um den Verdacht der Untreue, der Einsatz habe um neun Uhr begonnen und bis 16 Uhr gedauert. Dabei seien auch die Stadtwerke durchsucht worden - und nicht zuletzt das Rathaus.

Konkret drehen sich die Vorwürfe um zwei Fälle. Zum einen sollen Karbaum und Neumer Verkaufserlöse bei den Stadtwerken rechtswidrig in einem risikoreichen Spezialfonds angelegt haben. Es habe sich um 50 Millionen Euro gehandelt, so die Staatsanwaltschaft Görlitz. Ergebnis: Die beiden Stadtoberen hätten einen "Verlust von mehr als 664000 Euro erwirtschaftet". Auch im zweiten Fall geht es um die Stadtwerke. Laut Staatsanwaltschaft soll OBM Karbaum beim Verkauf von Stadtanteilen an eine Firma einen zweifelhaften Vergleich abgeschlossen haben - "ohne Zustimmung des Stadtrats". Die Gesamtsumme inklusive Zinsen betrage rund 3,3 Millionen Euro.

Für den OBM und seinen Beigeordneten für Finanz- und Wirtschaftsfragen ist das äußerst unkomfortabel. Denn die bittere Nachricht kommt passgenau zum Stichtag: Heute endet die Bewerbungsfrist der insgesamt 17 deutschen Kandidaten für die "Kulturhauptstadt Europas 2010" - darunter auch Görlitz. Dabei hatte sich die Stadt Hoffnungen gemacht. 2010 fällt der Titel turnusmäßig an Deutschland, und Görlitz wollte sich als Bindeglied zwischen Ost und West präsentieren.

Neumer selbst sorgt nicht das erste Mal für Schlagzeilen. Schon im August 1997 hatte der damalige OBM Matthias Lechner (CDU) Vorwürfe gegen seinen Finanzbürgermeister erhoben, es ging ebenfalls um Untreue - und Neumers Job als Geschäftsführer der Stadtreinigung.

Für den wirtschaftsschwachen Ostzipfel Sachsens ist die aktuelle Durchsuchung ein Desaster. Zwar sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen, und die Entscheidung zur Kulturauszeichnung fällt erst im Herbst 2005 im Bundesrat. Aber der Traum von der Kulturhauptstadt dürfte mit den Ermittlungen der 35 Wirtschaftskriminalisten in weite Ferne gerückt sein.
(von Jürgen Kochinke)

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