Freie Presse Chemnitz, 31.08.2004
Schorlemmer: „Kanzler muss den Osten ernster nehmen"
Ex-Bürgerrechtler sieht Ostdeutschland mit Hartz IV kippen - Scharfe Kritik an „Schnoddrigkeit" der Bundesregierung - Solidarität und Reform haben Sinn verloren
Berlin. Der frühere DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer ist als scharfer Kritiker der rotgrünen Reformpolitik bekannt. Er sieht vor allem die Ostdeutschen als die Verlierer der Agenda 2010 an. Peter Koard wollte von dem Theologen und überzeugten Sozialdemokraten wissen, welche Folgen Hartz IV für den Einigungsprozess hat.
Freie Presse: Die Proteste weiten sich aus. Werden die Gräben zwischen Ost und West wieder aufgerissen?
Friedrich Schorlemmer: Das ist so. Bei den Protesten gegen Hartz IV entlädt sich aufgestauter Frust. Die hohen Erwartungen, die die Ostdeutschen mit der Wiedervereinigung hatten - und die ihnen auch gemacht wurden - sind nicht erfüllt worden. Hinzu kommt, dass viele fürchten, sie fallen mit der Reform in ein soziales Loch. Deswegen wehren sie sich und gehen auf die Straße. Außerdem erwarten die Menschen im Osten stärker als im Westen, dass der Staat soziale Regelungskompetenz wahrnimmt...
Freie Presse: ... darauf setzt doch auch die Bundesregierung, wenn sie immer wieder ankündigt, was mit Hartz IV alles besser wird.
Schorlemmer.. Die Menschen spüren, dass dies leere Versprechungen sind. Sie fühlen sich von den Regierenden nicht ernst genommen. Das lässt sich auch nicht mit besserer Vermittlung der Reformvorhaben ändern. Das muss man schlucken oder dagegen protestieren. Und die Ostdeutschen haben sich für das Zweite entschieden.
Freie Presse: Schätzt der Kanzler die Stimmung im Osten richtig ein?
Schorlemmer: Er reduziert die Stimmung auf ein Verhetzungsproblem. Wenn die Menschen von Gerhard Schröder gewarnt werden, sich nicht von der PDS aufhetzen zu lassen, werden sie erst recht wütend. Bei solchen Äußerungen wird ersichtlich, wie tief die Gräben zwischen Ost und West eigentlich sind. Der Kanzler kann sich nicht vorstellen, welche roten Lampen bei den Ostdeutschen angehen, wenn ihnen unterstellt wird, bei ihrer Meinungsäußerung seien sie von anderen aufgehetzt worden. Das ist den Menschen im Osten 40 Jahre von der SED vorgehalten worden. Damals war es der imperialistische Klassenfeind. Als wenn man nicht selber denken könnte und einen Einflüsterer braucht.
Freie Presse: Macht Schröder es sich damit zu leicht?
Schorlemmer: Auf jeden Fall. Er muss die Lebenssituation der Menschen ernster nehmen und den Arbeitslosen erklären, wie sie von 331 Euro plus Wohn- und Heizungsgeld im Monat leben sollen. Da gibt es nichts zu vermitteln: Es kann den Ostdeutschen niemand weismachen, dass ab dem 1. Januar 2005 hunderttausende Arbeitsplätze entstehen.
„Clement ist so arrogant wie einst Günter Mittag vom SED-Politbüro“
(Friedrich Schorlemmer)
Ich glaube, dass Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Wolfgang Clement es gut meinen, aber die Schnoddrigkeit, mit der sie über die Ängste der Leute hinweggehen, die ist ungeheuerlich - vor allem von Wirtschaftsminister Clement. Er ist so arrogant wie einst Günter Mittag vom SED-Politbüro. Er erzählt überall, dass er im Osten rumkomme und ganz etwas anderes höre. Ich weiß nicht, mit wem er da gesprochen hat. Clement muss genauer hinhören. Dann hätte er auch das nötige Einfühlungsvermögen. Ich glaube, viele in der Regierung wissen gar nicht mehr, wie es den Menschen geht, die von Hartz IV betroffen sind. Sie sagen nur, so schlimm wird das nicht. Das lässt sich leicht sagen, wenn man 5.000 Euro und mehr im Monat verdient.
Freie Presse: Dennoch wird im Westen über die Aktionen zunehmend der Kopf geschüttelt.
Schorlemmer: Die Demonstranten sind nicht gegen die Demokratie, sondern sie setzen sich dafür ein, dass Gerechtigkeit und Freiheit zusammengehören. Die Grundfrage ist doch, ob Sozialdemokraten es hinnehmen können, dass man in einer ökonomischen Krise die Ärmeren noch ärmer macht und sich an die Reicheren nicht rantraut. Das kann nicht sozialdemokratisch sein und gilt für den Westen genauso wie für den Osten. Die immer wieder beschworene Solidarität hat längst ihren Sinn verloren, genauso wie der Begriff Reform - was da passiert, ist schlicht Abbau. In den alten Ländern wird Wut auf die undankbaren Ostdeutschen geschürt und im Osten machen sich national-soziale Gefühle breit.
Freie Presse: Kritiker der ostdeutschen Entwicklung sehen nicht nur die PDS als Profiteur, sondern auch die NPD.
Schorlemmer: Das ist eine ungeheuerliche Gleichsetzung. Wer die PDS in dieser Weise diffamiert, treibt die Wähler in deren Arme.
Freie Presse: Was muss die Bundesregierung tun, um den Osten nicht abrutschen zu lassen, wie es der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck gesagt hat?
Schorlemmer: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat einmal festgestellt, der Osten steht auf der Kippe. Ich sage inzwischen: Jetzt kippt der Osten. Die Bundesregierung scheint sich damit abgefunden zu haben, dass Ostdeutschland auf Dauer am Tropf hängt. Das wird sich auch nicht ändern, solange dort keine Wertschöpfung stattfindet.
Freie Presse: Kommt Schröder um Änderungen herum?
Schorlemmer: Jetzt zu wackeln, bringt die Bundesregierung um alle Glaubwürdigkeit. Aber wenn sie so weiter macht, ergeht es ihr nicht anders. Schröder ist dabei, mit seiner Politik den sozialdemokratischen Gedanken in die Sackgasse zu fahren. Mit der Agenda 2010 hat er eine Grundentscheidung zu Gunsten des neoliberalen Zeitgeistes getroffen. Es war falsch, ganz auf Angebotspolitik zu setzen und die Kaufkraft zu vernachlässigen.
Freie Presse: Da sind Sie bei Oskar Lafontaine. Was halten Sie von seinem Auftritt in Leipzig?
Schorlemmer: Der falsche Mann sagt Richtiges.