Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 11.11.2004

Im zweiten Anlauf durchs Ziel gestolpert

Die neue Amtszeit von Ministerpräsident Georg Milbradt beginnt mit einem Debakel: Koalitionäre verweigern sich und belohnen die Rechten
 
Es ist wie bei einem Boxer, der den ersten schweren Treffer bereits hingenommen hat. Noch wird verzweifelt eine entschlossene Miene gemacht, um die Punktrichter zu beeindrucken. Beim zweiten harten Schlag, der trifft, kämpft man nur noch um genügend Luft. Egal, was rund um einen passiert. Hauptsache, irgendwie stehen bleiben und weiter über die Runden kommen.

Georg Milbradt, der im September als CDU-Spitzenkandidat zu den Wahlverlierern gehörte, musste den zweiten Gegentreffer gestern exakt um 10 Uhr 35 im sächsischen Landtag hinnehmen. Der Blumenstrauß für die Gratulationscour anlässlich seiner Wahl zum neuen Ministerpräsidenten war von aufmerksamen Parlamentsmitarbeitern bereits in Reichweite geschafft worden. Dann wird das Ergebnis der geheimen Abstimmung verlesen: Nur 62 Stimmen – eine weniger als im ersten Wahlgang erforderlich.

Ein Fiasko. Und ein schwerer Treffer, bei dem manche Trainer schon einmal vorsorglich das Handtuch für ihren Schützling werfen. Die neue Dresdner Regierungskoalition von CDU und SPD kommt schließlich auf insgesamt 68 Stimmen. Kandidat Milbradt ist vom eigenen Lager geschlagen worden.

Politische Sitten verrohen schnell

Es ist genau das passiert, was um jeden Preis verhindert werden sollte. So hat die CDU-Fraktion vorsorglich selbst die Leipziger Abgeordnete Jutta Schmidt als Mehrheitsbeschafferin direkt aus dem Krankenhaus ins Plenum geholt. Nur bei ihrer ebenfalls erkrankten Fraktionskollegin Karin Strempel verweigerten die Ärzte hartnäckig die Transporterlaubnis. Es hätte trotzdem reichen müssen.

Doch die Gräben in den eigenen Reihen sind längst zu tief und zu breit. In der CDU, wo Unzufriedene zum Sonderparteitag am vergangenen Wochenende wenigstens noch intern ihren Unmut über die eigene politische Erfolgslosigkeit artikulierten, ist der Richtungsstreit hoffnungslos eskaliert. Gestritten wird nämlich nicht mehr. Nun wird nur noch tückisch geschwiegen.

Und im Schutz der anonymen Abstimmung ist offenbar jede Waffe recht. So verweigern etliche Koalitionsabgeordnete Milbradt nicht nur die Zustimmung. Einige Parlamentarier schaffen es sogar locker über eine Hemmschwelle, die bisher als völlig tabu galt: Das taktische Spiel über die rechtsextreme Bande.

Milbradts Gegenkandidat, den die zwölfköpfige NPD-Fraktion bar aller Chancen aufstellt, kommt gleich in der ersten Runde auf 14 Stimmen. Mindestens zwei sächsische Landtagsabgeordnete müssen sich nun vor ihrem Gewissen verantworten oder ihnen werden die „Bravo“-Rufe der zunächst ungläubigen, später euphorischen NPD-Kollegen lange in den Ohren klingen. Die Rechtsextremen als Keule im internen Machtkampf der Regierungsfraktion. Die Sitten in Sachsens Landtag verrohen schnell.

Während die politische Schmuddelecke feiert, sucht das verzweifelte CDU-Team einen Ausweg: Abbruch oder weiterkämpfen? Der Blumenstrauß – weiße und gelbe Astern – verschwindet. Auch die Sekt-Paletten für den Stehempfang werden wieder in die Kühlkammer gebracht. Minuten der völligen Ratlosigkeit, in denen das unheimliche Wort von einer Neuwahl die Runde macht. „Es gab einen Moment, da dachte ich ans Aufhören“, wird sich ein sichtlich betroffener Georg Milbradt später erinnern. Doch nach einer Stunde der Krisensitzungen siegt auch bei ihm wieder die Hoffnung. Gut möglich, dass das Mütchen der Unzufriedenen jetzt abgekühlt ist. Die nächste Runde lockt mit einem versöhnlichem Ergebnis. Alles wird wieder gut.

Kurz vor Zwölf, der zweite Wahlgang ist beendet, steht die erneute Fehleinschätzung offiziell fest. Wieder nur 62 Stimmen für Milbradt, wieder 14 Stimmen für die NPD. Der dritte Treffer nimmt nicht nur die Luft. Er schmerzt fürchterlich und macht den erschöpften Kandidaten wehrlos. Jetzt hilft nur noch das parlamentarische Regelwerk, welches inzwischen nicht mehr auf der absoluten, sondern lediglich noch auf der einfachen Mehrheit besteht. Georg Milbradt darf endlich als Sieger aus dem Ring torkeln.

Die Stimmung bei der folgenden Vereidigung ist gedämpft. Auch der Sieger weiß, was ihn in Zukunft erwartet. Die Wahl zum Ministerpräsidenten nimmt der 59-Jährige deshalb nicht allein mit der üblichen Formel an. „Uns stehen schwierige Jahre bevor. Ich bitte das Hohe Haus darum, mit der neuen Regierung kollegial zusammenzuarbeiten.“ Ein Hilferuf, in dem andere bereits eine Kapitulationserklärung sehen.

Tatsächlich hat Georg Milbradt an diesem Tag etwas Wertvolles verloren. Er wird künftig ohne die Sicherheit einer fortwährenden absoluten Mehrheit im Parlament regieren müssen. Nicht die 13 SPD-Abgeordneten als neue politische Verbündete, sondern vor allem die schweigenden 55 CDU-Parlamentarier sind offenbar bereit, strittige Abstimmungen jederzeit zu einer Zitterpartie zu machen. Milbradt droht die kurze Leine durch die eigene Fraktion. Ein Ministerpräsident der Abhängigkeiten, wie es prompt auf den Oppositionsbänken heißt. Ein Wackelkandidat.

Blumen und Gratulationen bleiben nicht erspart

Dem bleiben Gratulationscour und Blumen dennoch nicht erspart. Ehefrau Angelika schenkt eine Schiller-Biografie. Milbradt dürfte in den nächsten Tagen aber kaum zum Lesen kommen. Schon ist die nächste Hürde in Sicht. Heute wird der Regierungschef seine neue Ministerriege vorstellen. Bewerber für die raren Plätze gibt es viele – zu viele. Die Zahl der Unzufriedenen wird also wachsen und das Schweigen in den CDU-Reihen künftig noch lauter. Handys klingeln. Milbradt und seine Vertrauten stecken die Köpfe noch enger zusammen.

Im Fernsehen läuft die Nachricht des Tages: NPD-Stimmenplus im sächsischen Parlament. Der CDU-Abgeordnete Heinz Eggert regt nun sarkastisch eine neue TV-Show an, bei der die Spieler von außen an der Dresdner Landtagstür rütteln müssen. Motto: „Ich bin doof. Lasst mich hier rein!“ Laut Eggert umsonst. Die Doofen-Quote sei längst erfüllt.
Von Gunnar Saft

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: