Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 08.04.2005

Der Todesmarsch: erste Begegnung mit dem Krieg Mehr als 30 KZ-Häftlinge starben 1945 bei Sebnitz

 
"Ich kam gerade mit Nikolai und einer Ladung Holz die Straße runter, da haben wir die Häftlinge gesehen", erinnert sich der 72-jährige Erwin Röllig. "Es waren vielleicht 50 magere Gestalten, die von der SS getrieben wurden. Ein Wachmann hatte eine Gerte vom Baum geschnitten und hieb damit einem Häftling ins Gesicht, bis das Blut spritzte." So seien die Deutschen, habe ihm der russische Kriegsgefangene Nikolai zugeraunt.

Röllig steht an der Straße vor seiner Sägemühle in der hinteren Sächsischen Schweiz bei Sebnitz und denkt 60 Jahre zurück. "Ich war zwölf Jahre alt. Der Todesmarsch war meine erste wirklich greifbare Begegnung mit dem Krieg", entsinnt sich der Sägemüller. "Im April 1945 haben wir Holz für Lastwagen gemacht, deren Motoren mit Öfen betrieben wurden. Es gab ja damals kaum noch Benzin." Denn die Alliierten flogen einen Angriff nach dem anderen auf das 80 Kilometer entfernte Werk der Braunkohle-Benzin AG in Schwarzheide. Zum Aufräumen wurden KZ-Häftlinge aus Auschwitz herangefahren. Unter ihnen war auch der Tscheche Pavel Stránsk. In seinen selbstverlegten Erinnerungen ("Als Boten der Opfer") beschreibt er, wie KZ-Häftlinge in dem Werk an der Autobahn Dresden-Berlin sogar brennende Benzinwaggons von einem Zug abkoppeln mussten. Als aber die Rote Armee immer näher rückte, brachen die SS-Schergen am 18. April 1945 mit mehreren hundert ausgemergelten Gefangenen zu einem Marsch nach Süden auf.

"Die SS hat die Leute ein paar Tage in großen Höfen in Saupsdorf bei Sebnitz eingepfercht", erinnert sich der 71-jährige Herbert Schäfer. "Wer die Häftlinge mit Essen versorgt, der geht gleich selbst mit", hätten die Wachen gedroht. Mit Stöcken angelten sich die Gefangenen Kartoffeln aus dem Keller und sammelten Getreidekörner. Davon zehrten sie tagelang. Wer auf dem Marsch vor Erschöpfung zusammenbrach oder fliehen wollte, wurde erschossen. Mehr als 30 Menschen ließen allein im Raum Sebnitz ihr Leben. Erst am 8. Mai 1945 machte sich die Wachmannschaft aus dem Staub.

Rund um Sebnitz erinnern heute Tafeln aus Sandstein an den Todesmarsch. "Eine wurde wegen Umbauarbeiten abgenommen", erzählt der evangelische Pfarrer Joachim Rasch. Er organisiert Projekttage an Schulen und lädt Zeitzeugen wie Pavel Stránsk ein (www.zeitzeugen-dialog.de). Mit Jugendlichen will Rasch Ende April eine Strecke des Todesmarsches als Pilgerweg nachlaufen und dabei die entfernte Tafel neu installieren. "Wir wollen ein Zeichen gegen jegliche Geschichtsverfälschung setzen und unsere Schuld als Deutsche nicht verharmlosen", unterstützt Landrat Michael Geisler (CDU) das Vorhaben. Ein Gedenken am 29. April auf dem Sebnitzer Marktplatz und ein Gottesdienst mit dem sächsischen Landesbischof Jochen Bohl stehen unter dem gemeinsamen Motto "Erinnern, bedenken, einstehen für den Frieden". In der Region konnte mit den Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) immerhin eine rechtsterroristische Vereinigung entstehen, einheimische NPD-Leute sitzen in Kommunalparlamenten und seit 2004 auch im Landtag.

Landrat Geisler gibt unumwunden zu, dass es ein Problem mit verfestigten rechtsextremistischen Strukturen gibt. Dass Leute heute als Neonazis auftreten, kann Sägemüller Erwin Röllig nicht nachvollziehen. Acht Menschen wurden während des Todesmarsches an einem Bach bei seiner Mühle ermordet und verscharrt. Lange informierte außer einem Gedenkstein auch ein kleiner Zettel über diese Verbrechen in den letzten Kriegstagen. "Irgendwann ist dieses Blatt verschwunden", entsinnt sich Röllig. "Das müsste man eigentlich mal erneuern", sagt er und fügt nachdenklich hinzu: "Bevor alle gestorben sind, die hier davon noch berichten können." epd
von Leonhardt Krause

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