ND Neues Deutschland, 02.08.2005
»Der falschen Diagnose folgte eine falsche Therapie«
Sachsens Landtagsabgeordneter Nolle: „SPD muss Inhalte und Mentalität ihrer Politik ändern“
Der SPD in Sachsen droht das Aussterben, sagt der Landtagsabgeordnete Karl Nolle. Der 60-jährige Unternehmer, der in Dresden eine Druckerei besitzt, macht dafür nicht zuletzt »Flutwellen« aus Berlin verantwortlich, die Folgen einer gescheiterten SPD Regierungspolitik sind. Im Gespräch mit ND-Mitarbeiter Hendrik Lasch bescheinigt der Parteilinke Nolle dagegen dem Linksbündnis gute Chancen und äußert die Hoffnung, dass wieder zusammenwächst, was sich derzeit auseinander entwickelt.
• In einer Parteitagsrede haben Sie unlängst erklärt, der SPD in Sachsen drohe das Aussterben. Warum?
Karl Nolle: Es droht, wenn nicht Inhalte und Mentalität der Politik geändert werden. Die SPD im Freistaat ist die einzige Parteineugründung. Während die CDU noch heute von Kasse, Organisation und Kadern der Block-CDU profitiert, hat die SPD damals bewusst auf die Erfahrungen von Reformern aus der SED verzichtet. Heute hat der Landesverband nur 4500 Mitglieder. Der Versuch einer Weiterentwicklung ist durch die politischen »Flutwellen« aus Berlin, aber auch durch hausgemachte Fehler immer wieder gebremst worden. Umfragen zeigen, dass die Wähler der SPD keine besonderen politischen Felder mehr zuordnen. Gerade für eine Partei, die als Schutzmacht der kleinen Leute groß geworden ist, ist es dramatisch, die soziale Gerechtigkeit als Kernkompetenz im Bewusstsein der Wähler in so erschreckendem Maße verloren zu haben.
• Wie haben sich sieben Jahre Schröder-Regierung in der Ost SPD ausgewirkt?
Es hat viel harmonievolle Anpassung an den Bundeskurs in Partei und Regierung gegeben. Im Bund wurde und wird westzentrierte Politik gemacht, unter Kohl wie unter Schröder. Ein Ergebnis ist die Agenda 2010. Sie bezieht sich in der Diagnose bestenfalls auf die sozialen Verhältnisse und die wirtschaftliche Entwicklung im Westen. Hätte man auch nur ansatzweise die besonderen Bedingungen im Osten zur Kenntnis genommen, hätte man grundlegend anders handeln müssen. Die Solidarpakte I und II waren notwendige Teillösungen. Sie reichen aber bei weitem nicht aus. Wenn der Osten nicht auf die Beine kommt, hängt er wie ein Mühlstein am Hals der westdeutschen Volkswirtschaft.
• Sie stammen aus einer ursozialdemokratischen Familie. Wie fühlt man sich, wenn eine Partei wie die SPD eine Agenda 2010 entwirft?
Entscheidend sind in der Politik nicht gute Absichten, sondern die reale Wirkung und ihre Wahrnehmung durch die Wähler. An ihrem eigenem Anspruch, Wachstum zu schaffen, die Arbeitslosigkeit zu senken und Beschäftigung sichtbar aufzubauen, ist die Agenda gescheitert. Mich wundert das nicht. Ich habe nie geglaubt, dass Daumenschrauben für die kleinen Leute Wachstum schaffen können. Wer Steuergeschenke für Reiche macht, muss sich nicht über sinkende Steuereinahmen wundern. Die neoliberale Wundergläubigkeit der so genannten »Profis der Nation« hat in erschreckender Weise tiefe Schneisen in die SPD, ja sogar in Teile der Gewerkschaften geschlagen. Der falschen Diagnose folgte eine falsche Therapie. Im Bewusstsein sozialdemokratischer Wähler ist diese Politik gründlich gescheitert, wie zehn verlorene Wahlen in sieben Jahren zeigen.
• Nach Meinung Schröders zeigt die Agenda 2010 erste Erfolge.
Ich sehe aber keine. Meint er die 183 000 fehlenden Ausbildungsplätze? Die hohe Jugendarbeitslosigkeit? Die zementierte Langzeitarbeitslosigkeit? Die Agenda 2010 wurde Deutschland übergestülpt, unabhängig von den Verhältnissen in Ost und West. Für den Osten hat das Konzept von Anfang an nicht gepasst. Wir hätten einen Osthartz gebraucht und haben einen Westhartz bekommen.
• Schröders hat sein politisches Schicksal mit der Agenda 2010 verknüpft. Am 1. Juli hat er das Handtuch geworfen. Hat er den Scherbenhaufen zu verantworten, vor dem die SPD steht?
Die Entscheidung für die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze war die demokratische Entscheidung großer Mehrheiten auf vielen Parteitagen. Wer behauptet, es wäre Schröder gewesen, der irrt. Eine ganze Generation von Amts- und Mandatsträgern war nicht von diesen neoliberalen Erklärungs- und Handlungsmustern abzubringen. Der BDI hätte keine bessere Strategie zum Schaden der SPD formulieren können.
• Im Wahlkampfmanifest steht nun neben der Agenda 2010 auch eine Millionärssteuer.
Das neue Wahlprogramm ist ganz prima. Man hätte es aber in sieben Jahren Rot-Grün längst umsetzen können. Wer hat uns daran gehindert?
• Warum wird die SPD für eine Politik abgestraft, die von der CDU ganz ähnlich auch propagiert wird?
Von der CDU erwartet offenbar niemand, dass sie soziale Politik betreibt. Für die SPD aber ist das ein Markenzeichen. Wenn diese sozialdemokratische Kernkompetenz verloren geht, nehmen das die Wähler übel.
• Wie schnell sind Markenzeichen und Inhalt wieder in Übereinstimmung zu bringen?
Das ist ein jahrzehntelanger Prozess. Wahlen kann man gewinnen und verlieren. Aber die SPD kann 150 000 Mitglieder nicht in wenigen Tagen zurückholen, wenn das überhaupt gelingt. Es wird lange dauern, bis sich die Partei personell regeneriert hat. Die Ausgetretenen sind in der Regel die Sensiblen und Aktiven, Botschafter guten sozialdemokratischen Willens. Sie haben einen bewussten Schritt gemacht und werden nicht leicht zurückkommen, es sei denn, es gibt eine gravierende Veränderung der Politik.
• Einige engagieren sich jetzt für die Linkspartei. Sie haben unlängst gesagt, dass sie diese »beobachten«. Was nehmen sie wahr?
Ich kenne Lafontaine, Maurer und andere persönlich seit langer Zeit. Mich interessiert, was sie treiben nach ihrem bitteren Abschied von der SPD. Mich interessiert, ob das, was dort in der neuen Linken entsteht, lebensfähig ist. In 150 Jahren Arbeiterbewegung gab es viele Abspaltungen, dauerhaft lebensfähig waren die Versuche kaum. Die Situation heute aber ist eine andere. Linke, die die SPD verlassen haben, und erfahrene, aktive Gewerkschafter arbeiten zusammen mit der PDS, die viel dazu gelernt hat und die nun einmal im Osten eine Volkspartei ist. Der linke Differenzierungsprozess hat heute ein völlig anderes Gewicht und ein anderes Gesicht.
• Wird aus dem Beobachten ein Mitarbeiten?
Jeder bearbeitet den Acker, auf den er gestellt ist und den er am besten kennt. Ich bin in der SPD nicht als Hasenfuß bekannt und nutze meinen eigenen Kopf. 1986 bin ich aus der Partei ausgeschlossen worden, weil ich eine »feindlichen Organisation« unterstützt habe. Das waren damals die Grünen. Ein halbes Jahr später gab es die erste rot-grüne Koalition. Es ist immer leichter, mit der Partei zu irren, als gegen sie Recht zu haben. - Im Übrigen glaube ich, dass mit der SPD und der neuen Linken im Moment etwas auseinanderwächst, was eigentlich zusammengehört. Die Zeit kommt, wo es wieder zusammenwachsen kann.