Karl Nolle, MdL

Neues Deutschland ND, 13.08.2005

»Wir werben um Zustimmung, nicht um Übertritte«

Die Linkspartei stellt sich gegen den Zeitgeist: kulturell, intellektuell, sozial und ökonomisch. ND-Gespräch mit den Spitzenkandidaten Gregor Gysi und Oskar Lafontaine
 
Fragen nach dem berühmten Blatt Papier zwischen ihnen oder nach ihren persönlichen Ambitionen können Gregor Gysi und Oskar Lafontaine nicht mehr hören. Seit die beiden ihre Kandidatur bei der voraussichtlich am 18.September stattfindenden Bundestagswahl ankündigten, haben sie diese – mal moderater mal aggressiver gestellt – schon Dutzende Male beantworten müssen. Die beiden Politiker haben aber weit mehr zu sagen. Über rot-grüne Sündenfälle, schwarz-gelbe Planungen und linke Alternativen sprachen in der Piccolo WeinBotschaft im Berliner Regierungsviertel ND-Redakteure Gabriele Oertel und Jürgen Reents mit den Spitzenkandidaten der Linkspartei.PDS.

ND: Die Linkspartei schwimmt derzeit auf einer Erfolgswelle bei den Umfragen. Was sind die Gründe?

Lafontaine: Die konkurrierenden Parteien sind für Lohnkürzung, für Rentenkürzung, für Kürzung sozialer Leistungen und vertreten völkerrechtswidrige Kriege. Es gibt viele Menschen in Deutschland, die das nicht wollen. Diese Menschen setzen jetzt auf die Neue Linke.

ND: Sie verdanken Ihren Aufwind der politischen Konkurrenz?

Lafontaine: Und der sich daraus ergebenden Alternative. Wir sind dafür, dass die Löhne im Zuge des Produktivitätsfortschritts steigen. Wir sind dafür, dass die Renten wieder steigen und nicht ständig gekürzt werden. Wir sind dafür, dass der Sozialstaat so finanziert wird wie in anderen Industriestaaten. Wir sind für eine Politik, die auf Diplomatie und sozialen Ausgleich setzt und nicht auf Bomben.

Gysi: Wir stellen uns als einzige politische Kraft gegen den Zeitgeist, kulturell, intellektuell, aber auch sozial und ökonomisch. Die Leute spüren, dass wir das politische Spektrum erweitern. Unsere Wählerinnen und Wähler freuen sich darüber, weil sie eine Alternative wollen. Sie sind unzufrieden mit den herrschenden Verhältnissen. Daraus wächst Protest, aber die Stärke von Oppositionsparteien ist immer auch ein Ergebnis davon, dass Menschen die Regierungspolitik nicht toll finden.

ND: Welchen Anteil an den Umfragewerten verbuchen Sie auf das Gespann Lafontaine und Gysi?

Gysi: In einer Mediengesellschaft darf man die Bedeutung von Personen nicht unterschätzen, aber man soll sie auch nicht überschätzen. In NRW und Schleswig-Holstein haben wir bei den Landtagswahlen gesehen, dass eine Person anerkannter sein kann als ihr Gegenüber und dennoch aus politischen Gründen das Gegenüber gewählt wird.

ND: Die anderen Parteien begegnen Ihnen persönlich mit Verteufelungen und Hass. Unerwartet?

Gysi: Die Angriffe konzentrieren sich derzeit abgeschwächt auf mich und deutlich mehr auf Oskar Lafontaine. Er ist eine umstrittene, faszinierende Persönlichkeit. Die Diffamierung wird aber nicht wirken.

Lafontaine: Wenn die Verleumdungskampagne so wie jetzt bleibt, bedeutet das ja nur, dass dem politischen Gegner die Argumente ausgegangen sind. Gegen die Feststellung, dass sowohl diese Regierung als auch das konservative Lager für Lohn-, Renten- und Sozialkürzungen und für Entlastungen der hohen Einkommen und Vermögen sind, kommen sie anders nicht an – weil sie stimmt. Wir werden unsere Alternativen argumentativ vortragen.

Gysi: Als ich im Bundestag war, habe ich so viel Hass erlebt wie vorher nie in meinem Leben. Irgendwann haben die anderen Parteien sich damit abgefunden, dass es eine PDS im Osten gibt, die bundesweit um die fünf Prozent hat. Jetzt haben wir eine neue Situation: Oskar Lafontaine ist für sie ein gänzlich anderer Fall. Ich bin nicht richtig einer von ihnen, aber er. Er war der Vorsitzende der SPD. Und er baut nun mit uns gemeinsam eine Partei links von der Sozialdemokratie auf, die ein viel gewichtigerer politischer Faktor werden kann als die PDS es war und alleine je die Chance gehabt hätte, es zu werden. Damit kann sich die politische Elite in Deutschland offenbar nur schwer abfinden.

ND: Als der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann aus der Adenauer-Regierung zurücktrat – damals noch CDU- und nicht SPD-Mitglied –, weil er mit der Aufrüstung nicht einverstanden war, wurde ihm da auch Flucht aus der Verantwortung vorgeworfen?

Lafontaine: Nein, jedenfalls nicht von der SPD. Wenn man mit einer Politik nicht mehr einverstanden ist, dann muss man gehen. Das Regierungsprogramm der ersten rot-grünen Koalition, das die Unterschriften von Schröder, mir und Fischer trug, wurde mit der Teilnahme am Kosovo-Krieg gebrochen. Und ebenso mit der völligen Umorientierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diesen Wortbruch konnte ich nicht mittragen. Ich war 25 Jahre in politischen Ämtern, da muss mir niemand wegen dieses Rücktritts vorwerfen, ich würde Verantwortung scheuen. Vielmehr haben eine Reihe von Ministern der jetzigen Regierung es versäumt, Verantwortung für ihre Fehler zu übernehmen und zurückzutreten. Das Kleben am Sessel gilt mittlerweile als Standfestigkeit.

Gysi: Selbst wenn man die Art kritisiert, wie Oskar Lafontaine als Minister und Parteivorsitzender ausgeschieden ist – und das habe ich seinerzeit auch getan –, es lag darin auch eine gewisse Bescheidenheit. Die Alternative für ihn wäre gewesen, als SPD-Vorsitzender zu versuchen, den SPD-Kanzler zu stürzen, um den Kurs der Regierung zu ändern. Ich kann mir gut vorstellen, wie er dann in den Medien fertig gemacht worden wäre. Im übrigen: Wenn ihm einige Leute immer noch ankreiden, dass er damals gegangen ist, dann sollen sie sich doch freuen, dass er jetzt wiederkommt. Ich verstehe die Logik solcher Vorwürfe nicht.

Lafontaine: Das ärgert sie ja am meisten, dass wir beide wiederkommen. Sie haben ein Problem damit, weil sie wissen, dass wir glaubwürdig für eine andere Politik stehen.

ND: Wie sehr treffen die Vorwürfe?

Lafontaine: Vorwürfe treffen dann, wenn sie berechtigt sind. Das ist nicht der Fall. Ich wundere mich nur, wie man so anmaßend sein kann. Schröder hat den SPD-Vorsitz selbst weggeworfen – aber nicht aus besserer Einsicht, sondern weil er die Partei an die Wand gefahren hatte. Wäre die Situation bei mir vergleichbar gewesen, hätten alle gesagt, er verlässt das sinkende Schiff. Und als Kanzler schlägt Schröder sich jetzt in die Büsche, weil er – siehe Arbeitslosigkeit und Sozialabbau – einen Scherbenhaufen angerichtet hat.

ND: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, Sie repräsentierten eine rückwärts gewandte Politik, wollten zurück in die 70er Jahre?

Lafontaine: Das soll ein Vorwurf sein? In den 70er Jahren hatten wir eine sehr geringe Arbeitslosigkeit, wir hatten eine ordentliche Wachstumsrate und wir hatten eine steigende Beteiligung der unteren Einkommen am gemeinsamen Wohlstand. Ja, eine solche Politik wollen wir wieder, denn die Politik der 80er und 90er Jahre ist gescheitert. Unser »Zurück« ist ein Vorwärts und viel besser als das Zurück anderer in eine Wirtschaft ohne Arbeitnehmerrechte.

Gysi: Wir machen Steuervorschläge, die es schon mal gab, und andere, die es noch nicht gab. Aber entscheidend sind die strukturellen Reformen. Unsere Vorschläge zur Rentenreform zielen auf eine solidarische Rentenversicherung, das ist eine große Veränderung nach vorn, nicht zurück. Mit unserem Vorschlag, die Lohnnebenkosten zugunsten einer Wertschöpfungsabgabe abzuschaffen, sind wir für arbeitsplatzintensive Unternehmen interessant. Auch das hat mit früherer Zeit nichts zu tun. Es gab noch nie eine Bürgerinnen- und Bürgerversicherung im Gesundheitswesen. Uns vorzuhalten, wir wollten die Zukunft nicht gestalten, ist absurd. Wir glauben nur nicht, wie andere, dass das Ende des Staatssozialismus dazu berechtigt, den Kapitalismus auf sein Manchester-Niveau zurückzuführen.

ND: Die Linkspartei wird nach der Wahl nicht die Regierung stellen, um all dies zu bewerkstelligen. Welchen Einfluss glauben Sie als Opposition gegen die neoliberalen Konzepte ausüben zu können?

Gysi: Seitdem klar ist, dass wir in dieser Form antreten, geben sich die anderen Parteien plötzlich Mühe, sozial in Erscheinung zu treten. Sie kleben ein Plakat nach dem anderen, auf dem etwas von sozial gerechter Politik steht. Auch wenn das bislang keine realen Folgen hat: Es ist verkürzt zu glauben, dass man über Opposition nichts verändert. Wenn die Linkspartei stärker wird, dann erhöht sich der Druck auf andere, es werden Gedanken von ihr übernommen, zumindest wieder diskutiert. Natürlich: Zur Zeit gibt es keine Voraussetzung für eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei. Es gibt keine Partnerin, mit der zusammen wir die Mehrheit für eine Politik hätten, die wenigstens ein ähnliches Ziel verfolgte. Es gibt keine Kompromisse für uns bei Hartz IV, der Agenda 2010 oder bei Kriegen – da gibt es nur unsere Opposition. 2009 kann das anders aussehen.

ND: Beim Spitzensteuersatz zeigt die Linkspartei sich recht kompromissbereit. Rot-Grün hat ihn auf 42 Prozent gesenkt, unter der Kohl-Regierung betrug er 53 Prozent. Die Linkspartei fordert 50 Prozent. Warum so bescheiden?

Gysi: Wir beachten ein Bundesverfassungsgerichtsurteil. Wir wollen die Abschreibungs- und Absetzungsmöglichkeiten reduzieren, um die wirklich Mehr-, Besser- und Bestverdienenden stärker zur Finanzierung der sozialen Aufgaben des Staates heranzuziehen. Gering- und Normalverdienende zahlten bei uns weniger.

ND: Sind Ihre sozialen Vorstellungen – wie Grundsicherung und Rentengrundbetrag – durch Ihre Steuervorschläge gedeckt? Kommentatoren halten Ihnen eine Finanzierungslücke von 80 bis 100 Milliarden Euro vor.

Lafontaine: Es gibt keine solide Sozialpolitik, ohne dass man die Wohlhabenden und die Besserverdienenden zur Kasse bittet. Das sieht man in anderen Ländern. Da wir das als einzige vorschlagen, ist auch unser Programm das einzige seriöse in unserem reichen Land. Wenn wir die Vermögen so besteuern wie die Vereinigten Staaten, gibt es 50 Milliarden Euro mehr pro Jahr. Wenn wir den Spitzensteuersatz auf 50 Prozent anheben, gibt es rund 10 Milliarden mehr. Wenn wir die Börsenumsatzsteuer einführen, um die täglichen Aktienspekulationen einzudämmen, gibt es zusätzliche Milliarden. Mit diesen Vorschlägen ließen sich unsere Vorhaben im sozialen Bereich finanzieren. Wobei anzumerken ist, dass viele der sozialen Verbesserungen – zum Beispiel eine Umstellung der Grundrente auf das Schweizer System – sich nicht von heute auf morgen realisieren lassen, sondern nur in einem längerfristigen Prozess.

Gysi: Wir werden den Prozesscharakter der notwendigen Veränderungen deutlicher machen. Ein Beispiel: Jemand, der als Freiberufler 30 Jahre seine Altersversorgung selbständig organisiert hat, kann natürlich nicht verpflichtet werden, dies zu lassen und in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen. Wer aber zum 1. Januar 2006 selbständig wird, könnte dazu verpflichtet werden. Es braucht also Übergänge – dann sind die fällig werdenden sozialen Ausgaben weniger hoch als es manche an die Wand malen.

ND: Die SPD wirbt plötzlich mit einigen Ideen, die sie an der Regierung nicht verfolgt hat. Hat die SPD das Personal für eine andere Politik?
Lafontaine: Es ist erkennbar, dass sich eine neue Gruppe nach Schröder und Müntefering formiert. Man muss abwarten, wie die sich entwickelt.

Gysi: Es ist weniger die Frage nach Personen als die nach der Glaubwürdigkeit der Inhalte. Es kommt nicht auf Wahlkampfslogans an, sondern auf die tatsächliche Politik. Will die künftige Führungsgeneration eine sozialdemokratische Partei oder eine zweite CDU?

Lafontaine: Es sind zu viele, die allzu lange die Politik des Sozialabbaus mitgetragen haben. Aus dieser Verantwortung kann man auch niemanden der jüngeren von ihnen entlassen.

ND: Sind Sie froh, dass Linke wie Ottmar Schreiner oder Karl Nolle in der SPD geblieben sind und Sie so Bündnispartner finden könnten?

Lafontaine: Wir würden uns freuen, wenn die SPD wieder zu ihren Grundsätzen zurückkehrt. Denn wir sind nicht um unser selbst willen da, es geht um die Politik, die für die Menschen gemacht wird. Wenn die Politik, die wir für richtig halten, bei Sozialdemokraten Unterstützung erfährt, können wir das nur begrüßen.

ND: Sie möchten nicht, dass sie Ihrem Schritt zur Linkspartei folgen?

Lafontaine: Wir werben um politische Zustimmung, nicht um Parteiübertritte. Es ist für viele doch auch ein Loyalitätskonflikt. Ich habe ihn für mich dadurch aufgelöst, dass ich mir die Frage gestellt habe, wem meine Loyalität gehört. Sie gehört den Menschen, die ich vertreten möchte, also den Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängern, den Kranken, den Rentnern, den Arbeitnehmern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Diese Loyalität ist wichtiger als die zu einer Organisation. Diesem Konflikt muss sich jeder individuell stellen.

Gysi: Wir gehen nicht taktisch an diese Frage heran. Natürlich freuen wir uns über jeden, der zu uns stößt. Aber wir freuen uns auch über jeden, der an einem anderen politischen Platz bereit ist, zusammen mit uns für soziale Gerechtigkeit zu streiten.

ND: In der PDS stritten bereits drei Flügel um den richtigen Kurs, jetzt kommen andere Orientierungen hinzu – wie einig ist man sich in diesem Projekt?

Gysi: Politische Auseinandersetzungen kennt jede Partei und wir sind gegenwärtig eine Partei im Wandel, mitten im Qualitätssprung. Die PDS war irgendwie zuständig für Mecklenburg-Vorpommern bis Thüringen. Dass unsere Vorstellungen auch für Menschen in Bayern überlegenswert sind, hat kaum jemanden interessiert. Damit hat sich die PDS irgendwann abgefunden. Einige in der bisherigen PDS haben verständlicherweise Angst vor den neuen Herausforderungen und anderen Mentalitäten, die auf uns zukommen. Ich stelle solche Ängste aber eher bei einigen Funktionären als bei Mitgliedern an der Basis fest. Früher wollten zumeist die Funktionäre schneller voran als die Basis, nun ist es umgekehrt. Unsere Mitglieder begreifen, welche Chance für die Linke mit dieser Situation verbunden ist, da treten Bedenken zurück. Wo etwas strittig ist, werden wir uns ehrlich und solidarisch auseinandersetzen. Die Linkspartei hat glaubwürdig den Anspruch, im ganzen Land politisch zuständig zu sein. Dies hätte die PDS ohne die WASG und Oskar Lafontaine nicht geschafft, so sehr sie sich weiter darum bemüht hätte.

ND: Gibt es in der neuen Linkspartei auch Platz für Kommunisten?

Gysi: Die sind doch schon dabei, wir haben eine Plattform. Andere haben sich in einer eigenen Partei organisiert, die wollen gar nicht zu uns. Klar ist: Den Antikommunismus, der in der Geschichte der Bundesrepublik vorherrschte, machen wir nicht mit. Aber es ist auch klar, dass wir diktatorische und autoritäre Vorstellungen vom Sozialismus strikt ablehnen.

Lafontaine: Man muss sich darüber unterhalten, was Kommunismus ist. Für Stalinismus wäre kein Platz. Da zitiere ich gerne Albert Camus: Du darfst um einer zukünftigen Gerechtigkeit willen nicht den jetzt Lebenden ins Gesicht schlagen. Das ist die Abgrenzung.

ND: Und wo liegt für Sie die zentrale Abgrenzung zur heutigen SPD?

Lafontaine: Die sozialdemokratischen Parteien – nicht nur in Deutschland – haben die Bewährungsprobe, dem Neoliberalismus zu widersprechen, nicht bestanden. Dass hier eine offene Frage entsteht, nachdem das Gegenmodell der kommunistischen Systeme zusammengebrochen war, darauf hat Willy Brandt mich immer aufmerksam gemacht. Die heutige SPD hat das Nachdenken darüber und die Suche nach neuen Antworten verpasst und sich als Regierungspartei mehr oder weniger dem neoliberalen Modell angeschlossen.

Gysi: Gerhard Schröder hätte Tony Blair darin nicht folgen dürfen.

Lafontaine: Die Neue Linke ist entstanden, um ein Gegenmodell zum neoliberalen Konzept zu entwickeln. Das ist unsere historische Aufgabe. In den aktuellen Debatten wird zumeist behauptet, Verteilungspolitik beginne, wenn der Staat tätig wird. Das ist ein großer Irrtum. Umverteilung beginnt, wenn die Herren Ackermann, Schrempp und die anderen Manager aushandeln, wie viele Millionen sie erhalten, und wenn die Anteilseigner der Firmen darüber entscheiden, wie hoch ihr Gewinn ist. Eine Minderheit der Gesellschaft schneidet sich von dem gemeinsam Erarbeiteten viel zu große Stücke ab. Gerechte Verteilung muss vor dem Staat in der Wirtschaft ansetzen. Für diese Umorientierung steht die Neue Linke.

ND: Die PDS hat bislang ihre Ostkompetenz geltend gemacht. Eine neue Fraktion der Linkspartei wird möglicherweise mehr West- als Ost-Abgeordnete haben. Geht da auch was verloren?

Gysi: Die in den neuen Bundesländern gewählten Abgeordneten werden darauf achten, dass diese Kompetenz nicht aufgegeben wird. Nach meinem Eindruck wird dies auch von denjenigen akzeptiert, die aus den alten Bundesländern kommen.

ND: Sieht das der Westpolitiker Lafontaine auch so?

Lafontaine: Als ich 1990 vor der überhasteten Einführung der DM zu falschen Kursen gewarnt habe, hatte ich den Anstieg der Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Schäden vor Augen. Ich denke, dass ich die besondere Lage im Osten gut verstehe. Aber ich sage auch: Ich kämpfe für die Arbeitslosen und die Hartz IV-Geschädigten in Ost und West. Ich setze mich für junge Mütter ein, die allein erziehend sind, in Ost und West. Mein politisches Credo unterscheidet nicht nach Regionen, mir geht es um gesellschaftliche Schichten, deren Interessen von den anderen Parteien weder im Osten noch im Westen vertreten werden.

ND: Sind Sie wegen dieses Credos 1990 auch dafür eingetreten, dass die SPD sich für reformbereite SED-Mitglieder öffnet?

Lafontaine: Ich hielt es für richtig, Mitgliedern der SED die Mitarbeit anzubieten, zumal CDU und FDP keine Skrupel hatten, Mitglieder der Blockparteien zu integrieren. Aber der damalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel wollte das nicht, auch die Ost-SPD wehrte sich dagegen.

Gysi: Die PDS wäre deutlich geschwächt worden. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden wäre, wenn die SPD diesem Rat damals gefolgt wäre. Verstanden habe ich es nicht. Schließlich war die SPD nach 1945 sehr offen, Menschen zu gewinnen, denen sie sozusagen eine politische Bewährung anbieten wollte. Jedenfalls sind wir auch dank dieser Eintrittssperre der SPD intellektuell die stärkste Partei in den neuen Bundesländern geworden. Die linke Elite, die nach dem Zusammenbruch der DDR nach neuen, ehrlichen Antworten suchte, hatte nur uns als Angebot. Jetzt brauchen und erhalten wir einen neuen intellektuellen Schub aus dem Westen.

ND: Welche Bezeichnung trifft heute auf Oskar Lafontaine zu – Sozialdemokrat, Sozialist?

Lafontaine: Ich bin Sozialdemokrat und demokratischer Sozialist. Nicht ich habe mich von einem sozialdemokratischen Programm verabschiedet, die SPD-Führung ist aus dem Programm ausgetreten.

ND: Vor rund 20 Jahren haben Sie sich in Ihrem Buch »Der andere Fortschritt« als Ökosozialist vorgestellt.

Lafontaine: Die Bezeichnung würde ich auch heute noch akzeptieren. Leider ist die ökologische Frage jetzt durch den massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit und den sich verschärfenden Verteilungskonflikt in den Hintergrund gedrängt worden.

ND: Stört es Sie, Gregor Gysi, wenn jemand Sie Sozialdemokrat nennt?

Gysi: Wenn er dabei an August Bebel denkt, habe ich nichts dagegen. Wenn er dabei an Rudolf Scharping denkt, hätte ich ernsthafte Probleme.

ND: Sie sind beide Solonummern gewöhnt. Ist ausreichend Platz in einer Partei für zwei so ausgeprägte Charaktere?

Lafontaine: Die Neigung von Menschen, sich selbst zu behaupten und auch bei anderen angesehen zu sein, ist doch natürlich. Sie darf nur nicht zum alleinigen Motiv des Handelns werden. Wir sind beide mit genügend Vernunft ausgestattet, uns auch selbst in Frage zu stellen und uns rational zu verhalten.

Gysi: Es ist Platz für uns beide. Wenn wir erst 30 Jahre alt wären, könnte man vielleicht eine Konkurrenz vermuten. Aber ich bin im 58. und Oskar Lafontaine ist im 62. Lebensjahr. Was wir werden, waren wir schon. Um Eitelkeiten muss sich da niemand sorgen.

ND: Und wie viel Platz ist für Frauen in der Linkspartei? Von den Spitzenkandidaten in 16 Bundesländern sind 14 männlich, das Spitzenquartett Lafontaine, Gysi, Bisky und Ernst ist komplett männlich.

Lafontaine: Das ist vor allem ein Problem der WASG. In ihrem Entstehungsprozess sind zu wenige Frauen nach vorn gekommen. Das muss sich ändern.

Gysi: Wir haben nur in Sachsen und Sachsen-Anhalt Frauen auf Platz 1 der Landeslisten. Wir werden – da bin ich sicher – in der Fraktion eine Geschäftsordnung verabschieden, wonach unser Vorstand paritätisch besetzt sein muss. Die gegenwärtige Dominanz durch zwei Spitzenkandidaten ist der Situation und unserer Entwicklung geschuldet. Wir werden dies schrittweise überwinden. Es gibt in der Linkspartei junge Frauen, die begonnen haben, Spitzenfunktionen einzunehmen.

ND: Wäre es für Sie die angenehmste Konstellation, wenn es nach der Wahl eine Koaltion von Union und SPD gibt und die Linkspartei dann die Oppositionsführung übernehmen könnte?

Gysi: Natürlich ist es reizvoll, drittstärkste Kraft im Parlament und stärkste in der Opposition zu werden – wir müssten dann z.B. den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses stellen. Aber eine Regierung aus CDU/CSU und SPD ist nicht meine Lieblingskonstellation. Ich kann mir doch vorstellen, wie es mit der SPD weiter bergab ginge. Andererseits verstehe ich auch nicht, wieso eine solche Koalition eine größere Katastrophe sein soll als eine aus Union und FDP.

Lafontaine: Wir wollen regieren; da wir aber für unsere Politik derzeit keinen Partner haben, wäre die große Koalition ein geringeres Übel als eine schwarz-gelbe.

Gysi: Die Linkspartei als führende Oppositionskraft, das wäre eine spannende Herausforderung. Ich habe jedoch etwas gegen Aufforderungen, taktisch zu wählen. Es ist traurig, wenn Parteien für sich mit dem Argument werben, dass sonst eine bestimmte Konstellation drohe. Da geht es nicht mehr um die eigene Politik, sondern nur um Taktik. Die Wählerinnen und Wähler in Deutschland sind verantwortlich für die Zusammensetzung des Bundestages. Und dann ist es Sache des Bundestages, auf der Basis dieses Votums eine Regierung zu finden. Wir werden mit jeder Konstellation politisch umzugehen wissen.

ND: Bei den letzten Wahlen in Sachsen und Brandenburg stimmten viele für rechtsextremistische Parteien. Die anderen Parteien waren sich danach einig, den Rechtsextremen das Potenzial streitig zu machen. Sieht die Linkspartei hier eine besondere Aufgabe für sich?

Lafontaine: Keine besondere, aber eine selbstverständliche Aufgabe. Wir wollen Menschen davon abhalten, rechtsextrem zu wählen. Man muss zwischen den fanatischen Rechtsextremisten und denen unterscheiden, die in etablierten Parteien keine Alternative mehr sehen. Letztere wollen wir gewinnen.

ND: Sie haben keine Angst vor der Grafik, die Linkspartei habe so und so viel Prozent vormaliger NPD- oder DVU-Wähler gewonnen?

Lafontaine: Es ist besser, wenn Protestwähler Linke wählen statt rechtsextreme Parteien. Wieso soll es Angst erzeugen, sie für demokratische Alternativen zurückzugewinnen?

Gysi: Ich möchte an etwas erinnern: 1998 errang die DVU bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 12,9 Prozent und sie hatte keinen einzigen Direktkandidaten. Die Erststimmen dieser Wähler – soweit sie nicht darauf verzichteten – gingen an andere Parteien. Und zum Entsetzen von CDU, SPD und PDS kam heraus, dass ungefähr je ein Drittel ihre Direktkandidaten gewählt hatte. Es ist eine Verantwortung aller demokratischen Parteien, eine Politik zu machen, die verhindert, dass Unzufriedenheit sich eine Adresse rechtsaußen sucht. Wir müssen uns darum bemühen, dass diese Wähler zur Stimmabgabe für demokratische Parteien zurückkehren, statt noch stärker in den Sog rassistischer und ausländerfeindlicher Propaganda zu geraten, so dass sich ein gefestigtes rechtsextremistisches Spektrum bei zehn Prozent etabliert. Zu sagen, man würde damit in eine rechte Richtung gehen, ist verantwortungslos – bei uns beiden und der Linkspartei ist es eine geradezu schwachsinnige Unterstellung.

Karl Nolle im Webseitentest
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