spiegel-online, 19.08.2005
Sein Blick, so müd ...
Schröder im ZDF
Im Zweiten Deutschen Fernsehen durfte Gerhard Schröder gestern so etwas wie eine Abschiedsvorstellung geben. Anschließend zog der Sender eine vorläufige historische Bilanz von sieben verflixten Jahren Rot-Grün. Kanzler, Kanzler - ist wirklich alles schon vorbei?
Berlin - Die reine Wahrheit kommt ganz zum Schluss. Was er am 19. September denn machen würde, fragt Maybrit Illner den Bundeskanzler am Ende der Sendung. "Mich freuen", sagt Gerhard Schröder spontan, dann lacht er befreit auf und man weiß: Diese Antwort war nicht geplant, sie war echt. Am 19. September ist er den Schlamassel los, so oder so, wahrscheinlich so: Tschüss Deutschland, dann eben nicht.
45 Minuten lang hat die ZDF-Journalistin den Kanzler befragt, nach Parteifreunden und anderen gefährlichen Zeitgenossen, nach Reformen und Bilanzen. Die vom Kanzler wesentlich bestimmte Außenpolitik der vergangenen Jahre fand in dieser Sendung nicht statt, in Berlin Mitte ging es um Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei. Nun kann man an diesem Kanzler viel kritisieren, auch ohne ihm seine Slalomfahrten in der Außenpolitik vorzuhalten. Aber wenn man ihn schon nach Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Reichensteuer und den geknechteten Seelenzustand der SPD befragt, dann wäre auch ein Standpunkt des Fragestellers hilfreich.
Warum kann man nicht anerkennen, dass dieser Kanzler immerhin etwas begonnen hat, was sein Vorgänger 16 Jahre lang nicht einmal mit spitzen Fingern angefasst hatte? Einfach nur abfragen, was schief gegangen ist, ist eine allzu leichte journalistische Übung. Haltungen sind ja auch Glückssache, zumal im Wahlkampf. Also wurde in Berlin Mitte mal von links gefragt, mal von rechts, und schließlich hat man im Fernsehen ja diese famosen Filmchen: Wie nervende Wespen schickte Illner ihre 20-Sekunden-Trailer in den virtuellen Raum. Mal durften fünf Ossis sagen, dass sie den Kanzler früher lieb hatten und heute ganz doof finden, mal erklärte Ulrich Maurer, der Führer der schwäbischen Arbeiterbewegung, dass Schröder die SPD ruiniert habe, mal ließ die Moderatorin im weißen Anzug den Finanzsenator Thilo Sarazzin zitieren, der die Reichensteuer für populistischen Blödsinn hält. Der Kanzler wedelt in höflicher Anstrengung die Wespen weg, und dabei wirkte er manchmal für die Ewigkeit einer Sekunde unendlich müde, als wolle er sagen: Kapiert es doch endlich, ohne mich würde dieses Land vollends in die Grütze fahren.
In diesem Wahlkampf gibt es nur noch Duelle, jeder, der in der Politik unterwegs ist, darf losballern. Ein paar billige Sendeplätze weiter duellieren sich gerade Cornelia Pieper und Bärbel Höhn, irgendwo wird vermutlich gerade das Duell Beckstein gegen Schily wiederholt und die taz meldet, dass Joschka Fischer gerade Wolfgang Schäuble seinen ostdeutschen Sekundanten geschickt hätte. Im ZDF aber läuft das Duell Schröder gegen den Rest der Welt. Illner hört den sachlichen, manchmal gar wehmütigen Erklärungen des Kanzlers meist mit geschürzten Lippen zu. Ihn schmerze nicht der Verlust von Funktionären, sondern der kleinen Sozialdemokraten, denen er seine Politik nicht habe erklären können. Den Satz hat er sich vorher überlegt, aber er wirkt nicht aufgesetzt. Für Illner ist das die Gelegenheit zum nächsten schwarz-gelben Wespeneinsatz, es gibt heute keine Statistik, die nicht gegen Schröder verwendet werden kann.
Ich will da rein: Ins Geschichtsbuch
Manchmal ist der Kanzler schneller. Wirtschaft kaputt? Falsch. Dann greift er in die Innentasche seines Anzugs und faltet grinsend einen Artikel-Ausdruck auseinander: Der Economist bejubelt die deutsche Wirtschaft. Vermutlich wird ihn der Beifall des liberalen britischen Blattes nicht retten. Aber da sind wieder ein paar mehr, die sagen, dass er nicht nur Fehler gemacht sondern vor allem etwas Richtiges auf den Weg gebracht hat.
Schröder kämpft im ZDF auch um den künftigen Eintrag ins Geschichtsbuch: Da will er jetzt rein. Nicht alleine übrigens, auch wenn es im Wahlkampf keine Koalitionen gibt: Einen Wahlkampfauftritt mit Joschka Fischer kann sich der Kanzler plötzlich wieder vorstellen. Warum auch nicht. Wenn man auf Abschiedstournee geht, sollte man auch die größten Erfolge zum Besten geben. Fischer und Schröder müssen gemeinsam über "troubled water"; Simon und Garfunkel gaben ihr bestes Open-Air-Konzert übrigens auch erst nach langjähriger Trennung. Haben Fischer und Schröder eigentlich im Sommer 2009 schon was vor?
Im Anschluss an das ZDF-Verhör zeigt der Sender einen kurzen Film von Wolfgang Herles zum langen Abschied des "rot-grünen Projekts". Gar nicht schlecht, sich heute noch einmal daran zu erinnern, wie das war, als Fischer und Schröder 1998 in den Zentren der Macht angekommen waren. Weiß noch einer, wie mit Helmut Kohl gar nichts mehr ging? Wie der Pfälzer Mitte der Neunziger Jahre live im Fernsehen auftrat - damals war das noch etwas Besonderes - und den Unterschied zwischen der Datenautobahn und der A1 nicht kannte? Sein SPD-Nachfolger jedenfalls wird nicht daran scheitern, dass er seine Zeit nicht mehr kannte.
Schröder, der müde Panther? Vor etwa einem Vierteljahrhundert wollte ein Jurist aus Niedersachsen mit einem ehemaligen Taxifahrer aus Frankfurt die Republik verändern. Das haben sie geschafft. Dany Cohn-Bendit bringt es als grüner Kronzeuge in Herles Film auf den Punkt: Eine geschiedene, kinderlose Ostdeutsche und ein schwuler Liberaler an der Spitze von Union und FDP - das wäre ohne Rot-Grün nicht möglich gewesen. Es ist vollbracht. So liberal war Deutschland noch nie. Nun reicht es aber auch.
Wolfgang Herles beschließt im ZDF seinen filmischen Essay über die 68er an der Macht mit einem Gedicht von Rainer Maria Rilke - und zeigt dazu die Gitter vom Bonner Kanzleramt, an denen der junge Schröder im letzten Jahrhundert einmal nach durchzechter Nacht gerüttelt hatte. Und weil in Rilkes Zeilen mehr Erklärung steckt als in 45 Minuten Mitte, soll die erste Strophe hier nicht fehlen: "Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt."
Machs gut, Kanzler.
(Von Claus Christian Malzahn)