Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 16.09.2006

Fall Stephanie

Polizei rief Schlüsseldienst statt SEK
 
Noch eine Polizeipanne im Entführungsfall Stephanie: Als die Dresdner Beamten endlich die Wohnung des Kinderschänders gefunden hatten, alarmierten sie nicht etwa ein Einsatzkommando für die Geiselbefreiung - sondern den Schlüsseldienst.

Hamburg - Der vergangene Montag war hart für Joachim Rudolph: Gerade hatte er öffentlich grobe Ermittlungsfehler bei der Suche nach seiner Tochter Stephanie angeprangert, die Anfang des Jahres fünf Wochen in der Gewalt eines Dresdner Sextäters ausharren musste. Da griff die Dresdner Staatsanwaltschaft die Familie des Opfers frontal an.

Ohne sich zu entschuldigen, dass die Polizei zu spät und dann auch noch mit dem falschen Suchbegriff im Computer nach dem Täter gefahndet hatte, warf der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Christian Avenarius, der Familie vor, sie lasse es zu, dass sich die 14-jährige Stephanie mit der öffentlichen Schilderung ihres Schicksals bloßstelle. Die Familie wisse ja gar nicht, was sie Stephanie antue. Insbesondere sei eine zweite Vernehmung durch seine Behörde für das gequälte Kind äußerst schädlich. Er verstehe deshalb nicht, dass die Eltern dies von der Staatsanwaltschaft auch noch forderten.

Panne hätte zum Tod des Mädchens führen können

Was wie ein fürsorglicher Appell der Fahnder zum Schutz von Stephanie wirkt, bekommt nun allerdings einen faden Beigeschmack. Nicht nur, dass weder Avenarius noch die ermittelnde Staatsanwältin sich bisher die Mühe gemacht hätten, auch nur ein Wort mit dem Opfer zu sprechen - die einzige Vernehmung erledigte für sie die Kripo. Die Staatsanwaltschaft hat offenbar aber auch noch eine Panne bei Stephanies Befreiung am 15. Februar mitzuverantworten - eine Panne, so gravierend, dass sie sogar zum Tod der Geisel hätte führen können.

Wie der Mitarbeiter eines Dresdner Schlüsseldienstes nun dem SPIEGEL bestätigte, dauerte es mehrere Minuten, bis er mit der Polizei in die Wohnung des Täters gelangte, während dieser drinnen allein mit Stephanie war. Er stützte damit Aussagen von Stephanie, sie habe minutenlang Angst gehabt, der unter Druck gesetzte Mario M. könnte sie am Ende doch noch töten.

Zuvor hatte am frühen Morgen des 15. Februar ein Mann beim Gassigehen mit seinen Hunden einen Zettel gefunden, den Stephanie nachts heimlich bei einem Spaziergang mit ihrem Entführer Mario M. an einem Altpapier-Container fallen gelassen hatte. Darauf ein Hilferuf: "Rufe bitte sofort die Polizei an. Sie soll zur Laubestraße 2 gehen. In der Wohnung von Mario M. wird die seit Mittwoch, den 11.01.06 vermisste 13-Jährige festgehalten." Die Schilderung des herbeigerufenen Schlüsseldienstmitarbeiters, angestellt beim Schlossnotdienst Quick in Dresden, die Darstellung von Stephanie und Hinweise aus Polizeikreisen ergeben nun folgendes Mosaik der weiteren Ereignisse: Morgens gegen zehn Uhr geht der Hinweis bei der "Sonderkommission Stephanie" der Dresdner Polizei ein. Die Soko-Beamten überprüfen den Namen Mario M. und stellen umgehend fest, dass M. ein vorbestrafter Sexualstraftäter ist. Damit ist allen klar: Es spricht viel dafür, dass der Hinweis auf dem Zettel echt ist.

Es heißt nun, schon in der nächsten halben Stunde seien zwei Polizisten an der Wohnung von M. gewesen, hätten festgestellt, dass am helllichten Tag alle Jalousien heruntergezogen gewesen seien, aber in der Wohnung Licht gebrannt habe. Das habe den Verdacht noch verstärkt. Dann habe die Polizei zum ersten Mal geklingelt - schon das ein äußerst riskantes Vorgehen. M. aber habe die Tür nicht geöffnet.

"Zuerst noch geklopft und geklingelt"

Statt jetzt allerdings ein Spezialeinsatzkommando (SEK) oder Mobiles Einsatzkommando (MEK) anzufordern, die auf die blitzschnelle Erstürmung von Wohnungen spezialisiert sind, vergehen rund zwei Stunden, in denen die Wohnung weiter beobachtet wird. Angeblich, so heißt es, soll das ausdrücklich in Absprache mit Oberstaatsanwalt Avenarius geschehen sein, obwohl der für eine solche Entscheidung nicht zuständig ist.

Sicher ist, dass die Polizei dann statt der Spezialkräfte nur Beamte der Soko zum Tatort schickt - und einen Schlüsseldienst herbeibeordert. Der trifft erst um etwa 12.30 Uhr ein - so erinnert sich der Mitarbeiter von "Schlossnotdienst Quick" im Gespräch mit dem SPIEGEL. Allerdings macht er sich nicht gleich an der Tür zu schaffen. "Es wurde zuerst noch geklopft und geklingelt", erinnert sich der Mann. Außerdem habe die Polizei noch laut durch die geschlossene Tür gerufen, M. solle die Tür öffnen oder man werde sie aufmachen lassen. Die Tür bleibt trotzdem zu.

In der Wohnung hat der alarmierte M. daher minutenlang Zeit, sich auf die Lage einzustellen. So viel Zeit, dass er nach Angaben von Stephanie Rudolph zunächst in hektischen Telefonaten bei seiner Tochter und früheren Bekannten festzustellen versucht, ob vielleicht einer von ihnen vor der Tür stehe. Doch von denen ist es keiner. M. habe sie dann mit einem "schrecklichen Blick" angeschaut, sagte Stephanie am Donnerstag in der ZDF-Sendung "Kerner".

"Stephanie in höchste Gefahr gebracht"

Dann erst beginnt der Schlüsseldienst mit der Arbeit. Er habe die Tür ohne Beschädigung öffnen können, sagt der Schloss-Experte; aus Polizeikreisen heißt es, Mario M. habe hinter der Tür gestanden, sie möglicherweise selbst geöffnet. Unmittelbar danach wurde er festgenommen, Stephanie Rudolph befreit.

"Die Ermittler können von Glück reden, dass Stephanie noch lebt; mit ihrem Vorgehen haben sie Stephanie in höchste Gefahr gebracht", urteilt Opferjurist Thomas Kämmer aus der Hannoveraner Kanzlei von Ulrich von Jeinsen, der die Familie Rudolph betreut.

Oberstaatsanwalt Avenarius, der Stephanies juristischen Beratern seinerseits "unprofessionelles und dilettantisches Vorgehen" vorhält, wollte sich zum gesamten Vorgang auf Anfrage nicht äußern. Nach Angaben sächsischer Polizeiführer hätte allerdings das SEK, bei Leipzig stationiert, notfalls mit dem Hubschrauber in einer Viertelstunde in Dresden sein können; auch ein MEK in Dresden habe bereit gestanden. Beide Spezialeinheiten hätten am 15. Februar auch keine anderen Einsätze gehabt und den Auftrag deshalb problemlos übernehmen können. Sie seien nur nicht angefordert worden. Der langjährige Leiter eines westdeutschen Großstadt-SEK spricht von einem "unglaublichen Zögern und Zaudern". Normale Kripo-Leute seien eben keine Festnahme-Spezialisten. "Dafür braucht man ein SEK oder MEK mit Arsch in der Hose."

Korrektur: Herr Thomas Kämmer aus der Kanzlei von Ulrich von Jeinsen in Hannover ist nicht Anwalt, wie wir fälschlicherweise geschrieben haben, sondern Opferjurist. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
Von Jürgen Dahlkamp und Andreas Wassermann

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: