Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 16.09.2006

Sozialer Verfall: Die neuen Proleten

 
Die fortschreitende Deindustrialisierung hat im Westen eine neue Unterschicht der Unproduktiven und geistig Verwahrlosten geschaffen. Diese Fremdlinge im eigenen Land werden zur ernsten Gefahr für die Demokratie.

Der heutige Prolet ist ärmer dran als sein Vorgänger zu Beginn des Industriezeitalters, obwohl es ihm besser geht. Er hungert nicht, er haust im Trockenen, er wird von keiner Seuche dahingerafft, er besitzt sogar deutlich mehr Geld. Er ist in jedem Staat Westeuropas nicht nur Bürger, sondern zugleich Kunde des Wohlfahrtsstaats, auch wenn dessen Leistungen nirgendwo mehr üppig ausfallen.

Die Schlafstätte früherer Jahre war oft nur ein Obdachlosenasyl oder ein Männerwohnheim. Die Armenspeisung war kärglich und fand im Freien statt. Kranke waren weder versichert noch konnten sie sich Arzneimittel oder gar ärztliche Honorare leisten. Greise waren auf Gedeih und Verderb der Gnade der Jüngeren oder der kirchlichen Fürsorge ausgeliefert.

Raucher mit Bierdosen: Rund acht Prozent der Deutschen konsumieren 40 Prozent allen im Land verkauften Alkohols
Und dennoch: Der Prolet von einst besaß vieles, was die Armen von heute nicht mehr haben: ein einheitliches und für alle gültiges Feindbild, ein Klassenbewusstsein, veritable Gegner und oft sogar eine ausgeprägte Kultur. Er sang Lieder, rief seine Parolen, er gründete Vereine, betete seine Theoretiker an, auch wenn er sie nie ganz verstand.

Er konnte noch zu Zeiten des Kaiserreichs zwischen politischen Gruppierungen wählen, die sich aus der Illegalität heraus um seine Zustimmung bemühten. Der Arme von gestern war das Subjekt der Geschichte, wie man im Rückblick ohne Übertreibung feststellen darf. Der moderne Arme im vereinten Europa ist bisher nicht viel mehr als das Opfer der Verhältnisse. Sein Vorgänger stand am Rand der Gesellschaft, er steht außerhalb.

Ihre Gewohnheiten wurden erforscht wie die von Feldhasen

Wir wissen mittlerweile eine ganze Menge über die Unterschichtler von heute, obwohl sie sich kaum zu Wort melden. Sie machen kein großes Aufhebens von sich, kriechen immer tiefer in ihre Wohnsilos hinein, wohin ihnen Dutzende von Soziologen gefolgt sind. Ihre Lebensgewohnheiten wurden erforscht wie die von Feldhasen. Wir verfügen über eine ziemlich scharf gerasterte Typologie, die uns die Fremdlinge im eigenen Land besser erkennen lassen.

Daher wissen wir: der Prolet von heute besitzt mehr Geld als die Arbeiter vergangener Generationen und wenn er im Anzapfen des Sozialstaats eine gewisse Fertigkeit entwickelt hat, verfügt er über ein Haushaltseinkommen, das mit dem von Streifenpolizisten, Lagerarbeitern und Taxifahrern allemal mithalten kann. Es ist nicht die materielle Armut, die ihn von anderen unterscheidet.

Auffällig hingegen sind die Symptome der geistigen Verwahrlosung. Der neue Prolet schaut den halben Tag fern, weshalb die TV-Macher bereits von "Unterschichtenfernsehen" sprechen. Er isst viel und fettig, er raucht und trinkt gern. Rund acht Prozent der Deutschen konsumieren 40 Prozent allen im Land verkauften Alkohols. Er ist kinderreich und in seinen familiären Bindungen eher instabil. Er wählt am Wahltag aus Protest die Linken oder die Rechten, zuweilen wechselt er schnell hintereinander.

Er besitzt keine Bildung, und er strebt auch nicht danach

Der neue Arme ist kein Wiedergänger des alten. Vor allem an seinem mangelnden Bildungsinteresse erkennen wir den Unterschied. Er besitzt keine Bildung, aber er strebt ihr auch nicht entgegen. Anders als der Prolet des beginnenden Industriezeitalters, der sich in Arbeitervereinen organisierte, die zugleich oft Arbeiterbildungsvereine waren, scheint es, als habe das neuzeitliche Mitglied der Unterschicht sich selbst abgeschrieben.

Selbst für seine Kinder unternimmt er keine allzu großen Anstrengungen, die Tür in Richtung Zukunft aufzustoßen. Ihre Spracherziehung ist so schlecht wie ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Der Analphabetismus wächst im gleichen Maß, wie die Chancen auf Integration der Deklassierten schrumpfen. Die Amerikaner sprechen in der ihnen eigenen Direktheit von "white trash", weißem Müll.

Das neue Proletariat als homogene Klasse ist erst in den vergangenen zehn Jahren entstanden. Überall in jenen Industrienationen, die sich die führenden nennen, bildet es sich heraus. Die moderne Volkswirtschaft hat offenbar nichts zu bieten für Leute, die wenig wissen und dann auch noch das Falsche.

Das Auftauchen der neuen Unterschicht fällt nicht zufällig zusammen mit dem Abschied der Industriearbeitsplätze. Der Prozess der Deindustrialisierung ist für Europa womöglich bedeutender als die einheitliche Währung und die gemeinsame Verfassung. Die Zerfallsprozesse im Innern der Gesellschaft bedrohen den Westen heute stärker als der internationale Terrorismus, auch wenn die Politiker sich auf die Bekämpfung von Letzterem konzentrieren.

Demokratie und Marktwirtschaft können durch Bomben erschüttert, aber nicht beseitigt werden. Der ökonomische Erosionsprozess aber, entzieht dem Westen erst die Jobs, dann das Geld und am Ende auch die demokratische Legitimation. Was ist die Staatsbürgerschaft eines Landes wert, wenn den Menschen dort die Teilnahme am Arbeitsprozess verwehrt bleibt? Was nützen bürgerliche Freiheiten aller Art, wenn das Recht auf eine eigenständige Lebensführung nicht mehr dazugehört? Ist es zulässig, dass die in der Verfassung verbrieften Rechte auf Teilhabe nur für den Gebildeten weiter ihre Gültigkeit besitzen?

Fragen von sehr grundsätzlicher Bedeutung drängen sich in den Vordergrund: Kann eine Demokratie es tatsächlich hinnehmen, dass ein Teil des Souveräns dauerhaft von der Wohlstandsmehrung ausgeschlossen bleibt? Und wenn sie es hinnimmt: Wird sich diese Entscheidung nicht noch zu unser aller Lebzeiten rächen? Ob dann wieder Nationen gegeneinander antreten, weil die aufgestaute Wut sich ein Ventil sucht, oder die Unterschichten in ihren jeweiligen Ländern die Verhältnisse zum Tanzen bringen?

Beides ist denkbar. Schwer vorstellbar ist lediglich, dass nichts geschieht.

Von Gabor Steingart
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Gabor Steingart, 44, leitet das Hauptstadtbüro des SPIEGEL. Sein vorheriges Buch hieß "Deutschland. Der Abstieg eines Superstars".


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