Sächsische Zeitung, 25.04.2007
Der gerettete Konsum
In Bad Schlema machte die Handelskette Penny den Laden dicht. Keine andere wollte ihn übernehmen. Nun hilft sich der Ort selbst.
Eigentlich dürfte in der Marktpassage von Bad Schlema im schönen Erzgebirge keine Kaufhalle mehr existieren. Zu wenig Kunden, zu wenig Umsatz, zu wenig Profit, sagte Penny und schloss am 15.Dezember 2005 seine Filiale. Rewe, Edeka, Tengelmann, Lidl, Aldi dachten nicht anders. Sie alle sagten Bürgermeister Jens Müller ab, als der ihnen vorschlug, die nun leer stehende Halle zu übernehmen. Lohnt sich für uns nicht, sagten die Handelsketten. Bis zum großen Kaufland im benachbarten Aue sind es nur anderthalb Kilometer. In Niederschlema lockt der Nettomarkt. Und bis zu Aldi im ebenfalls benachbarten Schneeberg ist es auch nicht weit. Da half kein Diskutieren seitens der Gemeindeverwaltung. Und trotzdem geht seit einem halben Jahr in der Halle auf der Marktpassage von Schlema alles richtig gut seinen Gang. Denn Bürgermeister Müller und seine Mitstreiter verwirklichten eine Idee, die zumindest in Sachsen noch keiner hatte.
Für die Älteren war es schlimm
„Heute nehm ich mal Prasselkuchen, sechs Stück bitte, der hält sich“, sagt Inge Winkler am Backstand und wechselt ein paar Worte mit Verkäuferin Kathrin Klinghammer. Dann schiebt die 75-Jährige ihren Einkaufswagen langsam weiter zum Obst. Frau Winkler ist schlecht zu Fuß, benötigt eine Gehhilfe. An den harten Winter 2005/2006 erinnert sie sich nur ungern. „Nee, das war schlimm, da war doch hier nichts. Ich hab kein Auto. Da sah es trüb aus mit dem Einkaufen.“ Entweder Frau Winkler ließ sich was mitbringen oder sie musste sich ein Taxi nehmen. „Das ist nun vorbei. Hier kauft’s sich wirklich gut ein.“ Der 79-jährigen Elise Bönitz ging es nicht anders: „Wir Älteren sind bald verrückt geworden in der Zeit ohne Laden. Na, ist ja zum Glück vorbei.“ Den Kunden liegen nur Lobesworte auf den Lippen. Ruth Sachs, 75: „Bloß gut, dass wir den Laden wieder haben. Ich kann nicht meckern, die geben sich hier viel Mühe.“ Sieglinde Müller, 65: „Ich bin sehr zufrieden mit dem Angebot. Ins Kaufland von Aue komme ich außerdem nur mit dem Bus, der kostet mich hin und zurück rund drei Euro.“
Familiäre Freundlichkeit
Verkäuferin Kathrin Klinghammer ist inzwischen vom Backstand zur zweiten Kasse geeilt, weil sich vor der ersten sechs Kunden stauen. Als es keine Schlange mehr gibt, läuft sie schnell ins Lager und kommt mit neuer Ware zurück. Nur fünf Beschäftigte bewältigen den Betrieb auf den 800Quadratmetern Verkaufsfläche mit Öffnungszeiten von 7 bis 19Uhr. „Hier muss man sich echt drehen, aber ich mach das sehr gerne“, sagt Kathrin Klinghammer, während sie Birnen, Tomaten, Radieschen und anderes im Obst- und Gemüseregal einstapelt. Vor fast dreißig Jahren hat sie im Handel gelernt, zuletzt war die 45-Jährige ein Jahr ohne Job.
Ingrid Schreyer und Renate Niegisch stehen schon einige Minuten vor dem Regal mit den Teigwaren. Genommen haben sie noch nichts. Sie schwatzen und lachen und finden immer noch ein neues Thema. „Ist doch schön, wenn man sich hier trifft“, sagt Frau Schreyer über die Kaufhalle als Begegnungsstätte. Am Eingang erregt eine ältere Dame Aufsehen. Es ist Ingrid Schneider, die den Laden mit einem Kinderwagen betritt. Sofort kommen andere hinzu: „Ist er das?“ „Ach, ist der süß.“ Uroma Schneider, die erst 67 ist, strahlt und gibt Bescheid: „Tim ist heute 17Tage alt.“
Da Kathrin Klinghammer noch mit dem Obst zu tun hat, vorm Backstand aber wieder ein Kunde steht, übernimmt den Kuchenverkauf vorerst ein junger Mann: Das ist Nico Gehlert, der Chef. Der Marktleiter sieht direkt elegant aus: kurzärmliges weißes Hemd mit grüner Fliege, dazu Weste, vorn weiß mit feinen grünen Streifen, hinten durchgehend grün. „Die Farbe steht für unser Anliegen als Frischemarkt“, sagt Gehlert. Die Verkäuferinnen tragen lange grüne Schürzen zur weißen Bluse. Das Grün findet sich in sparsamen Quadraten auch an der weißen Decke, ergänzt durch Orange. Auf den Namensschildern des Personals steht der Zusatz: „Ich bediene Sie gern.“ Das ist hier keine Werbefloskel. Zwischen Personal und Kunden herrscht so etwas wie familiäre Freundlichkeit. Fast jeder kennt jeden. Der Kunde ist keine Größe, die nur an der Kasse zählt.
Mitglied für 150 Euro
Vorm Backstand stehen drei kleine Cafétische. Wer will, kann sich aus der Thermoskanne bedienen und dafür ein paar Cent ins gelbe Sparschwein stecken. Ein Verlustgeschäft ist das noch nie gewesen. „Ist doch schön und geht schnell“, sagt Theodor Nawrocki, der sich zum Kaffee ein Stück Mohnkuchen gekauft hat.
„Einfach eine prima Atmosphäre hier“, findet Heidi Fritsche. Sie bedauert, dass sie hier nicht immer einkaufen kann: „Können wir uns nicht leisten, mein Mann ist Alleinverdiener. Da muss ich einfach zu Aldi gehen.“ Klar, die Supermärkte sind manchmal billiger, obwohl Nico Gehlert mit einer Großhandelsfirma günstige Konditionen ausgehandelt hat. Dass der Laden statt 30000 wie die großen Märkte nur 5000 Artikel bietet, rügt keiner der Kunden.
All das würde es wahrscheinlich nicht geben, hätte Bürgermeister Müller nicht kurz nach der Penny-Schließung eine Fernsehreportage über einen sogenannten Bürgerladen im bayerischen Paunzhausen gesehen. Das war die rettende Idee: ein eigener Laden betrieben durch eine eigene Genossenschaft! Mitstreiter fand Müller schnell, besonders Selbstständige wie beispielsweise Bärbel Gehlert, die im Ort einen Kunstgewerbeladen betreibt und Mitglied im Gemeinderat ist. Aber hätte die Neugründung auch genügend Kunden? Und woher sollte das nötige Startkapital von etwa 30000 Euro für die Einrichtung der Halle kommen? Penibel wurde Frage für Frage gelöst (siehe Kasten). 77Frauen und Männer gründeten schließlich im Mai vorigen Jahres die eingetragene Genossenschaft „Frischemarkt Bad Schlema e.G.“ und wählten Bärbel Gehlert zur Vorsitzenden. Dass ihr Sohn Marktleiter wurde, ist keine Familienkungelei. Außer dem gelernten Handelsfachwirt bewarb sich niemand sonst um den Posten.
Fünf Monate später – am 19. Oktober – konnten die ersten Kunden einkaufen. Heute weist das Genossenschaftsregister 186 Mitglieder aus, die alle mindestens einen Anteilschein von 150Euro erwarben. „Wir sind schon jetzt so etwas wie ein Bürgerkonsum“, sagt Bärbel Gehlert. Offiziell wird aber der Begriff Konsum eher gemieden, denn der ist gesetzlich geschützt.
„Wegen der möglichen Gewinnbeteiligung sind wir nicht Mitglied geworden“, sagt Siegfried Colditz. Seine Frau Selma bestätigt: „Um den Laden ging es uns, der musste wieder her.“ Deshalb kauften die beiden 65-Jährigen je einen Anteilsschein, obwohl sie per Auto auch problemlos woanders einkaufen könnten. Und wenn die Sache schiefgeht? „Glaub ich nicht“, antwortet Siegfried Colditz, „das ist ein tolles Team hier.“
Es riecht nach Erfolg
Vor der Halle verkauft Dieter Friedrich Produkte seines Naturhofes, den er im 30Kilometer entfernten Rodewisch betreibt. Auch er gehört zu den 186 Genossenschaftseignern. „Ich denke, solche lokalen Lösungen haben Zukunft“, begründet Friedrich sein Engagement.
Ein halbes Jahr nach der Eröffnung sieht alles nach einem Erfolg aus. Täglich zählt der Markt zwischen 350 und 400Kunden, mehr als zur Penny-Zeit. „Wir haben realistisch kalkuliert und stehen auf gesunden Füßen, arbeiten kostendeckend“, sagt Marktleiter Nico Gehlert. Mit dem Vorstand und dem Aufsichtsrat weiß er sich in den Zielen einig: Mit der Qualität des Marktes zunehmend auch jüngere Kunden gewinnen, mehr heimische Produkte ins Sortiment nehmen, später vielleicht auch mal eine Bedienungstheke für Salate und Käse eröffnen und Ausbildungsbetrieb werden. „Aber alles nur Schritt für Schritt, ja nicht übernehmen“, sagt Bürgermeister Müller. Der sitzt nun auch dem Aufsichtsrat vor. Ein Dutzend Kommunen interessiert sich übrigens inzwischen bei ihm für die Erfahrungen in Bad Schlema.
Von Jörg Marschner