Sächsische Zeitung, Seite 1, 02.06.2007
Aktenaffäre: Justiz erhält zweites Dossier
Das Innenministerium hat der Staatsanwaltschaft neue Informationen über Organisierte Kriminalität in Sachsen übergeben.
Das Innenministerium hat am Freitag ein weiteres Dossier des Verfassungsschutzes an die Generalstaatsanwaltschaft übergeben. Die Justiz prüft seit einer Woche, ob es in Sachsen kriminelle Netzwerke gibt mit Verbindungen bis in die Polizei und die Justiz.
Mittlerweile wird die Frage diskutiert, warum der Verfassungsschutz als „Frühwarnsystem“ (Eigenwerbung des Landesamtes für Verfassungsschutz) offenbar versagt hat. Warum platzte die Bombe erst nach der Kontrolle des Datenschützers? Das Verfassungsschutzgesetz verpflichtet den Geheimdienst, die Staatsanwaltschaft einzuschalten. Bis 2004 hatte das Amt die Pflicht, über alle Erkenntnisse zu informieren, die es über Straftaten gesammelt hatte, wenn Anhaltspunkte dafür vorlagen und wenn die Quellen der Geheimdienstler nicht gefährdet wurden.
Diese weitreichende Übermittlungspflicht habe für das Feld der Organisierten Kriminalität (OK) bedeutet, „dass das Landesamt praktisch ausnahmslos alle Erkenntnisse über Straftaten, die in diesem Bereich bekannt geworden sind, der Staatsanwaltschaft mitteilen musste“, kritisiert Martin Schulze-Griebler in einem Leserbrief an die SZ. Er ist Jurist und Vorsitzender Richter der Staatsschutzkammer am Dresdner Landgericht.
2004 hat der Gesetzgeber diese Pflicht zur Übermittlung eingeschränkt auf Erkenntnisse über Tötungsverbrechen und kriminelle Vereinigungen – also mafiöse Strukturen, von denen jetzt so viel die Rede ist. Wer das nicht tat, habe sich sogar dem Verdacht der Begünstigung oder der Strafvereitelung ausgesetzt, kritisiert der Jurist und fragt: Wozu ist ein Verfassungsschutz eigentlich gut, der sein Wissen an die zuständigen Stellen nicht weitergibt, sondern nur in Akten ablegt?
Nach Auskunft des Innenministeriums hat es schon vor der Kontrolle des Datenschutzes Informationsübermittlungen an die Justiz gegeben. Wie oft das geschah, konnte Ministeriumssprecher Andreas Schumann nicht sagen.
Frühwarnsystem hat versagt
Dem Ministerium habe der Verfassungsschutz in regelmäßigen Lagebesprechungen über seine Tätigkeit berichtet. Nach SZ-Informationen lag das erste Dossier, das vorigen Freitag an die Justiz übergeben wurde, bereits ein Jahr lang im Landesamt, ohne dass es ein Staatsanwalt zu Gesicht bekommen hätte. Wieso war Innenminister Albrecht Buttolo dann „schockiert“, als er im Frühjahr 2006 erstmals Details aus den Akten des Verfassungsschutzes zur OK in Sachsen erfuhr? Gab es überhaupt ein funktionierendes „Frühwarnsystem“ in Sachsen zur OK? Buttolos Vorgänger im Amt, Thomas de Maizière, lässt ausrichten, dass in seiner Amtszeit nicht genügend Fakten vorgelegen hätten, um die Staatsanwaltschaft einzuschalten. Fast drei Jahre lang, vom September 2003 bis Ende Mai 2006, hat das Landesamt die Organisierte Kriminalität in Sachsen beobachtet. Aber in keinem Jahresbericht der Behörde tauchte jemals Substanzielles dazu auf.
In Thüringen, wo der Verfassungsschutz die OK seit 1992 beobachtet, tut man weniger geheimnisvoll. Auf fünf Seiten berichtet der Geheimdienst über Erkenntnisse aus der Rotlichtszene, über asiatische Banden und über Rockerkriminalität. Auch der bayerische Verfassungsschutz macht kein Geheimnis daraus, dass er die italienische Mafia und osteuropäische Tätergruppen beobachtet. Nichts anderes dürfte auch der sächsische Verfassungsschutz getan haben. Doch er erstarrte offenbar vor Schreck, als der Datenschutz plötzlich meinte: Alles illegal.
Von Thomas Schade und Karin Schlottmann