Tagesspiegel, 05.06.2007
Sex, Lügen, Videos
Die Liste der Taten liest sich wie das Exposé eines Kriminalstücks: Städtische Filetgrundstücke werden auf krummen Wegen verschachert. Der leitende Mitarbeiter einer Wohnungsbaugesellschaft wird von einem vermeintlichen Telegrammboten an seiner Wohnungstür mit fünf Schüssen niedergestreckt und lebensgefährlich verletzt. Minderjährige geraten in die Fänge skrupelloser Zuhälter und sind hochgestellten Persönlichkeiten zu Diensten. Staatsanwälte und Richter verkehren im Rotlichtmilieu, und alle machen sie sich erpressbar. Ermittlungen werden unterdrückt, Verfahren verschleppt. Zugetragen hat sich all das von Anfang der 90er Jahre bis heute. Die neueste Nachricht: Im Rathaus sollen tschechische Prostituierte ein- und ausgegangen sein. Auch zu Zeiten, in denen ein Mann dort Chef war, der heute als Verkehrsminister in der Regierung sitzt.
Das Stück spielt nicht in einer Bananenrepublik und auch nicht in Sizilien. Es spielt in Leipzig. Das Vertrackte daran ist nur: Niemand kann so recht einschätzen, wie viel Wahrheit, wie viel Spekulation und wie viel Denunziation darin steckt.
Für Jürgen Roth jedenfalls steht fest: „Es ist eine Tragik, dass eine Stadt, deren Bürgerbewegung die friedliche Revolution ausgelöst hat, nun von solch einem Filz beherrscht wird.“ Der stoppelbärtige Mann aus Frankfurt am Main, Anfang 60, der an diesem lauen Abend auf der Terrasse eines Leipziger Restaurants sitzt, meint zu wissen, was er sagt. Denn das, worüber Roth, Autor auflagenstarker Bücher über Korruption, organisierte Kriminalität und Terrorismus, spricht, ist aktenkundig. Es wurde vom sächsischen Verfassungsschutz zwischen 2003 und 2005 auf rund 15 600 Seiten zusammengestellt und in knapp 100 Aktenordnern verwahrt. Auch zweifelhafte Vorgänge aus der Landeshauptstadt Dresden, aus Chemnitz und der vogtländischen Stadt Plauen sind beschrieben. Das ostdeutsche Vorzeigeland – ein Sumpfgebiet?
Roth ist wohl der einzige Journalist, der die Geheimakten zusammenhängend gelesen hat. Ein Dreivierteljahr lang hat er sie durchforstet. Nun steckt er in der Rolle eines Hauptbelastungszeugen für den sächsischen Filz. Er wird zum Widersacher einer Landesregierung, die von ihm und den mittlerweile aufgeschreckten Medien zum Jagen getragen werden muss. Denn die Neigung, den brisanten Papierberg aufzuarbeiten, schien zunächst gering.
Wie Roth an die Akten herankam, darüber schweigt er sich aus. Im sächsischen Innenministerium wird fieberhaft nach der undichten Stelle gesucht. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz interessiert sich mittlerweile in Dresden für den „Geheimnisverrat“.
Sachsen hat als prosperierende Region seit der Wende eine besondere Anziehungskraft auf Glücksritter ausgeübt. „Beamte, die im Westen nichts mehr werden konnten, gut vernetzte ehemalige Stasi-Leute, dazu die osteuropäische organisierte Kriminalität, die kalabrische Mafiaorganisation Ndrangheta und die gewöhnliche einheimische Kriminalität“ – so umreißt Roth das Beziehungsgeflecht in den vier sächsischen Städten. Nach seinen Erkenntnissen sollen allein vier Staatsanwälte und drei Richter in Leipzig und drei Staatsanwälte und ein Richter in Plauen durch die Akten belastet sein.
Da ist zum Beispiel der Fall „Jasmin“, ein Kinderbordell in Leipzig: Aus Unterlagen, die in Juristenkreisen kursieren und die dem Tagesspiegel vorliegen, geht hervor, dass dort in den 90er Jahren minderjährige Mädchen zur Prostitution gezwungen wurden. In dem Puff sollen Politiker und Beamte verkehrt sein. Es gibt Hinweise auf heimlich gedrehte Sex-Videos. Wurden Amtsträger, die eigentlich für Recht und Ordnung zu sorgen haben, damit erpresst? Die Kundschaft war zahlungskräftig. Betreiber Michael W. war mit dem Umsatz „sehr zufrieden“, so geht es aus den Unterlagen hervor – bis er 1993 bei einer Razzia aufflog. Gegen W. wurde wegen Menschenhandels ermittelt, wegen Zuhälterei und Kindesmissbrauchs. Er rechnete mit einer Strafe von mindestens zehn Jahren. Tatsächlich kam er mit vier Jahren davon.
„Das Urteil war ein Witz für das, um was es ging“, sagt ein Strafverteidiger, der Erfahrungen mit ähnlichen Prozessen hat. Jahre später, am 16. Mai 2000, vernimmt die Polizei W. erneut. In einem Dienstraum der Direktion berichtet er, so steht es in den Verfassungsschutzakten, drei Stunden lang von einem ungewöhnlichen Handel, den seine Anwältin mit der Strafkammer abgeschlossen habe. Im Gericht soll es ein großes Interesse daran gegeben haben, in der Verhandlung keine „dreckige Wäsche“ zu waschen. Wenn er nichts über die Freier sagen würde, würde er vier Jahre bekommen. Sonst bis zu zwölf. Das Urteil lautete: vier Jahre.
In Leipzig scheint alles irgendwie mit allem zusammenzuhängen – fragwürdige Immobiliengeschäfte, Verwicklungen von Juristen, Politikern und Polizisten in die Rotlichtszene, organisierte Kriminalität. Einer der Juristen, die in den Akten in verschiedenen Zusammenhängen auftauchen, ist der frühere Leipziger Oberstaatsanwalt Norbert Röger. Gegen ihn hat Sachsens Justizminister Geert Mackenroth (CDU) inzwischen ein disziplinarisches Ermittlungsverfahren eingeleitet. Erst Mitte April hatte der Minister den heute 55-Jährigen, der inzwischen Leitender Oberstaatsanwalt in Görlitz geworden war, zum Präsidenten des Chemnitzer Amtsgerichts befördert. Schon zum damaligen Zeitpunkt gab es Spekulationen über Verwicklungen Rögers in den Leipziger Filz. Er soll in der Rotlichtszene unterwegs gewesen sein und Ermittlungen zur organisierten Kriminalität blockiert haben. Mackenroths Sprecher Martin Marx verteidigt die Entscheidung: Röger habe von allen vier Bewerbern nun mal die längste Verwaltungserfahrung und das höchste Ausgangsamt gehabt. Man könne eine solche Entscheidung nicht auf der Basis von Gerüchten treffen. Für Journalisten ist Röger derzeit nicht zu sprechen.
Ermittler haben es von Anfang an schwer, das Dickicht der Beziehungen zu durchdringen. So interessieren sie sich noch nach Jahren für ein Attentat auf Martin Klockzin, Manager der Leipziger Wohnungsbau-Gesellschaft LWB. Klockzin war 1994 für die mit Rückgabeansprüchen belasteten Grundstücke zuständig. In diesem Jahr wurde auf ihn geschossen. Er überlebte knapp. Hintergrund war offenbar das Tauziehen um ein Mehrfamilienhaus, an dem auch Leipziger Juristen Interesse bekundet hatten. Jedoch: 2002 wird der ermittelnde Chef des Polizeidezernats Organisierte Kriminalität wegen angeblicher Strafvereitelung im Amt vom Dienst suspendiert. Später werden er und seine Beamten in andere Referate verbannt. Sie waren wohl zu erfolgreich, mutmaßen nun einige.
Seit „Leipziger Volkszeitung“ und „Spiegel“ Mitte Mai erstmals über die brisante Aktensammlung des Verfassungsschutzes berichteten, hat der Autor Jürgen Roth auf seiner Homepage Details aus den eigenen Erkenntnissen beigesteuert. Fast jeden Tag ein Eintrag. Selbst während einer Tagung in der Türkei hat er sich in den Pausen an den Laptop gesetzt, erzählt er – obwohl ihm die Enthüllungen eigentlich ungelegen kommen. Denn Teile davon hat er in seinem Buch „Anklage unerwünscht“ über Korruption und Willkür in der deutschen Justiz verarbeitet, das Ende Juni erscheint. Anderes wird er in „Mafialand Deutschland“ beschreiben, das im nächsten Jahr herauskommt. Doch jetzt ist plötzlich der öffentliche Druck da, und er kann nicht schweigen.
Die Akten sollten eigentlich längst vernichtet sein. „Viele sind schon geschreddert worden“, sagt Roth. Denn nachdem sich 2005 das Verfassungsgericht mit den Akten des sächsischen Geheimdienstes befasst hatte, wurde dessen zuständige Ermittlungsgruppe von der Landesregierung aus CDU und SPD plötzlich aufgelöst. Begründung: Die Behörde habe ihre Kompetenzen überschritten. Für Roth eine bewusste Fehlinterpretation: „Das Verfassungsgericht hatte lediglich festgestellt, dass die organisierte Kriminalität vom Verfassungsschutz nur dann beobachtet werden darf, wenn die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdet ist. Das ist aber bei organisierter Kriminalität generell der Fall.“ Er sieht in der Auslegung des Urteils politisches Kalkül: Die den Freistaat und sein Personal belastenden Unterlagen sollen zu Aktenmüll erklärt werden. Sachsens Datenschutzbeauftragter Andreas Schurig zum Beispiel gehörte zu denen, die öffentlich auf ihre komplette Vernichtung drängten, nachdem er sie gelesen hatte. Er hat „wohl die Namen mancher seiner Freunde aus alten Leipziger Zeiten gefunden“, sagt Roth sarkastisch. Der Datenschützer selbst hatte unlautere Motive für sein Ansinnen vehement zurückgewiesen.
Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurden inzwischen erste Sachstandsberichte an die Dresdner Generalstaatsanwaltschaft und Generalbundesanwältin Monika Harms gegeben. Die Linken drängen auf einen Untersuchungsausschuss. Aber auch der SPD-Landtagsabgeordnete
Karl Nolle sagt, an dem Ausschuss „kann man nicht dran vorbei“. Sonst könnten viele Dinge wegen Verjährung nicht ans Licht kommen. „Ich habe schon vor Jahren gesagt, dass die jahrelange Alleinherrschaft der CDU zu einem dicken schwarzen Filz geführt hat. Die Justiz ist in Teilen eine Strafvereitelungsbehörde geworden.“ Und so zweifelt Nolle auch die Integrität der Sonderermittler an. Tatsächlich fiel einer der bislang vier Staatsanwälte in der Vergangenheit durch eine von ihm angeordnete umstrittene Telefonüberwachung eines Journalisten auf. Ein Gericht stufte den Vorgang später als unzulässig ein.
Die Sprengkraft der Vorwürfe ist groß. Sie könnte auch Berlin erreichen. Leipzigs früherer Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee (SPD) ist heute Verkehrsminister in der Bundesregierung, der frühere sächsische Justiz- und Innenminister Thomas de Maizière (CDU) Kanzleramtschef. Sie waren politisch verantwortlich. Haben sie etwas gewusst? Tiefensees Sprecher wies das gestern für seinen Chef zurück, er sprach von einem „Gebräu von Gerüchten“. Dass Prostituierte im Rathaus gewesen sein sollen, davon habe Tiefensee „keine Kenntnis“. De Maizière hatte kürzlich dem Tagesspiegel gesagt, die Ermittlungsdichte der Akten habe nicht ausgereicht, um die Parlamentarische Kontrollkommission des Landtags zu informieren. Auch in Kreisen von Justiz und Verfassungsschutz wird bezweifelt, dass die Fakten aus den Akten gerichtsfest sind.
Der mit der Aufklärung betraute Dresdner Chefermittler Henning Drecoll hält sich derweil bedeckt. Vor Journalisten im Justizministerium wollte er dieser Tage nicht mal mitteilen, ob es bereits Ermittlungsverfahren gibt. Sein Dienstherr, Minister Mackenroth, präsentierte einen schüchtern wirkenden Landgerichtspräsidenten aus Baden-Württemberg, der „mit wachem Auge“ die Ermittlungen begleiten soll.
Am heutigen Dienstag wird sich eine Sondersitzung des Landtags mit der Korruptionsaffäre befassen. Bricht dann ein Damm? Wird es womöglich eine Staatskrise in Sachsen geben? Jürgen Roth blinzelt ungläubig hinter seiner Brille hervor: „Warum sollte es eine Staatskrise geben? Das Verschleiern hat in Sachsen System.“
Von Lars Rischke und Matthias Schlegel, Leipzig