DNN/LVZ, 03.08.2007
„Der Humus der Linken“
Stärkste Kraft im Osten, erster Erfolg im Westen: Warum aus der Protestpartei PDS eine Programmpartei werden konnte
Stärkste Partei in Ostdeutschland, hohe Zustimmungs- und Zufriedenheitswerte, der erste gemeinsame Westerfolg in Bremen, Erosion innerhalb der SPD, der wahrscheinliche Übergang 2009 von einer Zwei zur Drei-Parteien-Koalition, Furcht vor dem Mitregieren im Bund: Die Linken haben Deutschland in Windeseile zu einer anderen Republik gemacht.
Wirtschaft und Politik finden kein Gegenmittel gegen die Partei, die den Zeitgeist so trifft wie keine andere. Sie haben der Linken sogar den „roten Teppich“ ausgerollt, allerdings ohne es zu bemerken: Die Wirtschaft, indem sie sich vom Jahrzehnte alten Konsens: „Geht’s den Unternehmen gut, geht’s auch den Beschäftigten gut“ verabschiedet hat. Zum ersten Mal folgt die Arbeitsmarkterwartung nicht mehr der Wirtschaftsstimmung: Während 45 Prozent der Ostdeutschen von besseren Konjunkturdaten ausgehen, rechnen nur noch 18 Prozent mit entsprechend neuen Jobs. Jahrzehnte lang liefen beide Erwartungen fast parallel. Nun zeigt das Öffnen der Schere, dass sie die Wirtschaft von den Beschäftigten entsolidarisiert hat.
Die Politik: Während es den Unternehmen immer besser geht, bewerten die Arbeitnehmer ihre Finanzsituation immer schlechter. Die Politik hat den Steuer- und Abgabenbogen überspannt: Politisch gewollte Kosten- und Steuererhöhungen lassen weite Kreise verarmen. Das Wohlstandgefälle driftet auseinander. Selbst Engagierte und gut Ausgebildete sind oftmals ohne Job. Das Leben ist selbst für die „Guten“ nicht mehr planbar, die Zukunft wird zufällig, das Leben damit unberechenbar.
Diese Entsolidarisierung ist der Humus der Linken. Was aber macht sie plötzlich so attraktiv? Was ist seit PDS-Zeiten, als sie im Osten auf knapp 20 Prozent der Stimmen kam, anders geworden? Fast alles. Vor allem: Die Aussortierten haben mit Hartz IV endlich ein Symbol für Wut und Willen, sich für ihren linken Traum von der anderen Gesellschaft zu engagieren. Plötzlich ist nicht mehr Ducken die Reaktion, sondern offene Opposition. Vor allem gegen die so genannte Sozialdemokratie: Denn in dem Maße, wie die SPD ihre Sozialkompetenz verlor, gewann die Linke an Daseinsberechtigung hinzu. Je stärker die SPD an der Verteilungsgerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung zweifelt, je besser kommt „Solidarität“ als politische Botschaft der Linken an. Vor allem, so lange nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, wie 78 Prozent im Osten meinen.
Hartz IV ist Synonym der Wut auf Politik und Wirtschaft für deren Verlust an Bodenhaftigkeit. Auf die Forderung vieler Unternehmer nach Managergehältern wie in Amerika, Arbeitslöhne wie in China und Unternehmensgewinne durch Arbeitsplatzvernichtung. Und Ursache für den entscheidenden Akzeptanzwandel der Linken. Aus der Protestpartei PDS wurde die Programmpartei Linke, weil diese im Osten die Ziele der „guten alte SPD“ hoch hält.
Mindestlohn – weil es wenig Sinn macht, zu arbeiten, ohne seine Familie damit ernähren zu können. Zurück zur Rente mit 65 – weil es gerade für die Älteren keinen Zugang zum Arbeitsmarkt mehr gibt. Das Primat der Politik über das der Wirtschaft – weil „Heuschrecken“ immer mehr Arbeitsplätze vernichten. Nähe zu den Gewerkschaften, wo SPD-Wähler sie verlassen. Ablehnung der Auslandseinsätze der Bundeswehr, die die Friedenspartei SPD inzwischen toleriert. Alles Positionen, die mehr als Zweidrittel der Linkswähler vertreten. Nur noch für neun Prozent im Osten ist die Linke Protestpartei ohne Programm.
Für 55 Prozent der Ostdeutschen ist die Linke anstelle der SPD die modernere Sozialpartei. Nur noch 40 Prozent sehen in ihr eine reine Protestpartei. Vorgänger PDS war das noch für 70 Prozent. Die Linke hat für 80 Prozent ihrer Wähler die mit Abstand größte soziale Glaubwürdigkeit. Und mehr als jeder Zweite begrüßt im Osten den Zusammenschluss mit der WASG. „Ich will so werden, wie ich war!“ ist das neue Motto der Linkswähler.
Es ersetzt damit das lange Jahre erfolgreiche „Ich will so bleiben, wie ich bin“ der SPD. Die Linken übernehmen im Osten die Rolle der Vorglobalisierungs-SPD: Als Partei des sozialen Fortschritts für Umverteilungspolitik von oben nach unten, für Reichensteuer, höhere Erbschaftssteuer, zusätzliche Beschäftigungsprogramme. Alles Politziele, die im Osten von über 50 Prozent der Wähler und von den Linken zu über 80 Prozent vertreten werden. Die Linken werden als Wahrer der Sozialdemokratie gewählt.
Selbst wenn es nicht zum Regieren reichen sollte, sorgen die Wähler der Linken zumindest für eine Linksverschiebung im deutschen Parteienspektrum. Es gibt noch weitere Gründe für das Hoch der Linken im Osten. Da wäre ihr Imagewandel. Längst sind sie nicht mehr die Frustrierten und Demotivierten. Nicht mehr linke Kaderpartei oder Anhänger des Ewiggestrigen. Stattdessen politischer Dienstleister, die einzigen Sorgensammler, die offen gegen Großkapital, Heuschrecken und Arbeitsplatzvernich-ter vorgehen. Ob mit Grün oder mit Schwarz: Unter SPD-Regierungsbeteiligung wuchs ständig die Quote derer, die unsere Gesellschaft für „sozial ungerecht“ halten. Inzwischen sind es im Osten 84 Prozent. Nach Maueröffnung waren es nur 40 Prozent. Der Sozialismus als Politidee erlebt eine unerwartete Renaissance.
Die Reaktion der Etablierten spricht Bände. Anstatt mit Gysi, Bisky und Lafontaine den thematischen Florett zu wagen, wird verteufelt, geächtet, geschmäht, beleidigt. Ausgerechnet gegen eloquente Vertreter der eigenen Interessen. Die Linke blüht auch als Kümmererpartei auf. Je grobklotziger die Kritik, desto intensiver erstarkt die Robin-Hood-Sympathie für die Linken. Schließlich sorgen sie sich viermal so viel um soziale Gerechtigkeit wie die SPD, sie reduzieren den Unterschied zwischen arm und reich, stärken den Zusammenhalt zwischen Ost und West. Ob Mieterhöhung, Hartz IV, Kündigungsklage: Für kein Bürgerproblem sind sie sich zu fein.
Die alten Argumente gegen die Linken zählen nicht mehr. Da ihre Aussagen der gefühlten Stimmung vieler entsprechen, gibt es kaum mehr glaubhafte Kritik. Und 18 Jahre nach Maueröffnung entfalten Verteufelungskampagnen ebenfalls immer weniger Wirkung. Eine Generation lebt bereits ohne DDR-Erfahrung. Nur noch für 21 Prozent der Ostdeutschen ist die Linke SED-Nachfolgepartei. Und dennoch: Die Aktie „Linke“ scheint auf ihrem Höchstkurs angekommen. Es wird in Zukunft eher bergab denn bergauf gehen. Aus mehreren Gründen: Im Osten hat sie ihr Potenzial fast komplett ausgeschöpft. Und auch ihre Wähler sind gespalten: In Steuerzahler und Leistungsempfänger, Konsument und Produzent, Transferempfänger und Abgabenleistender, also gibt es auch bei ihnen unterschiedliche Interessen. Zudem wissen inzwischen 90 Prozent der Deutschen, dass die Globalisierung dem Kapital die Möglichkeit gibt, Grenzen zu überschreiten. Dass also jede Art von vermeintlicher Wohltat vor allem durch massive Steuererhöhungen von der Mittelschicht getragen werden muss.
Zudem wird die SPD nach der Sommerpause die Linken wahrscheinlich durch einen Linksruck bekämpfen, um ihre Chancen 2009 mit einem klareren Sozialprofil zu verbessern. Besser wäre es, die Linke als die Partei zu akzeptieren, die sie tatsächlich ist: Als eine mit vorläufig festem Platz im parlamentarischen Spektrum. Sie also nicht in den Himmel der Totalopposition, sondern in die Hölle der Realpolitik zu stellen. Damit die Wähler entscheiden können, ob sie die Linke für eine seriöse Partei halten. Je größer deren Versprechen, desto größer muss die Redlichkeit der Reaktionen sein. Je schärfer deren Polemik, desto logischer die Argumentation der Etablierten. Mitregieren war bereits in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin das beste Mittel zur realpolitischen Entzauberung.
Eine Linkskoalition wird es 2009 allerdings noch nicht geben. Selbst wenn die SPD ein Bündnis mit den Roten eingehen würde – was 60 Prozent der SPD und sogar über 90 Prozent der Links-Wähler im Osten wollen – würden weder FDP noch die Grünen mitmachen. Ampel oder Jamaika werden die angesagtesten Optionen. Umworben werden bis dahin also vor allem die Grünen. Und zwar so intensiv wie nie zuvor. Die „rote Gefahr“ wird erst einmal zum „Aufgrünen“ der Republik führen.
Von Klaus-Peter Schöppner, der Autor ist Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Emnid.