Karl Nolle, MdL

SPIEGEL 34/2007, Seite 26, 19.08.2007

SPD - "Im Zweifrontenkrieg"

Der Parteilinke Karl Lauterbach, 44, über Privilegien und Gerechtigkeit in Deutschland, Versäumnisse der Sozialdemokratie und mögliche Perspektiven seiner Partei
 
SPIEGEL: Herr Lauterbach, Ihrer Partei geht es zurzeit wie den Aktien an der Börse. Sie fällt und fällt in den Umfragen. Ist dieser Trend noch aufzuhalten?

Lauterbach: Die SPD steckt in einer tiefen Krise, und wir sollten das sehr ernst nehmen. Trotzdem ist die Aktie der SPD derzeit dramatisch unterbewertet.

SPIEGEL: Was spräche denn momentan für den Kauf einer SPD-Aktie? Das Programm? Das Spitzenpersonal?

Lauterbach: Die SPD ist ein Unternehmen mit einem erstklassigen Kapitalstock. Das Programm ist gut, das Personal auch. Nur leider erkennen die Anleger das momentan nicht.

SPIEGEL: Das ist aber ärgerlich, wenn man nach der nächsten Wahl den Kanzler stellen will.

Lauterbach: Auch hier ist es wie an der Börse. Der Wert einer Aktie kann sich innerhalb von wenigen Tagen verbessern. Dafür muss aber was getan werden: Die Philosophie des Unternehmens muss ganz klar überarbeitet und verbessert werden, unser moralischer Anspruch auch. Und dann müssen wir gute Bilder finden, mit denen wir unsere Philosophie dem Volk verkaufen. So könnte die SPD-Aktie in kürzester Zeit steigen.

SPIEGEL: Alles halb so wild also?

Lauterbach: Nein, nein. Die SPD ist in einem Zwischentief, in einem ziemlich gefährlichen Zwischentief sogar, denn unglücklicherweise ist das gerade eine sehr wichtige Phase, in der sich die Zukunft der SPD für die nächsten 15 Jahre entscheidet.

SPIEGEL: Wie konnte die Partei in dieses "Zwischentief" rutschen?

Lauterbach: Wir sind in einen Zweifrontenkrieg geraten. Die CDU ist geschickt zur linken Mitte vorgedrungen, sie greift die SPD in der Familien- und Arbeitsmarktpolitik an. Und dann hat sich die Linkspartei etabliert. Der Raum für uns ist enger geworden. Wir müssen jetzt die Muskeln spannen und die Angreifer wieder wegdrücken.

SPIEGEL: Es sieht so aus, als würde die SPD in der Großen Koalition ersticken.

Lauterbach: Das dürfen wir nicht zulassen. Wir brauchen Luft. Die SPD hat große Anteile am wirtschaftlichen Aufschwung. Die werden uns aber nicht zugeschrieben. Wir müssen klarmachen, dass die Union zwar eine clevere Kanzlerin hat, aber mehr auch nicht. Angela Merkel ist sehr geschickt, weil sie sich aus den Kernfragen heraushält. Sie regiert präsidial und scheinbar neutral. Sie erweckt immer den Anschein, als ob sie zwischen den CDU-Ministerpräsidenten und der SPD vermitteln würde, macht im Kern aber klassische Unionspolitik.

SPIEGEL: Die Mitglieder der SPD haben Angst. Vielen fehlt der Glaube, dass der Kurs wieder steigen wird. Was macht die Basis so unzufrieden?

Lauterbach: Man weiß nicht mehr, wofür die SPD steht. Jeder weiß, wofür die FDP steht, nämlich dass die Reichen weniger Steuern bezahlen sollen. Jeder weiß es bei den Grünen und den Konservativen. Aber wofür steht die SPD? Das ist unklar. Diese Frage muss in einer einfachen Sprache beantwortet werden.

SPIEGEL: Dann sagen Sie doch mal, wofür Ihre Partei steht.

Lauterbach: Die SPD ist die einzige Partei in Deutschland, die für Gerechtigkeit kämpft, ohne die Globalisierung zu ignorieren. Wir kämpfen für die Überwindung des Zweiklassenstaates.

SPIEGEL: Das meinen Sie nicht ernst. Die SPD regiert nun schon neun Jahre mit. Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist in dieser Zeit noch stärker gewachsen als in den Jahren davor.

Lauterbach: Dass die, die ohne Privilegien geboren sind, zeitlebens Nachteile haben, hat seine Wurzeln schon in der Zeit von Konrad Adenauer. Das darf aber keine Ausrede sein, auch die SPD hat dieses Thema in den letzten Jahren verschlafen. Die Überwindung dieser Zweiklassengesellschaft müsste das zentrale Zukunftsprojekt der SPD sein.

SPIEGEL: Sagen Sie das doch mal Ihren Parteifreunden. Die reden nicht von der Überwindung der Zweiklassengesellschaft.

Lauterbach: An der Basis schon. Ich habe in den letzten Wochen viele Vorträge gehalten. Die Basis kennt die Probleme sehr genau. Wenn man vor 200 Leuten spricht, haben 180 davon ihre Erfahrungen mit der Zweiklassenmedizin gemacht.

SPIEGEL: Stellt nicht die SPD gerade die Gesundheitsministerin?

Lauterbach: Das ist korrekt. Ich sage ja auch nicht, dass alles, was gemacht wird, falsch ist. Aber bei 500 Millionen Arztbesuchen jährlich erleben doch 90 Prozent der Versicherten die Zweiklassenmedizin hautnah. Und deshalb müssen wir sie überwinden.

SPIEGEL: Wie konnte die Volkspartei SPD der wachsenden Ungerechtigkeit über Jahre tatenlos zuschauen?

Lauterbach: Wir haben in allen Parteien, übrigens auch in den Medien, über lange Jahre die Globalisierung nicht richtig verstanden. Wir dachten, wir müssten nur die Arbeitgeber entlasten und ihnen höhere Gewinne erlauben, dann wäre Deutschland fit für die Globalisierung. Das war Mumpitz. Wichtigste Voraussetzung für Wachstum und Arbeit in der globalisierten Welt ist eine gute Familien- und Bildungspolitik. Dann folgen Gesundheits- und Rentenpolitik. Das hat man lange in dieser Klarheit nicht gesehen.

SPIEGEL: Globalisierung bedeutete: mehr Konkurrenz, härterer Wettbewerb. Kann es unter diesen Bedingungen noch eine linke Politik geben?

Lauterbach: Globalisierung und linke Politik gehen Hand in Hand. Wir Linken fordern, dass alle Kinder optimale Bildungschancen haben. Das ist in einer globalisierten Welt wichtiger denn je. Ein Land ohne Rohstoffe kann es sich nicht mehr leisten, dass Kinder aus Arbeiterfamilien und mit Migrantenhintergrund nicht optimal ausgebildet werden. Linke Politik bedeutet: Nicht nur Bürgerkinder mit privilegierter Herkunft besuchen die Gymnasien und Universitäten, sondern alle mit Begabung. Konservative Politik ist dagegen nicht globalisierungstauglich.

SPIEGEL: Wenn das so ist, müsste die SPD-Aktie ja weit besser bewertet sein als die CDU-Aktie.

Lauterbach: Eigentlich schon. Aber wir haben es versäumt, den Menschen eine Perspektive, eine Vision anzubieten ...

SPIEGEL: ... Altkanzler Helmut Schmidt würde Sie jetzt zum Arzt schicken. Was meinen Sie mit Vision?

Lauterbach: Sich große gesellschaftspolitische Ziele setzen, so konkret wie möglich. Politik ist angewandte Moralphilosophie mit ökonomischem Sachverstand. Wenn Sie die Zweiklassenmedizin beseitigen wollen, wenn Sie gleiche Bildungschancen für alle wollen, wenn Sie die Altersarmut bekämpfen wollen, dann formen alle drei Ziele zusammen eine Vision. Dann brauchen wir noch Begriffe, die klingen, die man auch anwenden kann im täglichen Häuserkampf der Politik.

SPIEGEL: Hört sich an, als müsste die SPD nur die Pressestelle austauschen und eine neue Werbeagentur beauftragen.

Lauterbach: Nein, das ist nicht gemeint. Aber wir haben ein Kommunikationsdefizit. Wir müssen eine durch Metaphern und Bilder vermittelbare politische Sprache entwickeln. So wie das den Regierungen von Blair und Clinton gelungen ist.

SPIEGEL: Sie könnten ja mal mit zwei Vorschlägen anfangen.

Lauterbach: Zum Beispiel hätte die Metapher "Leistung schlägt Herkunft" großes Potential. Das verstehen die Menschen. Oder wie wäre es mit "Abitur für alle Talente!" Damit könnten wir für die Gemeinschaftsschule werben und gegen das dreigliedrige Schulsystem kämpfen.

SPIEGEL: Und in der Gesundheitspolitik? Wie wär's mit: "Fit dank Ulla Schmidt"?

Lauterbach: Ich wäre für: "Tod der Zweiklassenmedizin". Auch da weiß jeder sofort, was gemeint ist, und man kann verdeutlichen, dass die Union vor allem Politik für die Privatversicherten macht. Wir dürfen nicht abstrakt von Gerechtigkeit sprechen, sondern müssen ganz konkret mit Beispielen kommen. Selbst die FDP faselt doch von Gerechtigkeit.

SPIEGEL: Zurzeit vertritt Die Linke ihres früheren Parteifreundes Oskar Lafontaine das Thema Gerechtigkeit weit erfolgreicher.

Lauterbach: Wir haben Die Linke unterschätzt, selbst ich. Ich hätte nicht geglaubt, dass die ihren Vereinigungsprozess hinbekommen. Jetzt ist unser Umgang mit der Linken geschickter geworden.

SPIEGEL: Ach ja?

Lauterbach: Ja. Wir setzen uns jetzt inhaltlich mit ihr auseinander. Rein programmatisch handelt es sich nämlich um eine uninteressante Partei. Die Linke lebt nur vom professionellen Management. Meiner Meinung nach müsste ihr Kurs bald fallen. Ich rate zum Verkauf.

SPIEGEL: Hängt der Kurs eines Unternehmens eigentlich auch vom Spitzenpersonal ab?

Lauterbach: Aber ja. Und wir haben mit Kurt Beck den idealen Spitzenkandidaten in unseren Reihen.

SPIEGEL: Soso. Dann scheint Ihr Spitzenkandidat ebenfalls dramatisch unterbewertet zu sein, auch in der SPD selbst.

Lauterbach: Es ist wichtig, dass man in den Tagen der Wahl so gut wie möglich bewertet wird und nicht Jahre davor.

SPIEGEL: Das ist die übliche Durchhalteparole. Die Partei hätte nichts dagegen, wenn es bereits jetzt einen Funken Hoffnung gäbe, dass Beck gewinnen kann.

Lauterbach: Das würde nicht schaden. Aber ich glaube, dass Kurt Beck eher ein Langstreckenläufer ist. Er ist jemand, der weiß, wie man Wahlen gewinnt - und zwar hoch. Die Union muss sich warm anziehen.

SPIEGEL: Das meinen Sie ernst?

Lauterbach: Unbedingt. Angela Merkels Stil, über den Dingen zu schweben und sich aus allem rauszuhalten, ist im Wahlkampf eine große Belastung. Wenn der Wahlkampf beginnt, werden die konservativen Wähler der Union enttäuscht sein. Dann sehen sie eine Frau ohne Eigenschaften. INTERVIEW: MARKUS FELDENKIRCHEN,

HORAND KNAUP

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: