Freitag, 28.09.2007
Tiefensees Scherenschnitte - Stand der Deutschen Einheit
Zwei Gesellschaften unter dem Dach einer Nation
Für den 3. Oktober ist die "Zentrale Feier der Deutschen Einheit" in Schwerin anberaumt. In den 17 Jahren seit dem 3. Oktober 1990 ist es der Berliner Republik gelungen, eine Teilung der Gesellschaft in West und Ost sowie Arm und Reich auszulösen, die fast so massiv ist wie die Teilung in zwei Staaten.
Erstaunliches hat sich ereignet - im vergangenen Jahr ist es dem Osten gelungen, den Westen zu überholen, ohne ihn einzuholen. Das Wirtschaftswachstum in den neuen Ländern lag mit drei Prozent knapp über dem der alten mit 2,7. Dennoch wird es noch mindestens 20 Jahre dauern, so die Prognose des Ostbeauftragten Wolfgang Tiefensee (SPD), bis sich die Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands angeglichen haben.
Die Schere zwischen Ost und West schließe sich, so Tiefensee jüngst bei der Vorstellung des Jahresberichts zum Stand der Deutschen Einheit. Sie schließe sich freilich nur langsam. Wie weit die Scherenblätter noch immer auseinanderklaffen, zeigt die Statistik erbarmungslos: 17 Jahre nach Vollzug der Einheit beträgt die Wirtschaftskraft in Ostdeutschland pro Kopf der Bevölkerung erst zwei Drittel (67,3 Prozent) des vergleichbaren Wertes im Westen, Arbeitnehmereinkommen Ost liegen im Schnitt bei gerade 77 Prozent der Bezüge West, und die Arbeitslosigkeit ist mit 14,7 Prozent doppelt so hoch wie im Westen.
Abschreiben und Ausholzen
Dass diese Umständen noch immer viele Ostdeutsche, besonders jüngere, zur Flucht aus der Heimat in Richtung Westen nötigen, kann nicht verwundern. Insgesamt hat Ostdeutschland seit 1991 1,5 Millionen Einwohner verloren.
Bevorzugt von dieser Auszehrung heimgesucht, sind strukturschwache und ländliche Gebiete wie Ostsachsen, die Uckermark oder das Mansfelder Land. Im Tiefensee-Report wird denn auch prophezeit, dass bis 2020 zahlreiche Landkreise Ostdeutschlands gegenüber 1990 die Hälfte ihrer Bevölkerung eingebüßt haben dürften. In diesen Gebieten, schlussfolgert Tiefensee richtig, sei auch nicht mehr mit großen Investitionen zu rechnen und ein weiterer Ausbau der Infrastruktur deshalb "nicht effizient". Vielmehr bedürfe es "einer Anpassung der Infrastruktur an die demografische Entwicklung, um in den Abwanderungsregionen ein hinreichendes und finanziell tragbares Angebot an Daseinsvorsorge sicherstellen zu können".
Im Klartext: Diese Regionen werden aufgegeben. Dass dies bereits geschieht, zeigt die Bahnreform, ebenfalls ein Tiefensee-Projekt. So sollen nach der Teilprivatisierung nur noch Bahnhöfe erhalten bleiben, an denen mindestens 100 Menschen pro Tag ein- und aussteigen. Peter Hettlich, Verkehrsexperte der Grünen, erwartet deshalb das große Bahnhofssterben im Osten. Weil dort die Bevölkerung weiter abnimmt, befürchtet er ein "Ausholzen des ostdeutschen Bahnnetzes" und damit das Abkoppeln ganzer Räume vom Nah- und Regionalverkehr. Ein Teufelskreis, weil damit die Attraktivität der betroffenen Gebiete für die Menschen weiter sinkt.
Forschung ohne Förderung
Andererseits drängt Tiefensee auf bessere Nutzung der Solidarpaktmittel, weil die Zahlungen in den nächsten Jahren rückläufig sind und 2019 bei Null enden. Dann nämlich müssen ostdeutsche Landesregierungen auf die lukrative Möglichkeit verzichten, Investoren mit hohen Zuschüssen in die neuen Länder zu locken. Zum Ausgleich müsste Ostdeutschland mehr von gesamtdeutschen Förderprogrammen profitieren - Forschungsförderung beispielsweise könnte neue Industrieansiedlungen nach sich ziehen, im Westen wurde das schließlich vorexerziert. Über massive Geldzuweisungen des Bundes an Forschungseinrichtungen in Bayern, Baden-Württemberg, Bremen und Hessen allein in Sachen Luft- und Raumfahrt sind dort in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten industrielle Kerne entstanden mit Tausenden von Arbeitsplätzen.
Statt diesem Muster zu folgen, tut die Bundesregierung, wie aus der Antwort auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke hervorgeht, genau das Gegenteil. So waren die neuen Länder 2006 an Förderprogrammen des Bundes etwa bei der Energieforschung nur mit sieben Prozent beteiligt, obwohl Minister Tiefensee in seinem Bericht mit Blick auf Ostdeutschland betont: "Innovatives Potential liegt ... in den Bereichen nachwachsende Rohstoffe und regenerative Energien." Bewiesen wird dies durch Unternehmen, die einen Standort im Osten bevorzugen, um Windenergie- und Solaranlagen sowie Biokraftstoffe zu produzieren. Findet hingegen die Forschung zu Energiealternativen weiter überwiegend in den Altländern statt, wird Ostdeutschland auf Dauer verlängerte Werkbank bleiben.
Möglich sogar, dass die Produzenten nach Westen abwandern, um näher an die Forschungsstandorte zu rücken. Ein frappierender Widerspruch zur Ankündigung der Bundesregierung, Ostdeutschland werde zum leistungsfähigen Hochschul- und Forschungsstandort ausgebaut. Tatsächlich sind die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zugewiesenen Forschungsmittel für ostdeutsche Hochschulen rückläufig. So erhielten die Universitäten Dresden und Jena zwischen 2002 und 2004 43 beziehungsweise 29 Prozent weniger Geld von der DFG. Gesine Lötzsch, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken, fordert daher eine "Ost-Quote" bei derartigen Förderprogrammen, um schwindsüchtige Solidarpaktzahlungen auszugleichen.
Insgesamt fehlt, wie es bereits der ehemalige Direktor der Deutschen Bank, Edgar Most, im Freitag (Ausgabe 36/07) beklagte, ein "gesamtstrategisches Konzept" für den Osten. Tiefensees Bericht zum Stand der deutschen Einheit widmet sich zwar dem Ist-Zustand, verkneift sich aber klare Aussagen, wie Ostdeutschland in eine gesamtdeutsche Wirtschafts- und Forschungslandschaft einzuhegen wäre. Wer sich dazu nicht durchringen kann, tut einiges dafür, dass die berühmte Schere zwischen Ost und West weiter geöffnet bleibt und auch in 20 Jahren noch unter dem Dach einer Nation zwei Gesellschaften existieren.
Tim Herden