Süddeutsche Zeitung, 29.10.2007
Bebel! Brandt! Beck.
Ein Kommentar von Heribert Prantl
Aus Furcht vor dem drohenden Parteisterben hat SPD-Parteichef Beck sich für einen Kurswechsel entschieden, der Risiken birgt. Trotzdem darf eine SPD, die sich um eine neue Sozialpolitik müht, stolz sein.
Es gibt zwei Analysen zur desolaten Lage der deutschen Sozialdemokratie. Parteichef Kurt Beck hat sich für die zweite Analyse entschieden, Vizekanzler Franz Müntefering für die erste.
Die erste sieht so aus: Es zieht seit Jahren eine gewaltige Gewitterfront über die SPD hinweg, ein höllisches Unwetter, das die Partei niederwirft, die Wahlen verhagelt, die Ernte vernichtet und die Mitglieder in Scharen in die Flucht treibt.
Wenn es so ist, dann muss die SPD einfach abwarten, denn auch das schlimmste und längste Unwetter ist einmal vorbei. Darauf hat die SPD nun jahrelang gehofft und dabei ein Ausmaß an Leidensfähigkeit bewiesen, das ihre politischen Gegner beinahe ungläubig bestaunt haben.
Kurt Beck glaubt nicht mehr an die Kraft des Abwartens und nicht daran, dass die Leidensfähigkeit der SPD vom Wähler irgendwann honoriert wird. Er fürchtet, dass das, was Müntefering & Co für ein temporäres Unglück halten, in Wahrheit eine finale, existenzgefährdende Katastrophe sein könnte.
Die Umfragen sind anhaltend schlecht, sie attestieren der Partei einen Rufselbstmord. Seit der Agenda 2010 verliert die SPD ihren Existenzkern, ihre Seele. Es wird ihr nichts mehr zugetraut bei der Suche nach sozialer Gerechtigkeit, der Verteidigung des Sozialstaats, beim Abbau der Unterschiede zwischen Arm und Reich.
Historische Verantwortung
Beck spürt seine historische Verantwortung als Parteivorsitzender: Die Partei des August Bebel und des Willy Brandt - sie soll nicht unter Kurt Beck untergehen. Die Angst vor diesem Schicksal kann ihm ein Beifall der Wirtschaftsfunktionäre für die Agenda 2010 nicht nehmen. Im Gegenteil: Es ist ja nicht schwer, in einigen der begeisterten Agenda-Claqueure die Selbstmordberater der Sozialdemokratie zu erkennen.
Die Furcht vor dem drohenden Parteisterben war und ist also der Grund für Becks Kurswechsel, der sich im neuen Hamburger Grundsatzprogramm manifestiert. Beck hat, beflügelt von einer Mitgliederbefragung, aus einem neoliberal getränkten und geschwätzigen Text, der dieser noch vor einem guten Jahr war, ein straffer gefasstes und gut lesbares Sozialpapier machen lassen.
Kapitalismuskritik, die man zuletzt dem Papst Johannes Paul II. und der Linkspartei überlassen hatte, ist jetzt nicht mehr verpönt, sondern erlaubt. Und das Nachdenken über neue Aufgaben für den Sozialstaat ist jetzt sozialdemokratische Pflicht.
Dementsprechend hatten die Journalisten (die auf dem Parteitag dreimal so zahlreich sind wie die Delegierten) von Kurt Beck zum Auftakt des Hamburger Parteitags eine Fanfaren-Rede erwartet. Wer wirklich glaubte, Beck würde reden, als sei der Lafontaine in ihn gefahren, war maßlos enttäuscht und hielt seinen Auftritt für ein rhetorisches Desaster.
Beck sprach zwar davon, dass es sich um einen "historischen Parteitag" handele. Das stimmt auch, aber seine Rede hat davon nichts spüren lassen; sie war stattdessen eine Demonstration von Bodenständigkeit. Am Pult stand die Kleine-Leute-SPD, die es halt mit dem Reden nicht so hat.
Im Übrigen war Beck darauf aus, den Streit mit Müntefering & Co zu beenden und den Kurswechsel harmlos daherkommen zu lassen. Er schwadronierte beinahe so, wie das weiland Helmut Kohl auf CDU Parteitagen getan hat.
Becks Rede war keine Ruckrede zum neuen roten Ruckprogramm, sondern eine väterliche Werbung dafür, mit dem Programm unter dem Arm wieder Seit an Seit zu marschieren. Das Hamburger Programm übernimmt das von Matthias Platzeck geprägte Wort vom "vorsorgenden Sozialstaat", fügt ihm aber den "sorgenden" Sozialstaat an.
Dieser Sozialstaat soll also mehr sein als nur ein barmherziger Samariter, der die unter die Räuber Gefallenen pflegt. Er soll auch dafür sorgen, dass gar nicht erst so viele Menschen unter die Räuber fallen.
All das sind freilich erst einmal Versprechungen. Aber es ist dies ein neuer Ton, und der macht bekanntlich die Musik. Diese wird der Partei gefallen, und die Delegierten werden so beseelt nach Hause kommen wie lange nicht mehr. Damit sind noch keine neuen Wähler gewonnen, aber immerhin ist die Angststarre vor der Linkspartei überwunden.
Die Geschäftsgrundlage der Koalition wackelt
Ohne Risiken ist dieser Kurswechsel freilich nicht zu haben. Die SPD-Minister der Bundesregierung sind die durchaus nicht stummen Repräsentanten des alten Kurses und der personifizierte Vorwurf an den neuen; das schafft Glaubwürdigkeitsprobleme für die Beck-SPD. Und das bedeutet womöglich, dass sie vorübergehend Stimmen in der politischen Mitte verliert.
Des Weiteren wird die Schnittmenge mit der FDP reduziert, das beeinträchtigt künftige Koalitionsmöglichkeiten. Und schließlich: Die Geschäftsgrundlage der Großen Koalition wackelt. Die Beck-SPD des neuen Programms ist eine andere SPD als die Agenda-SPD, mit der die Union Koalitionsverhandlungen geführt hat.
An einem Bruch der Koalition hat freilich vorerst keiner der Partner Interesse. Also könnten die kommenden zwei Koalitionsjahre Jahre der Polarisierung und der Vertagung aller größeren Themen werden; aber dieser Fall hätte auch ohne ein sozial gewendetes neues SPD-Programm eintreten können - das ergibt sich schlicht aus der Nähe zum nächsten Wahltermin. Immerhin: Über soziale Gerechtigkeit wird in den nächsten Jahren so intensiv diskutiert werden wie schon lange nicht mehr.
"Kein Linksruck auf dem Parteitag" - so beteuert Kurt Beck. Es ist dies eine, wie die Juristen sagen, protestatio facto contraria, eine Beteuerung also, die mit dem neuen Parteiprogramm nicht übereinstimmt. Sie stimmt jedenfalls dann nicht überein, wenn man "links" so definiert, wie es Erhard Eppler tut: "Links ist heute die Weigerung, die Frage nach der Gerechtigkeit einfach dem Markt zu überlassen."
Ein ehrenwerter Satz
Dieser ehrenwerte Satz könnte auch von Heiner Geißler stammen. Links ist also auch die Weigerung, eine solche Position und damit eine linke Politik der Linkspartei zu überlassen. Wenn die SPD Angst vor dem Attribut "links" hätte, wäre sie sehr kleinmütig.
Eine SPD, die sich um eine neue Sozialpolitik müht, darf stolz sein. Wenn der Staat schon nicht dafür sorgen kann, dass alle Kinder in geordneten Verhältnissen geboren werden, dann muss er sich darum kümmern, dass sie sodann die Förderung erfahren, die sie brauchen. Der sorgende und vorsorgende Sozialstaat, den die SPD jetzt propagiert, ist ein Schicksalskorrektor - zu Recht.
Die besseren Gene hat sich nämlich niemand erarbeitet, die bessere Familie auch nicht. Das Schicksal hat sie ihm zugeteilt. Es teilt ungerecht aus und es gleicht die Ungerechtigkeiten nicht unbedingt wieder aus.
Hier hat der neue Sozialstaat seine Aufgabe - ein Sozialstaat, dem es nicht um gleiche Geldbeutel, gleiche Bankkonten, gleich große Wohnungen und gleich große Autos geht; sondern um die Förderung der Kräfte und Talente, die in jedem stecken, und um so viel, auch finanzielle Hilfe für jeden Einzelnen, dass der nicht gebückt durchs Leben gehen muss. Eine SPD, die dazu beiträgt, wird eine Volkspartei bleiben.
(SZ vom 27.10.2007)