LVZ Leipziger Volkszeitung, Lokales, 28.01.2008
Gequältes Lächeln und tosender Jubel
Emotionen schlagen hoch beim ersten Bürgerentscheid
Es ist kurz vor 19 Uhr. Oberbürgermeiser Burkhard Jung (SPD) eilt in Begleitung seiner Frau Juliane Kirchner-Jung von seinem Büro in den Plenarsaal des Rathauses. Gequält lächelnd schüttelt das Stadtoberhaupt die Hände von Bekannten, stellt sich an einen Tisch, bereit für die erste Stellungnahme. Da braust tosender Jubel durch den vor allem mit Privatisierungsgegnern gut gefüllten Saal. Auf dem Chart auf der Leinwand taucht gerade das neueste Zwischenergebnis auf. 104 971 Ja-Stimmen werden vermeldet – damit hat der erste Leipziger Bürgerentscheid die Mindestgrenze von 104 000 Stimmen überwunden. In diesem Moment ist klar: Das von Jung initiierte Vorhaben, 49,9 Prozent der Stadtwerke für 520 Millionen Euro an den französischen Konzern Gaz de France zu veräußern, ist gescheitert. Die Bürger haben sich mit überdeutlicher Mehrheit dagegen ausgesprochen.
Während der Rathauschef seinen Interviewmarathon startet, überkommt Wolfram Leuze, den Fraktionschef der Bündnisgrünen, offenbar Mitleid. „Sie haben mein Mitgefühl“, sagt er zu Juliane Kirchner-Jung und entschuldigt sich ein wenig für seinen lauten Jubel. „Das war Siegerlachen, keine Schadenfreude.“ Kirchner-Jung kontert kühl. „Mitgefühl ist nicht nötig“, sagt sie, „es geht weiter.“
Ein Stockwerk weiter unten feilt Hermann Winkler an seiner Stellungnahme. Der Vorsitzende der Leipziger CDU ist, passend zu den herben Verlusten seiner Partei bei den gestrigen Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen, ganz in Schwarz gekleidet und trägt eine ähnliche Leichenbittermiene wie Jung. Es zeuge vom „Engagement für unsere Stadt“, lobt Winkler die Wahlbeteiligung bei „diesem miesen Wetter“. Laut dem vorläufigen amtlichen Endergebnis gaben 170 681 Leipziger ihre Stimme ab. Das entspricht einer Wahlbeteiligung von 41,0 Prozent. 148 767 Leipziger (87,4 Prozent) votierten gegen den „Ausverkauf unserer Stadt“, wie die Bürgerinitiative sich benannt hatte, zeigten Privatisierungen wichtiger kommunaler Firmen also die rote Karte.
Zum Vergleich: Beim ersten Durchgang der Oberbürgermeisterwahl vor zwei Jahren lag die Beteiligung bei 34,9 Prozent, im zweiten, dem entscheidenden Durchgang, holte Jung sich bei einer Beteiligung von 31,7 Prozent mit 65 786 Stimmen Sieg und Rathaus-Chefsessel.
Für Leuze zeigt die relativ hohe Wahlbeteiligung, dass „wir keine Politik-, sondern höchstens eine Politikerverdrossenheit haben“. Sein Stadtratskollege Lothar Tippach (Linke) kommentiert das so: „Wenn es um konkrete Sachen geht, ist das Interesse sehr wohl vorhanden.“ Dietmar Pellmann (Linke) zeigt sich ganz begeistert: „Die Wahlbeteiligung ist sensationell.“ Sauer ist er trotzdem: auf Hans-Joachim Klein. Der Chef der Stadtholding LVV hatte, wie berichtet, kurz vor der Wahl mit einem Infoblatt für die Privatisierung geworben. „Das soll er aus der eigenen Tasche bezahlen“, schimpft Pellmann über die „bodenlose Frechheit“ eines städtischen Angestellten. Derweil spülen die Privatisierungsbefürworter Axel Dyck – der SPD-Fraktionschef hatte schon vor einer Woche mit einer Schlappe gerechnet – und FDP-Stadtrat Sven Morlok ihren Frust über das Desaster in aller Ruhe mit einem Bier herunter.
Ulrich Milde