Süddeutsche Zeitung ( vom 30.4.2008 ), 01.05.2008
Privatisierungen: Dem Staat, was des Staates ist
Kommentar von Heribert Prantl
Telekom, Post, Bahn - das Privatisierungs-Pendel zittert. Die Euphorie ist einer neuen Nachdenklichkeit gewichen - und das zu Recht.
Das Pendel der Privatisierung hat weit ausgeschlagen; auf diesem Pendel saßen die Regierung Kohl und die Regierung Schröder, und sie schwangen mit dem Pendel mit; darauf saßen auch die Landesregierungen, die bayerische mit besonderer Begeisterung; darauf saßen auch viele Kommunen, die sich darüber freuten, so ihre Schulden loszuwerden. Es war eine euphorische Zeit, und die Privatisierung, auch die in Deutschland, war Teil eines historischen Megatrends, der dem Markt sehr viel und dem Staat sehr wenig zutraute, der daran glaubte, dass der Markt fast alles besser und billiger machen könne als der Staat.
25 Jahre Euphorie
Also verkauften Bund, Länder und Gemeinden (weil der Staat sich ja nicht in die Wirtschaft einmischen soll) ihre Anteile an großen Firmen, um so ihre Haushalte zu sanieren. Aber dabei blieb es nicht: Sie gaben auch ihren Einfluss auf Unternehmen der Daseinsvorsorge auf, sie zogen sich aus Tätigkeiten zurück, die bis dahin als die ureigenen des Staats gegolten hatten: Abwasserbeseitigung, Verkehrsbetriebe, Trinkwasserversorgung, Müllentsorgung und kommunale Wohnungswirtschaft wurden auf Privatunternehmen übertragen; das klappte da und dort gut, das klappte oftmals auch nicht.
Die Kommerzialisierer fragten, und es war eigentlich nur eine rhetorische Frage: Wir akzeptieren doch kommerzielle Restaurants und Friseurgeschäfte - warum soll es dann keine kommerziellen Krankenhäuser, Versorgungsbetriebe, Schulen und Kindergärten geben? Wie selbstverständlich ging der Zeitgeist davon aus, dass sich die Qualität öffentlicher Dienstleistung verbessern wird, wenn die bisherigen Praktiken und das bisherige Ethos der Behörden durch kommerzielle Vorgehensweisen ersetzt werden. Etwa 25 Jahre dauerte diese Zeit der Euphorie, in der Privatisierung bisweilen auch zum Selbstzweck geriet oder in der frühere Staatsmonopole einfach durch Privatmonopole ersetzt wurden, die noch weniger auf Kundenwünsche eingingen als der Staat und die überhöhte Preise kassierten.
Die Teil-Privatisierung der Bahn ist ein vorerst letzter Akt. Ansonsten steht das Privatisierungs-Pendel still und zittert: Bürgerentscheide stemmen sich erfolgreich gegen weitere Verkäufe kommunaler Betriebe. Hier und da holen sich die Kommunen die Dienstleistungen wieder von den Privaten zurück. Und auf den Programmen der Tagungen von Städten und Gemeinden steht nicht mehr Privatisierung, sondern Rekommunalisierung. Und dort wird, wie kürzlich auf dem "2.Zukunftskongress des Deutschen Städte- und Gemeindetages" in Bonn, auf den Zusammenhang zwischen Demokratie und Daseinsvorsorge hingewiesen: Eine Demokratie funktioniert anders als ein Markt.
Zauberwort Privatisierung
Auf dem Markt haben die Menschen Anspruch auf Güter und Leistungen, wenn und weil sie imstande sind, sich diese auf dem Markt zu kaufen. Zu den Kennzeichen der Demokratie gehört es hingegen, dass man bestimmte Dinge nicht kaufen kann; dazu gehört das Recht zu wählen oder das Recht auf einen fairen Prozess; dazu gehört aber auch der Anspruch auf bestimmte öffentliche Leistungen. Stellt man diese Leistungen mit den Mitteln des Marktes bereit, geht die innere Bindung an den Bürgerstatus verloren.
Allenthalben ist daher die Erkenntnis gewachsen, dass Privatisierung, wenn sie erfolgreich und gemeinwohlverträglich sein soll, kräftige Steuerung braucht - auf Englisch heißt das Governance, auf Neudeutsch Regulierung. Ernst Ulrich von Weizsäcker fasst in seinem großen Bericht an den Club of Rome über die "Grenzen der Privatisierung" seine Untersuchungen so zusammen: Die erfolgreichen Privatisierungen "haben eines gemeinsam: einen starken Staat, der die Spielregeln definiert und notfalls auch durchsetzt".
Eine Zeitlang war das Wort "Privatisierung" in der Politik eine Art Zauberwort. Wer "Privatisierung" sagte, brauchte keine weitere Begründung - sie war Synonym für "weniger Staat" und für den "schlanken Staat", war also per se gut. Die Abschaffung der Gebäudeversicherungsmonopole in Deutschland im Jahr 1992 ist ein Beispiel für solche Privatisierung aus ideologischen Gründen: Etwa in der Hälfte Deutschlands gab es bis dahin staatliche Monopole für die Gebäudeversicherung, nämlich zwölf Landes-Monopolanstalten; sie bestanden schon zweihundert Jahre und waren recht kostengünstig: Ihr Prämiensatz lag bei 31 Cent pro tausend Euro Versicherungssumme, der Prämiensatz der privaten Gebäudeversicherer (in den Teilen Deutschlands, in denen es keine staatliche Gebäudeversicherung gab) lag bei 60 Cent.
Gleichwohl gingen die EU-Politik und im Gefolge die Regierung Kohl davon aus, dass der von der Privatisierung, also der von der Abschaffung der Monopole ausgelöste Wettbewerb, segensreich sein werde: "Im Rahmen des Binnenmarktes liegt es im Interesse des Versicherungsnehmers, dass er Zugang zu einer möglichst weiten Palette von in der Gemeinschaft angebotenen Versicherungsprodukten hat."
Was dann aber herauskam, lag nicht im Interesse der Versicherungsnehmer: Der Segen bestand nämlich darin, dass sich die Prämien erhöhten, dass die Versicherungsbedingungen schlechter wurden und die Versicherungen bei Überschwemmungen nicht mehr zahlen, weil ihnen das zu teuer ist und dieses Risiko als "unversicherbar" gilt, obwohl es von den Staatsversicherungen zuvor sehr wohl versichert war. Also muss jetzt die Politik nach Naturkatastrophen mehr oder weniger gut koordinierte Soforthilfen verteilen.
Das Aufbrechen der Versicherungsmonopole führte, so lautet das Ergebnis der Untersuchung des Lausanner Professors Thomas von Ungern-Sternberg, "zu erheblichen Anstiegen in den Verwaltungs- und Vertreterkosten und damit auch der Prämiensätze"; und es führte dazu, dass die Ausgaben für die Vorbeugung sanken: Solange es lokale Gebäudeversicherungsmonopole gab, hatten diese Interesse daran gehabt, die Feuerwehren kräftig zu unterstützen; das führte zu niedrigeren Schäden. Als die Vorteile solcher Prävention sich automatisch auch auf die neuen Konkurrenten erstreckten, verloren die früheren Monopolisten das Interesse an solcher Vorsorge. Ungern-Sternbergs Zusammenfassung: "Die Behauptung der EU, das Abschaffen der Staatsmonopole sei im Interesse der Versicherungsunternehmer, hat sich als nicht zutreffend erwiesen."
Privatisierungskatastrophen blieben hierzulande aus
Es sind Beispiele wie dieses, die dazu geführt haben, dass sich der Privatisierungs-Überschwang in Deutschland und in Europa beruhigt hat. Drei Gründe waren und sind dafür ausschlaggebend: Erstens hat sich gezeigt, dass der Markt Preis und Qualität nicht immer im gewünschten Maß garantieren kann. Zweitens wurde den Entscheidungsträgern bewusst, dass es sich bei der Frage, ob die Daseinsvorsorge privatwirtschaftlich oder gemeinschaftlich organisiert wird, um eine politische Frage handelt, nicht um eine, die aus ökonomischen Gründen alternativlos ist. Und drittens gab es, zumal in Frankreich und Großbritannien, Privatisierungskatastrophen: das Waterleau von Grenoble oder die Auflösung der British Rail.
Deutschland ist von solchen ganz großen Desastern verschont geblieben. Aber womöglich zählt auch die sinkende Zustimmung zur Demokratie in Deutschland zu den Privatisierungskatastrophen: Wenn der Staat sich immer weiter zurückzieht, wenn er Private all das machen lässt, was früher Sache des Staates war, dann wird auch der Bereich, in dem der Wähler mitbestimmen kann, immer kleiner; sein Stimmgewicht bei Wahlen sinkt.
Gemeinwohl wird outgesourct
Der eher konservative Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß klagt: "Wenn sich der Staat fortwährend der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dadurch entzieht, dass er substantielle Teile von sich privatisiert und letztlich ungebunden durch private Dritte erfüllen lässt, dann sehe ich das Problem, dass der Staat letztlich selbst seine Macht zur Selbstdefinition in Frage stellen könnte. Wofür steht er noch, wenn er sich selbst eines großen Teils seiner Substanz begibt?" Hinter diesen Sätzen steckt die Warnung vor dem Glauben, dass das Gemeinwesen nach den Regeln eines Profit-Centers funktionieren könne.
Privat oder staatlich? Manchmal wurde Privatisierung aus ähnlichen Gründen betrieben, aus denen Unternehmensberater in die Betriebe geholt werden - um unangenehme Dinge (die manchmal Wahrheiten sind) durchzusetzen, wozu die staatlichen Stellen nicht in der Lage waren. Privat oder staatlich? Mittlerweile ist die Erkenntnis gewachsen, dass es nicht um das Etikett geht, das auf einem Daseinsvorsorge-Betrieb klebt. Ein ausschließlich profitorientierter Privatbetrieb, der das Gemeinwohl outgesourct hat, ist genauso schlimm wie eine staatliche Unternehmung, die luschig mit müden Beamten geführt wird. Privat oder staatlich? Kluge Daseinsvorsorge funktioniert nicht nach Schwarz-Weiß-Mustern. Wie der Staat seiner Verantwortung gerecht wird, ist keine Frage eines binären Denkens, sondern der gestaltenden und regulierenden Phantasie.