Freitag - Die Ost-West- Wochenzeitung, 09.05.2008
Der Diskurs-König: Ist Jürgen Rüttgers ihnen allen überlegen?
Eine Anleitung für ambitionierte CDU-Ministerpräsidenten
Vorige Woche war der NRW-Ministerpräsident für seinen Rentenvorschlag zugunsten von Geringverdienern noch gescholten worden - auch durch die eigene Partei. Nun schwenkte der CDU-Vorstand auf Rüttgers´ Linie ein. Es ist nicht das erste Mal, dass er mit einem Vorstoß die Union aufmischt.
Zuerst die Fakten: Für die Milliardenverluste und die Krise der Westdeutschen Landesbank, die Bedrohung Tausender Arbeitsplätze bei WestLB und Sparkassen in Nordrhein-Westfalen ist Jürgen Rüttgers so verantwortlich, wie es sein schon zurückgetretener sächsischer Kollege Georg Milbradt bei der SachsenLB war. Mit Fesseln in der NRW-Gemeindeordnung bedroht der CDU-Mann die wirtschaftliche Betätigung und Finanzierung der Kommunen. Der Rückgang der Studierendenzahlen an den Universitäten aufgrund von Gebühren spricht gegen ihn. SPD, Grüne und Linke in NRW schweißt er zusammen, wie in kaum einem anderen Bundesland. Aber es kann ihm egal sein. Im Gegensatz zu Angela Merkel hat Rüttgers in Wahlumfragen seine schwarz-gelbe Mehrheit sicher. Diese braucht ihn mehr er selbst. Wie konnte es dazu kommen?
Verachtete gegen sich aufbringen!
Erstens: Auffallen! Welche Chance hat ein CDU-Ministerpräsident, um aufzufallen? Er muss aus der Rolle fallen, darf die Klischees nicht bedienen, sondern muss sie gegen den Strich bürsten, sich "Feinde machen". Der "Andenpakt" der Kochs, Wulffs, Müllers und Öttingers hatte gerade ausgemacht, dass es aktuell klüger sei, sich friedlich hinter der erfolgreichen Merkel zu versammeln. Christian Wulff gewann in Niedersachsen die Landtagswahl durch die Unauffälligkeit seiner Lieblingsschwiegersohnrolle gegen schwache Gegner, aber zu einem hohen Preis: eine um fast zehn Prozent gefallene Wahlbeteiligung, die selbst ihm absolute Stimmenverluste bereitete - für Rüttgers in NRW keine probate Methode. Hier ist die Wahlbeteiligung in sozialen Krisenvierteln des Ruhrgebietes schon auf ein Drittel gesunken - es müsste sich nur jemand finden, die wieder zu mobilisieren. Dann macht er es doch lieber selbst.
Zweitens: Möglichst viele Verachtete gegen sich aufbringen! Wen verachten die Menschen derzeit mehr als "die Politiker", "die Manager" und "die Medien"? Richtig: niemand. Wer also die alle gegen sich aufbringt, bekommt mehr als das Mitleid eines Opfers, er hat alles Potenzial zur Heldenverehrung. Das hat bereits Oskar Lafontaine, der 2009 aus Versehen seine Landtagswahl im Saarland so hoch gewinnen könnte, dass er auch Ministerpräsident werden muss, zur Genüge vorexerziert. Rüttgers wurde geadelt durch den geschlossenen Widerstand der großen Koalition, des CDU-Parteipräsidiums, den Widerspruch aller "Experten" für Sozial- und Rentenpolitik, seine rituelle Geißelung in fast allen Leitartikeln von Chefredakteuren und Feuilletonisten, durch ein schlechtes Wahlergebnis beim CDU-Bundesparteitag und sogar ein Münte-Bonmot: "Auf sie mit Gebrüll." Erfolgreicher ging´s nicht.
Drittens: Zielsichere Themenwahl! In Nordrhein-Westfalen, sechsmal so groß wie Berlin, werden Bundestagswahlen entschieden. Und im Ruhrgebiet, doppelt so groß wie Berlin, werden NRW-Wahlen entschieden. Rüttgers kommt aus Pulheim, einem Einfamilienhausvorort von Köln, aber er hat sich das Ruhrgebiet intensiv angeschaut. Dort herrschen auch jetzt noch zweistellige Arbeitslosenraten; der demographische Wandel ist dort schon viel weiter; die Massen frühverrenteter Bergleute sind zwar gut versorgt, fürchten sich aber vor Überfremdung und fühlen sich abgeschoben aus allen Prozessen gesellschaftlicher Modernisierung. Die SPD hat sie verraten und verlassen, besonders im Ruhrgebiet. Oskar Lafontaine kam, und, ja, auch seine Gattin, Christa Müller, "endlich mal eine/r, der/die die Wahrheit sagt", umso mehr, je mehr die Zeitungen des einheimischen WAZ-Konzerns und die Radio- und Fernsehwellen des WDR sie abqualifizieren. Aber sie haben leider keine Chance, was durchzusetzen, weil sie politisch isoliert scheinen. Das ist bei Rüttgers anders. Der sagt erst "die Wahrheit", und ein paar Jahre später wird es auch so gemacht.
Helm aufsetzen nicht vergessen!
Viertens: Bilder und Begriffe sprechen lassen! Rüttgers fehlte weder bei BenQ noch bei Nokia bei den Protestdemonstrationen. Helm aufsetzen nicht vergessen! Dass die Wirtschaftspolitik seiner Landesregierung das Problem miterzeugt hat, gegen das demonstriert wurde, tat nichts zur Sache. Noch bedeutender war, dass er im Bild den Standesbeamten bei der Internet-Ehe von WAZ-Konzern und WDR gab. Einer, der nicht nur "die Wahrheit sagt", sondern dem die mächtigsten Medien seines Landes sogar aus der Hand fressen.
Chapeau! An so einem führt kein Weg mehr vorbei. "Arbeiterführer" hat sich Jürgen Rüttgers übrigens als erster selbst genannt.
von Martin Böttger