Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 02.08.2008

Verbannte der Partei: Die heilige Inquisition der SPD

Wolfgang Clement ist nicht der erste SPD-Politiker, der von der Partei verbannt wurde. Und doch ist er eine Ausnahme - meist traf es Mitglieder des linken SPD-Flügels.
 
Was haben der Bänkelsänger Franz Josef Degenhardt und der Ex-Minister Wolfgang Clement gemeinsam? Und was hat Clement gemeinsam mit dem Kabarettisten Wolfgang Neuss, dem Politiker Christian Ströbele, dem Wirtschaftsexperten Viktor Agartz, dem Rechtsprofessor Uwe Wesel? Wesel war Vizepräsident der Freien Universität, er ist Autor von Werken wie "Recht, Unrecht und Gerechtigkeit".

Agartz, ein großer Name der Nachkriegszeit, war Chef des Wirtschaftsrates der englisch-amerikanischen Besatzungszone, wurde 1957 wegen angeblicher Beziehungen zur SED vor dem Bundesgerichtshof wegen Hochverrats angeklagt und dort, verteidigt vom späteren Bundespräsidenten Heinemann, freigesprochen. Gleichwohl: Er und alle anderen Genannten sind, wie jetzt Wolfgang Clement, aus der SPD ausgeschlossen worden.

Bei Agartz war das 1958, weil er zu sozialistisch dachte und die SPD sich an ihr neues Programm, das Godesberger Programm heranpirschte; der alte Gewerkschafter Agartz (der in der NS-Zeit das Vermögen des katholischen Kolpingwerks gerettet hatte) störte vermeintlich die neue Bürgerlichkeit der SPD. Dem Sänger Degenhardt lag 1971 zur Last, mit den Schmuddelkindern von der DKP gespielt zu haben.

Fast alle Verbannten waren zu "links"

Dem Juristen Wesel wurde 1973 vorgeworfen, er habe sich zu sehr mit den revoltierenden 68er-Studenten eingelassen. Der jetzige Grünen-Politiker und Rechtsanwalt Ströbele wurde 1974, damals war er noch Kreisdelegierter der Sozialdemokraten, aus der SPD relegiert, weil er seine RAF-Mandanten als "Genossen" tituliert hatte. Sie teilen also das Schicksal von Clement - mit einem grundlegenden Unterschied: Sie wurden fast alle ausgeschlossen, weil sie zu "links" waren; Clement wird ausgeschlossen, weil er zu "rechts" ist.

Der Ausschluss von Clement sei ein Zeichen des Schlingerkurses und der Zerrissenheit der SPD, heißt es jetzt in vielen Kommentaren. Wenn das stimmt, dann ist die ganze lange Geschichte der SPD eine einzige Geschichte der Zerrissenheit und der Schlingerkurse. In keiner anderen Partei spielt der Parteiausschluss, sorgfältig von den Statuten reglementiert, eine so große Rolle.

Etliche der Ausgeschlossenen sind, nach allerlei Wanderungen, wieder in die Partei zurückgekehrt: Klaus Uwe Benneter etwa. 1977 betrieb Bundesgeschäftsführer Egon Bahr in einer Nacht- und Nebelaktion den Rauswurf des damaligen Juso-Chefs Benneter, weil dessen Stamokap-Ideen der Parteiführung gar nicht passten.

Gerhard Schröder, der Benneters Juso-Vorsitz geerbt hatte, holte ihn 1983 wieder in die SPD zurück. Heute ist Benneter ihr rechtspolitischer Sprecher. Schon 1971 war Detlev Albers, Politikprofessor, "wegen des Verstoßes gegen das Kooperationsverbot mit Kommunisten" aus der Hamburger SPD hinausgeworfen worden; später trat er in die Bremer SPD wieder ein - und wurde dort 1995 geachteter Landeschef.

Die Drohkultur hat Tradition

Herbert Wehner, der Zuchtmeister der Partei, hat die Disziplinarverfahren in den sechziger und siebziger Jahren ebenso virtuos wie rigoros betrieben, um die Abgrenzung der SPD zum Kommunismus immer wieder plakativ zu demonstrieren. Die Ausschlussverfahren dieser Zeit sollten den Weg der SPD zur Mitte und in die erste Große Koalition befestigen. "Wegen Ostkontakten" - so steht es daher über ganz vielen Meldungen über SPD-Ausschlussverfahren.

Nicht immer aber war und ist das Verfahren eine Knute in der Hand der Parteioberen, gelegentlich ist es auch die Rache des kleinen Mannes - ein Mittel des Protestes von unten gegen "die da oben". So ist es im Fall Clement: Das Ausschlussverfahren ist ein Akt der späten Notwehr der Basis gegen den Basta-Agenda-Kurs der Regierung Schröder. Es handelt sich um einen Putativ-Notwehrexzess. Mag die CDU mittlerweile mehr Mitglieder haben als die SPD - bei Parteiausschlüssen war und ist die SPD führend.

Die Union ist ein Wahlverein, da kann jeder nach seiner Façon selig werden, da interessiert sich kaum einer dafür, was die Mitglieder so denken und tun. Bei der SPD ist das anders: sie arbeitet sich an sich selbst und an ihren Widersprüchen ab; hier nimmt man Abweichler, auf Antrag von Orts- oder Kreisverbänden, unter die Lupe von parteigerichtlichen Verfahren. Das führt nicht immer zum Ausschluss, oft nur zu einer Rüge, aber schon das bloße Betreiben eines Ausschlussverfahren ist Teil der Droh-, Streit- und Kampfkultur in der SPD.

Auch der eigene Parteichef wurde verbannt

Sie ist eben noch immer eine politreligiöse Glaubensgemeinschaft, weit mehr als die CDU jedenfalls, die das religiöse Bekenntnis ja im Namen führt. In der SPD wurde und wird Politik gemacht mit dem Schiedsgericht - und die Antragsteller und Betreiber dieser Verfahren erinnern ein wenig an die Ankläger der heiligen Inquisition. Die deutsche Lust am Prozessieren wurde in den Parteiausschlussverfahren der SPD ideologisch nobilitiert.

Ex-Minister Clement, dessen Hoffärtigkeiten fast so groß sind wie seine Verdienste für die Partei, ist mitnichten der prominenteste SPD-Funktionär, der in der langen Parteigeschichte ausgeschlossen wurde. Vor fast hundert Jahren hat die SPD ihren eigenen Partei- und Fraktionschef hinausgeworfen, er hieß Hugo Haase - weil er zusammen mit fast der halben Fraktion im Reichstag die Kredite für den ersten Weltkrieg nicht mehr genehmigte - und damit den sogenannten "Burgfrieden" mit Kaiser Wilhelm störte.

Haase gründete dann die USPD; dies wuchs schnell, getragen von gewaltiger Sympathie an der sozialdemokratischen Basis. Eine der vielen Seelen der Sozialdemokratie hatte sich einen neuen politischen Körper gesucht.So ähnlich ist das heute wieder mit der Linkspartei. Erstaunlicherweise ist, als Oskar Lafontaine nach seinem Rücktritt noch in der SPD blieb und gegen sie agitierte, ein Verfahren gegen ihn nicht gediehen. Man fürchtete wohl, was dann ohnehin eintrat: die Gründung einer neuen Partei.

Die CDU verbannte kaum ein Mitglied

Wer im Zeitungsarchiv die Geschichte der Parteiausschlüsse bei der SPD recherchiert, kommt mit einer sehr dicken Mappe aus dem Keller; bei den anderen Parteien ist es nur ein Mäppchen. Das liegt, wie gesagt, nicht nur an der 145-jährigen Geschichte der Sozialdemokratie (alle Konkurrenzparteien sind Nachkriegsparteien) - es liegt an einem anderen Selbstverständnis der SPD: Bei ihr gehört das Suchen der politischen Glaubenslinie und das Beharren darauf seit jeher so zum Charakter, wie es heute zum Charakter Angela Merkels gehört, politisch abwaschbar zu sein. Der Ausschluss des CDU-Bundestagsabgeordneten Hohmann, der braune Thesen vertreten hatte, war vor fünf Jahren eine große Ausnahme in der CDU-Geschichte.

Ostkontakte auch harmloser Art waren lange Zeit todsicherer SPD- Ausschlussgrund: Die Kandidaten hatten auf einer "Arbeiterkonferenz" in Leipzig gesprochen, Einladungen in den Ostblock angenommen, bei einer Rede "einen Trinkspruch auf Ulbricht ausgebracht".

Im Jahr 1960 gab es so viele ausgeschlossene kleine Funktionäre, dass ein "Zentralausschuss ausgetretener und ausgeschlossener Sozialdemokraten" die Gründung einer eigenen Partei versuchte; im Frankfurter "Rittersaal" versammelten sich zu diesem Zweck dreihundert Leute. Es half nichts. Weil er sich weigerte aus der "Fördergemeinschaft der Freunde des SDS" auszutreten, wurde 1961 der Politikprofessor Wolfgang Abendroth entfernt, eine Reihe weiterer Professoren mit ihm.

Plädoyer für Meinungsfreiheit

1966 wurde der Kabarettist Wolfgang Neuss verbannt, weil er für die Deutsche Friedensunion getrommelt hatte. Sein Kabarettistenkollege Dietrich Kittner flog 1972 hinaus, weil er sich nicht von einer "kommunistisch initiierten Aktion" distanzieren wollte. Dem Kabarettisten Horst Blome passierte Selbiges, weil er sich bei Demonstrationen der Außerparlamentarischen Opposition stets als SPD-Mitglied zu erkennen gab. In Hamburg wurden Jungsozialisten wegen einer "Rote-Punkte-Aktion" relegiert. Sie wollten einen sozialeren Nahverkehrstarif, als ihn die Partei nach langem Streit beschlossen hatte.

Das war dann schon die Zeit, als SDS-Nähe und Kritik an der US-Kriegsführung in Vietnam parteidisziplinarisch geahndet wurden. Aus Protest dagegen legte Pfarrer Heinrich Albertz, der frühere Berliner SPD-Bürgermeister, sein Amt im Partei-Schiedsgericht nieder und begründete das so: "In einer Gesellschaft, die sich demokratisch nennt, wird man sich daran gewöhnen müssen, dass manche den Mund auftun, wenn sie es für richtig halten, und auch Zeitpunkt und Ort ihrer Äußerungen selbst bestimmen". Sein Appell für die Meinungsfreiheit in der Partei verhallte.

1981 wurde der Bundestagsabgeordnete Karl-Heinz Hansen aus der SPD ausgeschlossen, weil er die Nachrüstungspolitik von Kanzler Helmut Schmidt als "politische Schweinerei" bezeichnet und ihm "Geheimdiplomatie gegen das eigene Volk" attestiert hatte. Werner Holtfort, der stellvertretende Bundesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen, verteidigte Hansen vergeblich.

Er sah die Gefahr, "dass wichtige kritische Gedanken nicht mehr geäußert werden". Mindestens "in Fragen auf Leben und Tod" - und bei der atomaren Nachrüstung handele es sich um solche - dürfe die Freiheit eines Abgeordneten von keinem Parteiordnungsverfahren "niedergemacht" werden.

Vielleicht ist mittlerweile in der SPD zu viel niedergemacht worden. Es wächst dort nicht mehr viel. Es ist wohl besser, Unglimpf auszuhalten, als Meinungen zu unterdrücken. Zeitweise Verirrungen gehören zur Politik; und gar nicht so selten ist die Verirrung von gestern die Politik von morgen.

Jüngst hat Detlev von Larcher, der einst Sprecher der SPD-Linken gewesen ist, zur Wahl der Linkspartei aufgefordert. Und Wolfgang Clement hat dazu aufgerufen, die hessische SPD nicht zu wählen. Natürlich war das parteischädigend, natürlich ist das ein Ausschlussgrund. Ein Ausdruck von Weisheit, Gelassenheit und Großzügigkeit ist ein Parteiausschluss aber nicht. Die SPD ist alt genug, um sich Weisheit, Gelassenheit und Großzügigkeit leisten zu können.
von Heribert Prantl

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: